Für eine demokratische Freiheitsgesellschaft

In der Türkei finden am 14. Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Politische Parteien gehen nicht einzeln, sondern mit den von ihnen gebildeten Bündnissen in die Wahlen: die von Tayyip Erdoğan geführte »Volksallianz«, das von der CHP geführte nationale Bündnis (»Sechsertisch-Allianz«) und das von der HDP geführte »Bündnis für Arbeit und Freiheit«.

Das in der Türkei als »Volksallianz« bekannte Bündnis, dessen Grundstein am 20. Februar 2018 gelegt wurde, ist anlässlich der letzten Präsidentschaftswahlen zwischen den Parteien AKP und MHP geschlossen worden und bildet seither die Regierungskoalition. Im Wesentlichen ist diese Koalition eine Partnerschaft zwischen dem islamischen Turkismus und dem nationalistischen Turkismus.

Der wesentliche Faktor, der MHP und AKP, Tayyip Erdoğan und Devlet Bahçeli, zusammengebracht hat, ist die Kurdenfeindlichkeit und die genozidale Politik gegenüber den Kurd:innen. Die Verhinderung des Freiheits- und Gleichheitskampfs der Kurd:innen in den vier Teilen Kurdistans und eines internationalen Status’ sind der gemeinsame Nenner dieser beiden Parteien.

Die totale Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, die staatliche Verordnung der Zwangsverwaltung von über 60 Kommunalverwaltungen, die durch Kurd:innen gewählt worden waren, die Besetzung von Teilen Syriens und Rojavas sowie die Besetzung eins Teils Südkurdistans sind die gemeinsame Politik der Erdoğan-Bahçeli-Clique. Die anhaltende Bombardierung von Şengal und Mexmûr durch türkische Flugzeuge, der Druck auf die HDP und die Androhung des Parteiverbots, die Inhaftierungs-, Verhaftungs- und Mordpraktiken gegen das kurdische Volk, Gewalt gegen Frauen – das sind die Praktiken des Staatsterrorismus, die unter der AKP/MHP-Regierung immer weiter intensiviert und fortgesetzt werden. Das kurdische Volk und die demokratischen Kräfte der Türkei werden bei den bevorstehenden Wahlen ihren Widerspruch gegen diese diktatorischen Praktiken demonstrieren.

Faktoren, die die Partnerschaft der »Volksallianz« (AKP und MHP) sichern

Beide Parteien hegen Feindseligkeit gegenüber dem kurdischen Volk und der HDP, erteilen den Justizorganen eindeutige Anordnungen zur Verhaftung und Bestrafung von HDP-Funktionär:innen, Abgeordneten und Bürgermeister:innen. Die Basis des Bündnisses ist antikurdisch, außerdem betrachtet die AKP-MHP-Koalition Pluralismus und Demokratie generell als Gefahr und Bedrohung. Diese beiden Parteien sind nationalistische, islamistische, sexistische, frauenfeindliche, antiwestliche und antichristliche, antisemitische Parteien. Die ideologisch-politische Partnerschaft von AKP und MHP ist links- und sozialismusfeindlich. Der politische Diskurs beider Parteien und die Argumente, die sie in ihrem Wahlkampf verwenden, belegen, dass es sich bei dieser Partnerschaft um eine türkisch-religiös-faschistische Clique handelt.

Tayyip Erdoğan und Devlet Bahçeli (AKP und MHP) unterhalten offene und direkte Beziehungen zur türkischen Mafia. Erdoğan hat den Mafiaführer Sedat Peker lange Zeit an seiner Seite gehabt und diesen kriminellen Straftäter, der Dutzende Prozesse hinter sich hat und wegen Hunderter Vergehen strafrechtlich verurteilt wurde, in verschiedenen Provinzen Kundgebungen für die AKP organisieren lassen. Devlet Bahçeli äußerte derweil, Alaattin Çakıcı, eine der führenden Persönlichkeiten der türkischen Mafia, sei »sein Weggefährte« und erklärte, dass Kürşat Yılmaz, ein weiterer Bandenführer, ein »großer Patriot« sei und begnadigt werden solle. Tatsächlich wurden nach dieser Aussage beide Mafiosi aus dem Gefängnis entlassen. Erdoğan und Bahçeli sehen in der Partnerschaft zwischen Staat und Mafia keinerlei Problem oder Hindernis, im Gegenteil: sie legalisieren diese Beziehung.

