Deir ez-Zor im Rückspiegel von Afrin und mögliche Entwicklungen

Abdulmelik Ş. Bekir zu den Hintergründen der Kriegsvorbereitungen des türkischen Staates gegen den kurdischen Kanton Afrin in Rojava, 13.07.2017

“Die Türkei ist nicht nur in Afrin, sondern in keiner Region Syriens in der Lage eine Operation durchzuführen. Der Angriff auf Afrin hängt vollständig von der Haltung Russlands ab. Und es ist klar, dass dies für Russland nicht sehr angenehm ist. Dafür gibt es einige Gründe. Aus der Perspektive der Türkei bietet ein möglicher Angriff auf Afrin ernsthafte Konsequenzen. Der bedeutendste ist, dass der Krieg in Syrien auf die Türkei überschwappen kann.“

Die Drohungen der Türkei gegenüber Afrin nehmen zu. Sie sind nicht neu; seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs ist Afrin einer der Regionen, die unter einem Embargo steht. Die Türkei hat ständig  mit ihren FSA-Gruppen und von Zeit zu Zeit auch selbst militärische Operationen gegen den Kanton unternommen. Jedoch ist die Intensität der militärischen Mobilmachung und Vorbereitung der letzten Zeit ein Anzeichen darauf, dass die nächste mögliche Intervention einem größeren Ausmaß entspricht. Es ist kein Geheimnis, dass die Türkei mit Eifer gegen die unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebiete vorgehen möchte. Die türkischen Autoritäten haben mehrmals wiederholt, dass die Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden für sie eine „Frage des eigenen Überlebens“  darstellen. Wenn sie die Möglichkeit fanden, haben sie es nicht versäumt Operationen wie den „Euphrat Schild“ aufzunehmen. Mit anderen Worten, die Türkei hat kein Motivationsproblem für eine Intervention in Afrin.

Es ist deutlich, dass die Türkei alleine nicht in der Lage ist, in Syrien eine Operation durchzuführen. Zuletzt konnte man davon Zeuge werden, als sich die Operation „Euphrat Schild“ gegen Manbidsch richtete und infolgedessen mit Warnung der USA und Russland beendet wurde. Da die Türkei das einsieht, bemüht sie sich, die ständig wechselnden Machtkonstellationen zur Beseitigung der kurdischen Errungenschaften zu nutzen. Hier ist die entscheidende Frage: Welche Entwicklungen in Syrien haben welche Bruchlinien in Bewegung gesetzt, sodass sich die Türkei hastig in die Aufregung einer Intervention reingesteigert hat?

Die kollidierte Politik der USA und Russland

Eine Motivationsquelle der Türkei, gerade jetzt gegen die Errungenschaften der Kurden vorzugehen, rührt daher, dass sich in der pragmatischen Syrienpolitik Russlands ein Momentum ergeben hat, welches vorübergehend dem türkischen Vorhaben eine Umsetzungsmöglichkeit geben könnte. Wenn man sich die Entwicklungen der letzten zwei Monate in Syrien anschaut, wird diese Situation ersichtlich. In diesem Kontext müssen wir und die Entwicklungen seit März im Süden und Südosten Syriens vergegenwärtigen. Denn während das Land zwischen den beiden hegemonialen Kräften Russland und USA mehr oder minder in zwei Einflusssphären aufgeteilt worden ist, weist das Einverständnis der beiden Mächte noch Unklarheiten beim Thema der Grenzgebiete Syriens auf. Nach Russland sollten die Gebiete westlich des Euphrat ihm, und der Osten den USA gehören. Die Politik der USA demgegenüber ist allerdings in dieser Hinsicht nicht so eindeutig.

Der Grund dafür, dass die Spannung von Zeit zu Zeit zunimmt und die zwei Mächte die Muskeln spielen lassen, liegt an dieser Unklarheit. Zweifellos ist auch die Spannung zwischen den regionalen Mächten aufgrund des Konflikts zwischen dem schiitischen Halbmond und dem sunnitischen Gürtel  ein wichtiger Faktor. Allerdings stellt die entscheidende Entwicklung, die zu einer möglichen Besatzung Afrins durch die Türkei führte, der Übertritt der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) mit Unterstützung der USA in den Süden des Euphrats dar. Die Spannung begann mit der Befreiungsoperation um Tabqa vom Islamischen Staat und erreichte mit der Rakka-Operation ihren Höhepunkt.

