Bese Hozat, Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Firat (ANF); im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Interview zur innenpolitischen Situation der Türkei und den dt.-türk. Beziehungen, 31.08.2017
Die Türkei wendet gegen Abdullah Öcalan eine verschärfte Form der lebenslangen Haftstrafe an. Begeht sie damit nicht ein Verbrechen?
In keinem nationalen oder internationalen Gesetzeswerk bzw. Rechtsabkommen lässt sich ein Konzept oder Gesetz wie das der „verschärften lebenslangen Haftstrafe“ finden. Dieses ist eine Erfindung des rassistischen und kolonialistischen türkischen Staates. Das steht zweifellos im Widerspruch zu den internationalen Menschenrechten und stellt dementsprechend ein großes Verbechen dar. Die praktische Umsetzung der „verschärften lebenslangen Haftstrafe“ kommt der Todesstrafe gleich. Dieses Gesetz wird in Form der totalen Isolation Abdullah Öcalans umgesetzt. Dies ist der Ausdruck für eine genozidale Politik. Diese Situation ist Grund genug für einen Sturm der Entrüstung. Eigentlich ist diese Situation ein Anlass dafür, den türkischen Staat international juristisch zur Verantwortung zu ziehen.
Was bedeutet das Schweigen der zuständigen europäischen Institutionen zu diesem Gesetzesbruch?
Die internationalen juristischen und zivilen Institutionen in Europa handeln entsprechend der Politik der Europäischen Union. Bei ihnen handelt es sich um Institutionen, die unter politischer Aufsicht stehen und über keinen unabhängigen Willen verfügen. Mit seiner aktuellen Politik ist Europa mitverantwortlich für die Verbrechen auf Imrali (Gefängnisinsel in der Türkei, auf der Abdullah Öcalan seit 1999 festgehalten wird; Redaktion). Die Türkei ist ein Mitglied des Europarats und EU-Beitrittskandidat. Die Türkei hat alle internationalen Abkommen verworfen, die sie unterzeichnet hat. Sie hat internationales Recht gebrochen. Sie hat die europäischen Werte Europas mit den Füßen getreten. Mit seinem Schweigen begibt sich Europa nicht nur in Widerspruch zu seinen eigenen Werten, sondern erklärt sie für bedeutungslos. Damit gibt Europa den Wert der Rechtsstaatlichkeit auf und stellt sich gegen die Gesellschaft. Europa, das sich der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte rühmt, verliert dadurch seine Glaubwürdigkeit. Die Kurdinnen und Kurden sind angesichts der Doppelzüngigkeit Europas und seiner nachsichtigen Haltung gegenüber der Genozidpolitik der Türkei sehr enttäuscht.
Europa muss aufhören, die Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der Türkei zu unterstützen. Zu schweigen und so zu tun, als sei nichts geschehen, bedeutet mitverantwortlich für die Verbrechen zu sein. Wenn die Staaten Europas auf politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ebene wirksame Sanktionen einführen und juristische Maßnahmen ergreifen, wird die Türkei sich nicht trauen, diese Menschenrechtsverbrechen weiterhin zu begehen. Die AKP wird dann zwangsläufig aufhören Verbrechen zu durchzuführen und sich vor der türkischen und kurdischen Gesellschaft veranworten müssen. Die opportunistische und zaghafte Haltung Europas ermutigt und bestärkt das faschistische AKP-MHP-Regime.
Indem die CHP (Republikanische Volkspartei; Redaktion) ‚Gerechtigkeit‘ thematisiert und verschiedene Veranstaltungen macht, versucht sie offensichtlich die gesellschaftliche Opposition auf ihre Seite zu ziehen. Was beabsichtigt die CHP damit Ihrer Meinung nach?
Als die CHP realisierte, dass die Kriminalisierung nun auch sie erreicht hatte, begann sie mit dem ‚Gerechtigkeitsmarsch‘. Der Marsch brachte eine gewisse Aufmerksamkeit mit sich. Die unter dem Druck des Faschismus ächzenden demokratischen Kräfte der Türkei, Frauenbewegungen, Institutionen der Zivilgesellschaft und andere Kreise der Gesellschaft unterstützten den Protest deutlich. Damit wurde der ‚Gerechtigkeitsmarsch‘ zu mehr als einer CHP-Demonstration. Er brachte alle Kreise der Gesellschaft in Bewegung, die sich gegen den Faschismus stellen. Aber die CHP schaffte es nicht, die Bedeutung dieser Demonstration richtig zu verstehen. Sie schaffte es nicht, die Erwartungen zu befriedigen, die sich in der Gesellschaft entwickelten, und ihre Versprechen zu halten. Sofort nach dem Ende des Marsches wendete sie sich von der Straße ab und kehrte zur klassischen Politik zurück.
Solange die CHP ihre Kurdenpolitik nicht ändert, wird sie weiterhin als Stütze für die faschistische AKP-MHP-Regierung fungieren und sich im Lauf der Zeit selbst überflüssig machen. Die verfahrene Lage der CHP besteht vorallem darin, dass sie nicht die 93 Jahre alte türkische Staatspolitik der Verleugnung und Vernichtung der Kurdinnen und Kurden beendet. Sie schafft es nicht, sich von der nationalistischen Ideologie zu befreien. Die CHP ist nicht in der Lage, eine demokratische Lösung für die kurdische Frage zu entwickeln. Sie schafft es nicht eine demokratische Politik zu verfolgen und kann somit keine wirkliche Antriebskraft für die Opposition werden. Ganz im Gegenteil, in ihrer derzeitigen Rolle stützt sie die Macht der AKP und liefert Rechtfertigungen für die faschistisch-genozidale Praxis der Mächtigen.