Angesichts der großen Wirtschaftskrise in der Türkei und der rapiden Abwertung der türkischen Lira gegenüber ausländischen Währungen sorgt die AKP/MHP-Regierung über staatliche Einrichtungen dafür, dass Schwarzgeld in die Türkei fließt.

Das Verfahren gegen die türkische »Halkbank« in den USA ist ein bekanntes Beispiel für dieserart illegale Unternehmungen. Die »Halkbank« ist eine dem Ministerpräsidenten der Republik Türkei direkt unterstellte Bank. Zum Zeitpunkt der vorgefallenen Korruption war Tayyip Erdoğan Ministerpräsident der Republik Türkei. Der in den USA noch laufende Gerichtsprozess unter der Anklage »Verschwörung zum Betrug der USA durch Verletzung des International Emergency Economic Power Act, und offener Verstoß gegen US-Gesetze durch Geldtransfers in den Iran« ist eine direkte Anklage gegen den türkischen Staat.

Und die türkische Regierung steigt in das Drogengeschäft ein …

Im Juni 2020 wurden im Hafen von Buenaventura im Südwesten Kolumbiens 5 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Der Direktor der örtlichen Drogenpolizei, Jorge Luis Aragón und Verteidigungsminister Carlos Trujillo gaben bekannt, dass das vorgesehene Ziel dieses Kokains im Wert von 265 Millionen Dollar die Türkei gewesen sei.

Am 5. August 2021 wurden 1,3 Tonnen Kokain in einem türkischen Flugzeug am brasilianischen Flughafen Fortaleza beschlagnahmt. Das Flugzeug war für das Präsidialamt der Republik Türkei gekauft worden. Es ist kein unbedeutendes Detail, dass dieses Flugzeug vom Typ Gulfstream IV den türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan während des Putschversuchs am 15. Juli 2016 von Dalaman nach Istanbul brachte.

Die in Spanien publizierte Zeitung El País schrieb, die neue Kokainroute verlaufe durch die Türkei, und die türkische Mafia arbeite mit dem mexikanischen Kartell Sinaloa und dem galizischen Kartell Sino Minanço zusammen; außerdem würden die Drogen über die Türkei nach Europa und in den Nahen Osten verteilt. El País weiter: »Die Türkei ist für internationale Drogenkartelle das Zentrum der Geldwäsche.«

Tayyip Erdoğan und viele seiner Minister waren zusammen mit ihren Familien an schwerem Diebstahl, Korruption und Bestechung beteiligt, indem sie öffentliches Eigentum an sich gerissen haben. Sehr bekannt ist die große Korruptions- und Bestechungsaffäre, an der Tayyip Erdoğan, der damalige Innenminister Muammer Güler, Wirtschaftsminister Zafer Çağlayan, der Minister für EU-Angelegenheiten Egemen Bağış, und der Minister für Umwelt und Urbanisierung Erdoğan Bayraktar beteiligt waren und die der Grund für umfangreiche Razzien am 17. Dezember 2013 war.

All diese Informationen und Dokumente sind ein klarer Beweis dafür, dass die AKP/MHP-Regierung in der Türkei eine typische Kleptokratie (Herrschaft der Diebe) ist. Aber weder die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen noch die Zunahme von Diebstahl und Korruption führen automatisch zum Niedergang der Diktatur. »Wenn sich Wut und Ärger wie Eiter ansammeln, besteht die Gefahr, dass sie in Depressionen oder Kapitulation umschlagen«, sagt Antonio Negri.

Die Türkei wird kurz vor den Wahlen von so einer schmutzigen, kriminellen und kleptokratischen Macht regiert. Das kurdische Volk und die türkische Opposition kämpfen gegen eine solche Regierung. Millionen von Wähler:innen (mindestens 50 % der Gesellschaft), die in der Vergangenheit für die AKP und MHP gestimmt haben, sind sich der Korruption und Umweltverschmutzung in der Türkei bewusst, denn sie leben auch in dieser großen Kloake. 20 Jahre AKP/Erdoğan-Herrschaft haben jedoch Abstumpfung gegen Umweltverschmutzung und üblen Geruch bewirkt, und die Gesellschaft vermag nicht angemessen darauf zu reagieren. Die primäre und schwierige Aufgabe der Wahlbündnisse, die gegen die AKP/MHP-Regierung antreten, besteht darin, diese Apathie zu aufzubrechen.