Es kann sein, dass die USA überhaupt erst zu der Überzeugung kamen, den Euphrat zu überqueren, als sie der militärischen Disziplin und Organisierungskraft der SDF gewahr wurden. Hinzu kommt, dass in den vom IS befreiten Gebieten kein Chaos oder Machtkämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen ausbrechen, sondern ein Gesellschaftssystem etabliert wird, welches den Menschen die Möglichkeit gibt, schnell selbst Lösungen für ihre sozialen, politischen und ökonomischen Probleme zu finden. Vor der Zusammenarbeit mit der SDF investierte die USA im Norden Syriens große Mittel in die FSA-Kampfverbände. Doch bleibende Ergebnisse blieben durchweg aus. Was im Süden den USA also zumindest teilweise gelang, nämlich mit FSA-Gruppierungen bestimmte Gebiete unter ihrer Kontrolle zuhalte, entwickelte sich in Nordsyrien zu einem Fiasko. Russland und seine Verbündeten wiederum, nutzten die Gelegenheit, und gingen auch im Süden der Ortschaft Al Tanf, die sich an der Grenze zu Jordanien befindet, gegen die USA und ihre Verbündeten vor, fingen sie dort ab und verpassten dem Projekt des sunnitischen Gürtels einen schweren Schlag.

Da die USA nun auch im Süden das Angestrebte nicht erlangen konnte, haben sie ihr Gewicht auf die SDF dominierten Gebiete verlagert. In den Medien wurde vermeldet, dass sie ihre eigenen Kräfte in den Norden, in Richtung Sheddade nahe Al Hasaka transferierten. Dass die SDF bei der Rakka-Operation ihre erwartete Leistung übertraf und auch in Richtung Deir ez-Zor vorstieß, ließ bei Russland die Alarmglocken läuten. Aufgrund der Rakka-Operation sind Russland und das Regime, die davon profitierten, dass sich der Islamische Staat großflächig aus dem Osten Aleppos zurückzog, schnell vorangeschritten und schließlich standen sie der SDF im Süden Tabqas gegenüber. Sie hofften, dass sich das gleiche Szenario wie im Süden des Landes wiederholte, wo sie beharrlich die Pläne der USA verhinderten. Die USA dagegen haben, indem sie ein syrisches Flugzeug abschossen, eine härtere Reaktion als erwartet gezeigt.

Dieses Ereignis brachte dann letztlich den Topf zum Überlaufen. Ganz gleich, wie oft Russland die Vereinbarung zur Luftraumkontrolle aussetzt und im Süden des Euphrats Ultimaten stellte, jedes fremde Luftgefährt zu verfolgen, war sie selbst bislang nicht mit solch einer Reaktion konfrontiert. Wegen des offensichtlichen Irrsinns im Gegenzug einen Flieger der USA abzuschießen, musste Russland auf andere Gegenreaktionen setzen. Und eines der geeignetsten Reaktionen schien für Moskau, die Rakka-Operation zu stören und dem IS Luft zu verschaffen, indem man den Kräften des SDF woanders Beschäftigung verschafft.

Hohe Wahrscheinlichkeit, dass Russland der Türkei zuzwinkert

Russland hat festgestellt, dass es die Option gibt, von der Türkei, die motiviert ist die kurdischen Errungenschaften zu verhindern, zu profitieren. In diesem Kontext besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Russland der Türkei zuzwinkert.

Auch wenn ein möglicher Angriff auf Afrin die Rakka-Operation der SDF nicht in großem Maße stoppt, könnte sie zumindest verhindern, dass sie noch weiter in Richtung Süden voranschreitet. An dieser Stelle kommt der Position der USA eine wichtige Bedeutung zu.

Die USA hat deutlich gemacht, dass sie sich von einer Intervention der Türkei gestört fühlen würde, da dies den Kampf gegen den IS schwächen könnte. Allerdings ist unklar, inwiefern das den Willen der Türkei zügeln kann. Es könnte auch sein, dass die USA – nachdem sie die Türkei bei der Rakka Operation links liegen gelassen hat – eine weitere Anspannung mit Ankara vermeiden will und deshalb beide Augen bei einer möglichen Afrin-Operation zudrücken könnten.

Auf der anderen Seite ist der Trump-Administration bewusst, dass eine mögliche Operation auf Afrin, die laufende Rakka-Operation und einen möglichen Vorstoß in Richtung Deir ez-Zor schwächen würde. Sie nimmt auch wahr, dass die Anstachlung zu den Angriffen von Seiten Russlands kommt. Deshalb ist es realistischer, dass die USA darauf hinarbeiten wird, Moskau von ihrer Unterstützung für einen Angriff auf Afrin abzubringen. In diesem Fall würde Russland die Türkei zurückpfeifen und nicht die USA.