Hätte die CHP ihre Unterstützung verweigert, wäre es nicht zu dem Bündis zwischen AKP, MHP und den Ergenekon-Kräften gekommen. Auch die Immunität der Abgeordneten hätte ohne die CHP nicht aufgehoben werden können. Weder die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der DBP (Demokratische Partei der Regionen; Redaktion), noch hunderte weiterer Politikerinnen und Politikern hätten festgenommen werden können. Die AKP hätte ohne die Unterstützung der CHP den faschistischen zivilen Putsch des 20. Juli 2015 nicht durchführen können; auch den Ausnahmenzustand hätte sie ohne die CHP nicht ausrufen können. Hätte die CHP die AKP nicht unterstützt, hätte diese auch nicht in Syrien einmarschieren können. In diesem Sinne ist die CHP mitverantwortlich für die Errichtung und die Praxis des faschistischen Regimes der AKP-MHP.
Zudem spielt die CHP seit Jahren eine sehr negative Rolle in Bezug darauf, dass sie die demokratische Opposition liberalisiert und in die staatlich vorgegebenen Grenzen verweist. Aus dieser Perspektive betrachtet, verfolgt sie eine Mission der Schwächung der Opposition, indem sie die Passivität der revolutionären-demokratischen Opposition fördert und sie in die Logik des herrschenden Systems zieht.
All dies ist Teil der traditionellen Politik der CHP, die historisch betrachtet die Gründungspartei der Türkischen Republik darstellt. Seit Jahrzehnten verfolgt die CHP diese Politik. Sie verleugnet die Existenz der Kurdinnen und Kurden. Sie zermahlt die linken und demokratischen Dynamiken der Türkei in den Rädchen des Staatsapparats und löst sie dadurch auf. Sie schwächt den Willen zur Einmischung der alevitischen Gesellschaft, die von einem außerstaatlichen, demokratischen und oppositionellen Charakter geprägt ist. Dadurch assimiliert die CHP sie und versucht, ihre gesellschaftliche und widerständige Identität zu zerstören. Solange die CHP sich nicht vollständig von ihrer traditionellen Politik verabschiedet, wird sie auch keinen richtigen und wirksamen Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit führen können. Sie wird es in diesem Falle trotz entsprechender Versuche sich selbst zu retten nicht einmal schaffen ihre eigene Existenz zu schützen, wie sie es bereits im Rahmen des ‚Gerechtigkeitsmarschs‘ versuchte.
Wie bewerten Sie die Krise der deutsch-türkischen Beziehungen vor dem Hintergrund der außenpolitischen Krisen der vergangenen Monate?
Die deutsch-türkische Beziehungen durchlaufen derzeit eine politische Krise. Diese Krise nur im Zusammenhang mit den Bundestagswahlen zu betrachten, greift zu kurz. Die Gründe für die Krise liegen tiefer und sind umfangreicher. Die Türkei entfernt sich mit der derzeitigen Situation zunehmend von der europäischen Achse. Die Absicht der AKP, eine faschistische Diktatur auf Grundlage eines islamistisch-nationalistischen Staatsmodells aufzubauen, entspricht nicht dem von Europa favorisierten Modell des aufgeklärten Islams. Die AKP hat die Türkei in Richtung einer Al-Kaida-Achse geführt. Der türkische Staat baut sein System, sein Regime und seine Gesellschaft auf der Grundlage anti-europäischer Ressentiments und im Widerspruch zu europäischen Werten auf. Die Türkei hat sich unter Führung der AKP zu einer Unterstützerin von Gruppen wie Al-Kaida, dem Islamischen Staat und anderen Gruppen entwickelt.
Keiner der Anschläge des Islamischen Staates in Europa ist unabhängig von der AKP und dem MIT (Nationaler Nachrichtendienst der Türkei; Redaktion) erfolgt. Wenn die Hintergründe der Anschläge ernsthaft ermittelt und hinterfragt werden, wird sich zeigen, dass hinter ihnen der MIT und die AKP stehen. Die Türkei in ihrer derzeitigen Verfassung stellt eine große Gefahr für Europa und insbesondere für Deutschland dar. Der eigentliche Grund für die derzeitige Krise zwischen Deutschland und der Türkei liegt darin, dass die Türkei sich in Richtung der oben beschriebenen Achse entwickelt. Die anderen Ereignisse sind eher alltäglichen Charakters und nur ein Ausdruck der tiefer liegenden Krise.
Ist die europäisch-türkische Krise ein Ausdruck dafür, dass Europa seine Strategie gegenüber der Türkei verändert?
Europa wird die Türkei nicht so einfach aufgeben. Europa verfügt über tiefgreifende politische, ökonomische und militärische Beziehungen zur Türkei. Es bestehen gegenseitige Abhängigkeiten. Dass die beiden Seiten sich einfach so gegenseitig aufgeben, ist nicht so einfach, wie teilweise angenommen. Solch eine Entwicklung würde den Weg für sehr schwerwiegende Folgen bereiten. Gleichwohl bedeutet eine Abkehr Europas von Erdoğan und der AKP nicht die Abkehr von der Türkei. Von Erdoğan und der AKP kann Europa sich abwenden. Teilweise erfolgen bereits kleinere Schritte in diese Richtung. Die derzeitige Position der Türkei stellt für Europa ein sehr großes Risiko dar. Sollte es gegenüber diesem Auftreten der Türkei weiterhin ein Auge zudrücken, wird auch Europa zunehmend in das Chaos hineingezogen werden. Europa hat nicht die Kraft solch eine Situation lange durchzuhalten.
Im Original erschien das Interview am 28.08.2017 unter dem Titel “Hozat: Türkiye siyasi intihar sürecinde”auf der Homepage der Nachrichtenagentur Firatnews (ANF).