Der »Sechsertisch« – sogenannte Opposition

Gegen den AKP/MHP-Block steht das nationale Bündnis, das schon bei den vorangegangenen Wahlen aus der Partei CHP und der İYİ-Partei bestand. Die Parteien »Saadet« (SP) und DEVA, die Gelecek-Partei und die Demokratische Partei schlossen sich diesem Bündnis für die anstehenden Wahlen an.

Die CHP, Anführerin dieses Bündnisses, das sich auch »Sechsertisch« nennt, hat 20 Jahre lang alle Wahlen gegen die Partei AKP verloren. Die von Ali Babacan geleitete DEVA und die von Ahmet Davutoğlu geleitete Gelecek-Partei trennten sich von der AKP; deren Funktionär:innen, Mitglieder und Wähler:innen stammen ursprünglich aus den Reihen der AKP. Ideologisch stehen sie der AKP und der MHP nahe. Sie unterscheiden sich vom AKP/MHP-Bündnis nicht ideologisch, sondern rein politisch.

Die von Meral Akşener geführte İYİ-Partei entstand aus der MHP – ihre Führungsebene, die Provinz- und Bezirksfunktionär:innen sowie die Wähler:innenschaft entstammen der MHP und AKP. Sie ist nach der CHP die einflussreichste Partei des »Sechsertisches«.

Die Parteien SP, DEVA, Gelecek-Partei und Demokratische Partei haben zusammen weniger Wähler:innen als die HDP. Die CHP und die İYİ-Partei brauchten diese kleinen Parteien, die die Stimmendifferenz zur AKP/MHP-Regierung nur sehr geringfügig veränderten, angeblich um Pluralismus und Differenzierung zu schaffen. Aktuelle Wahlprognosen zeigen, dass weder der AKP/MHP-Block noch der »Sechsertisch« den Präsidenten allein werden stellen können. Der Schlüssel zum Aufbrechen dieses Schlosses sind zweifellos die HDP und ihre Wähler:innen. Trotzdem wurde die HDP bei der Konstituierung des »Sechsertisches« nicht einbezogen. Das »Sechsertisch«-Bündnis vermeidet nach wie vor eine offene Diskussion und den Dialog mit den Co-Vorsitzenden und Führungskräften der HDP. Kurz gesagt, von der HDP wird erwartet, dass sie ihn unterstützt, ohne vom »Sechsertisch« als ernsthafte Gesprächspartnerin behandelt zu werden.

Das am 30. Januar verkündete Programm der Parteien des »Sechsertisches« und deren Praxis führen nicht zu einer partizipativen, pluralistischen und radikalen Demokratie in der Türkei. Das Bündnis beabsichtigt lediglich einige kleinere Reformen dieses diktatorischen Regimes, um das bestehende nationalstaatliche, nationalistische, religiöse und monistische Staatssystem zu bewahren. Sie thematisieren in keiner Weise die totale Isolation des kurdischen Vordenkers Öcalan, die Einsetzung von Zwangsverwaltern in kurdischen Kommunen, die systematischen Inhaftierungen noch Folter und andere unmenschliche Praktiken in den Gefängnissen. Anstatt sich gegen die systematische Bombardierung von Şengal und Mexmûr zu stellen, unterstützen CHP, İYİ, die Gelecek-Partei, Saadet und die Demokratische Partei im Gegenteil die Politik von AKP/MHP, u.a. die Verletzung der Souveränität Syriens und des Irak durch das türkische Militär und die Invasion in Rojava und Südkurdistan.

Der Krieg des Staates gegen die Kurd:innen und die Völkermordpolitik sind für sie kein Thema. Tatsächlich wird die Repression der Regierung sowie der Staatsterrorismus von Zeit zu Zeit als unzureichend kritisiert und verlangt, die Gewalt noch zu verstärken.

Das nationale Bündnis entwickelt seinen Wahlkampf und seine Propaganda als Kritik an den jüngsten Maßnahmen der AKP/MHP-Regierung, deren Schwerpunkte auf der Wirtschaftskrise, der Inflation, den Lebenshaltungskosten, Armut und Arbeitslosigkeit liegt. Hauptsächlich setzt es sich dafür ein, das Präsidialsystem und das Ein-Mann-Regime zu beenden, das Tayyip Erdoğan anstelle der Gewaltenteilung aufgebaut hat.

Das Bündnis geht nicht auf die wichtigsten Probleme der Türkei ein. Seine Vertreter:innen versprechen, dieses verfallende Regime mit einigen Pinselstrichen zu korrigieren, ohne die autoritäre, zentristische, nationalstaatliche und faschistische Struktur der Türkei anzutasten. Der »Sechsertisch« betrachtet die kurdische Frage nicht als das Hauptproblem, dessen Lösung die Demokratie bringen könnte. Unter den Hunderten von Problemen der Türkei behandelt er die kurdische Frage wie eines von vielen.