Die Mittel, mit welchen die USA auf Russland Einfluss zu nehmen versucht, sind vielfältig. Einerseits werden Drohungen ausgestoßen, dass man im Falle eines Chemiewaffeneinsatzes von Assad direkt zuschlagen werde. Anderseits stellt man in Aussicht, dass man bereit ist, das Schicksal Assads in russische Hände zu geben. Um den russischen Einfluss zu beschränken, boykottierten nun zuletzt auch die FSA-Verbände aus dem Süden Syriens die Astana-Friedensgespräche, was wohl auch auf eine Anweisung der USA zurückzuführen ist.

Russland ist auch nicht entspannt

Die Türkei ist nicht nur in Afrin, sondern in ganz Syrien nicht in der Lage eine Operation durchzuführen. Der Angriff auf Afrin hängt vollständig von der Haltung Russlands ab. Und es ist klar, dass Russland bei diesem Thema nicht ganz entspannt ist. Dafür gibt es einige Gründe. Erstens: Der Angriff auf Afrin könnte den zunehmend in bestimmte Gleise kommenden Bürgerkrieg in Syrien wieder vertiefen und insgesamt zum Kontrollverlust führen. Zweitens: Die unvorhersehbare türkische Außenpolitik und ihre Träume vom Neo-Osmanismus bergen die Möglichkeit, schwer kontrollierbare Ergebnisse hervorzurufen. Drittens: Die USA könnten einen möglichen Angriff nutzen,  um selbst in der Region Afrin einzugreifen und sich dort niederzulassen, was bedeuten würde, dass die USA sich unmittelbar zur russischen Basis in Latakia befinden würde. Viertens: Eine Operation auf Afrin könnte bedeuten, dass Russland die kurdische Karte völlig engleitet und sie mit den Kurden einen neuen Gegner am Boden haben. Fünftens: Der Misserfolg einer Türkei, die mit Russlands Erlaubnis in Afrin einmarschiert, wird auch gleichzeitig der Misserfolg Russlands sein.

Mögliche Resultate für die Türkei

Aus der Perspektive der Türkei kann ein möglicher Angriff auf Afrin ernsthafte Konsequenzen mit sich bringen. Der bedeutendste ist, dass der Krieg in Syrien sich über die Kurden auch in die Türkei Eingang finden kann. Ohnehin findet aufgrund des seit zwei Jahren anhaltenden Krieges eine bislang ungeahnte Polarisierung der Gesellschaft in der Türkei statt. Die Fronten zwischen der kurdischen und der türkischen Bevölkerung sind auch ohne Angriff auf Afrin sehr verhärtet.

In Bezug auf die türkische Position in Syrien müssen wir festhalten, dass die Türkei die Region Shehba als Hinterland für eine Afrin-Operation vorsieht. Das Problem an der Geschichte ist allerdings, dass es unter der Bevölkerung Shehbas aufgrund der türkischen Besatzung brodelt und es keine gesunde gesellschaftliche Grundlage für die Türkei in dieser Region gibt. Die sich hier befindenden wenigen Zivilsten sind ernsthaft wütend auf die Politik der Türkei. Die fast alltäglich stattfindenden Protestaktionen finden mittlerweile auch Eingang in die Medien. Aufgrund dieser Politik suchen viele FSA Mitglieder bereits bei der SDF oder beim Regime Unterschlupf. Deshalb besteht ernsthaft die Gefahr für die Türkei, in ihrem „Hinterland“ alleine dazustehen und einen schweren Schlag zu erleiden.

Ein zusätzlicher Einmarsch in Afrin – einer Stadt mit massiver kurdischer Bevölkerung –  würde die Situation für die Türkei nicht einfacher machen. Im Gegensatz zur generellen syrischen Geographie besitzt Afrin ein bergiges und steiles Gelände. Die Gefahr ist daher groß, dass ein türkischer Angriff auf dem Kanton mit russischer Unterstützung sind ganz schnell zum russischen Roulette für die Türkei entwickeln könnte.

Auf dem Weg zum Ende des Bürgerkriegs in Syrien fahren alle Mächte ihre Trümpfe auf. Es wäre nicht falsch, den Angriff gegen Afrin als Abrechnung für Deir ez-Zor zu sehen. In diesem Kontext, werden die begonnenen Astana-Gespräche und das Trump-Putin-Treffen zu entscheidenden Dingen führen. Weder von Russland, noch von den USA darf man in Syrien derzeit Angriffe erwarten, welche die Krise weiter vertiefen und den Aufwand erhöhen.

Im Original ist die Kolumne am 05.07.2017 unter dem Titel “Afrin’in dikiz aynasındaki Deyr ez Zor ve olası gelişmeler ” im Nachrichtenportal Gazete Karınca erschienen.