Grundlegende Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Religions- und Glaubensfreiheit, eine in gesellschaftlichem Konsens herbeigeführte Änderung der jetzigen türkischen Verfassung, die türkisch-nationalistisch, rassistisch und fundamentalistisch ist, die Anerkennung der Grundrechte und -freiheiten der Kurd:innen und anderer in der Türkei lebender Völker und verfassungsmäßig garantierte Rechte wie muttersprachlicher Unterricht und Autonomie der Kommunalverwaltungen stehen nicht auf der Agenda des »Sechsertisches«.

Perspektiven der Opposition

Im Bündnis für Arbeit und Freiheit haben sich die HDP, die Partei der Arbeit (EMEP), die Arbeiterbewegungspartei (EHP), die Partei für soziale Freiheit (TÖP), die Arbeiterpartei der Türkei (TİP) und die Föderation der Sozialistischen Räte (SMF) zusammengeschlossen. Obwohl die Kräfte in diesem Bündnis ideologisch-politische Differenzen untereinander haben, haben sie eine gemeinsame Sichtweise und Herangehensweise an die Ablösung des faschistisch-diktatorischen Regimes in der Türkei und den Sturz der AKP/MHP-Regierung. Obwohl die Kräfte in diesem Bündnis keine große und breite Basis in der Gesellschaft haben, schaffen sie mit ihrer Organisierung und in ihren sozialen Milieus die wichtigste demokratische Dynamik in der Türkei. Demokratisierung der Türkei, Entwicklung von Rechten, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, Themen wie die Anerkennung und verfassungsmäßige Garantie der Grundrechte des kurdischen Volkes, der Geschlechtergerechtigkeit, der Gedanken- und Meinungsfreiheit sind die Mindeststandards dieses Bündnisses und Quelle der Partnerschaft seiner Mitgliedsorganisationen.

Wenn in der Türkei von Bündnissen die Rede ist, geht es meist um reine Wahlbündnisse. Gegen das AKP-MHP-Bündnis wird ein Block angestrebt, der mit Hilfe des Wahlrechts von verschiedenen politischen Parteien und von der sozialen außerparlamentarischen Opposition gestützt wird. Eine solche »Einheit« für Wahlen ist auch wichtig und notwendig, aber es ist kein wirkliches und dauerhaftes demokratisches Bündnis.

Denn die Probleme der Türkei entstehen nicht nur aus der Mentalität und dem Missmanagement der herrschenden Elite. Die letzten zwei Generationen in der Türkei haben den Aufstieg von Nationalismus, Rassismus, religiösem Chauvinismus, Frauenfeindlichkeit und Faschismus erlebt und nicht Rechte und Freiheiten und Revolutionen. Deshalb ist das Wahlbündnis taktisch, periodisch und vorübergehend. Das Bündnis der Demokratie ist das Bündnis des Zusammenlebens. Diese Allianz ist eine strategische, eine langfristige und dauerhafte.

Die Demokratisierung des Staates und der Gesellschaft sind völlig verschiedene aber parallel verlaufende Prozesse. Die Freiheit und Demokratisierung der Gesellschaft ist ein grundlegender Prozess, der sich entwickelt, ohne auf den Tag der Machtergreifung oder auf Wahlsiege zu warten.

Dieser Prozess lässt sich nicht mit Stimmzetteln und Wahlen beschreiben und nicht durch Repräsentation ausdrücken. Eine aus freien Bürger:innen bestehende Gesellschaft, die an Rede-, Diskussions- und Entscheidungsprozessen in den Produktionsstätten, Akademien, Kommunen und Versammlungen mitwirkt, die sich des Hinterfragens, des Einspruchs und der Rebellion bewusst ist, hat das Niveau, auf dem die Gesellschaft zu geistiger und operativer Macht gelangt. Eine solche Entwicklung ist Ausdruck einer demokratischen Freiheitsgesellschaft.
Das Bündnis für Arbeit und Freiheit wird in dem Maße erfolgreich sein, in dem es vor den Wahlen vor allem mit einer solchen Perspektive und Vorgehensweise agiert.


Der Artikel ist zuerst im Kurdistan Report 226 (März/April 2023) erschienen und vor dem erschütternden Erdbeben geschrieben worden.

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