Der aktuelle Krieg in Südkurdistan, die Anerkennung des Genozids und die Rolle der NATO

Und es ist wieder so weit. Die türkische Armee hat erneut einen Krieg ausgerufen. Ziel ist dieses Mal, die von den Guerillakräften der HPG und YJA-Star kontrollierte Region in Südkurdistan (Nordirak), das wenige Kilometer südlich der türkischen Staatsgrenze liegt. Aktuell kommt es in den Gebieten Metîna, Avaşîn und Zap immer wieder zu schweren Gefechten zwischen beiden Seiten. Parallel setzt die Türkei das gesamte Gebiet einem permanenten Bombenhagel aus der Luft aus.

Dabei ist der letzte Angriffskrieg der Türkei noch gar nicht so lange her. Im Februar dieses Jahres hatte die türkische Armee einen Angriff auf die südkurdische Region Gare gestartet, die ebenfalls unter der Kontrolle der Guerillakräfte steht. Die Operation endete in einem Desaster für die Türkei. Nach wenigen Tagen trat die Armee den Rückzug an. Von den anfänglichen großspurigen Ankündigungen, dass nach Gare das nächste Ziel Şengal (Sindschar) heißen würde, war schnell nichts mehr zu hören. Zudem kamen 12 türkische und ein irakischer Staatsbürger, die sich in den Händen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) befanden, während der Operation ums Leben.

Erdoğan konnte nach Gare zwar keine militärische Erfolgsmeldung verbuchen, doch er versuchte den Tod seiner Staatsbürger als politisches Propagandamittel für seine Zwecke zu verwenden. Dass ihm tatsächlich nicht so viel am Leben dieser Menschen gelegen haben dürfte, beweist die Tatsache, dass Vermittlungsangebote der Demokratischen Partei der Völker (HDP) für die Freilassung der Gefangenen von der türkischen Regierung zuvor ignoriert worden waren. Doch angesichts der tiefgreifenden innenpolitischen Krisen im Land verpuffte die nationalistische Propaganda der AKP auf dem Rücken ihrer toten Staatsbürger alsbald. So war es also eine Frage der Zeit, bis Erdoğan den nächsten Krieg anzetteln würde.

Zur Rolle Bagdads und der PDK im aktuellen Kriegsgeschehen

Es wäre allerdings falsch, den aktuellen Krieg der türkischen Armee, als bloß einen weiteren von vielen Angriffsversuchen gegen die Stellungen der kurdischen Guerillakräfte zu werten. Dafür sind allein die Vorbereitungen und Angriffsziele deutlich umfassender als bei den bisherigen Operationen. Der Krieg gegen die Guerillastellungen ist Teil eines breitangelegten Vernichtungskonzepts gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Auch von einem möglichen Angriff auf das êzîdische Gebiet Şengal ist wieder die Rede. Noch wenige Tage vor dem Beginn der türkischen Offensive hatte die irakische Armee versucht, nach Şengal zu gelangen. Sie scheiterten allerdings am Widerstand der Zivilbevölkerung, die nicht zulassen wollte, dass die irakische Zentralregierung die nach dem Genozid von 2014 aufgebaute Selbstverwaltung der Bevölkerung von Şengal aushebelt. Der Interventionsversuch der irakischen Armee ist die Folge des sogenannten Şengal-Abkommens, das auf Hinwirken der Türkei zwischen Bagdad und der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) abgeschlossen wurde und die autonome Selbstverwaltung der dortigen Bevölkerung zunichte machen soll. Die Umsetzung des Plans scheiterte bislang am Widerstand der Lokalbevölkerung. Die zeitliche Nähe zwischen dem Vorstoß der irakischen Armee in Şengal und der aktuellen türkischen Militäroffensive dürfte dabei kaum ein Zufall sein.

Die irakische Regierung sei jedenfalls über den Beginn des Angriffskrieges informiert worden, hieß es aus der türkischen Hauptstadt. In der Vergangenheit war es noch zwischen Bagdad und Ankara zu Wortgefechten gekommen, weil die türkische Regierung ihre Amtskollegen im Irak nicht über die grenzüberschreitenden Operationen informierte. Dieses Mal scheint die irakische Regierung mit dem türkischen Vorhaben einverstanden zu sein. Eine gegenteilige Stellungnahme war bislang aus irakischen Regierungskreisen nicht zu hören.

Die besagte PDK hingegen gilt seit geraumer Zeit als wichtigste Unterstützerin der türkischen Angriffskriege in Südkurdistan. Sie hat in den letzten Jahren immer größere Gebiete der türkischen Armee zugänglich gemacht und ihr zahlreiche strategisch bedeutsame Militärstationen überlassen. Darüber hinaus postiert sie selbst seit geraumer Zeit ihre Peshmerga-Einheiten in die unmittelbare Nähe der Guerillagebiete. Für die aktuelle Militäroperation bedeutet dies, dass die PDK-Peshmerga an der südlichen Flanke der angegriffenen Gebiete postiert sind, während die Türkei vom Norden heraus angreift. Proteste gegen die türkische Offensive sind unterdessen in der gesamten kurdischen Autonomieregion nicht gern gesehen. So wurden in Silêmanî, das unter Kontrolle der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) steht, über 50 Menschen tagelang in Haft gehalten, weil sie öffentlich ihre Stimmen gegen Erdoğans Krieg erhoben hatten. Als sie entlassen wurden, sollten sie ein Dokument unterzeichnen, auf welchem sie versicherten, in Zukunft an keinen öffentlichen Protesten mehr teilzunehmen.

Start der Offensive erfolgt nach Telefonat zwischen Biden und Erdoğan

Das Datum des Beginns der türkischen Militäroffensive ist vielsagend. Der 24. April ist nämlich der Jahrestag des Beginns des Genozids an den Armenier*innen durch das Osmanische Reich im Jahre 1915. Knapp einen halben Tag nach Beginn des neuerlichen türkischen Angriffskrieges sollte US-Präsident Biden in einer Ansprache den Genozid an den Armenier*innen als solchen bezeichnen, was in Ankara erwartungsgemäß wütende Reaktionen hervorrief. Am Tag vor der Ansprache und wenige Stunden vor dem türkischen Operationsbeginn kam es allerdings noch zu einem Telefongespräch zwischen Biden und Erdoğan. Vermutlich wurde der türkische Staatspräsident persönlich von seinem US-Amtskollegen über die Wortwahl informiert, welche am nächsten Tag verwendet werden würde. Und vermutlich war auch die wenige Stunden später beginnende Militäroperation der Türkei ein Gesprächsthema der beiden. Viele stellten sich nach Bidens Ansprache zu Recht die Frage, ob der Angriffskrieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung als Zugeständnis der US-Regierung an Erdoğan zu werten ist, damit der Ärger über die Anerkennung des Genozids durch die USA in der türkischen Regierung etwas abgemildert wird. Bereits zuvor wurde ein Zeichen des „guten Willens“ aus Washington in Richtung der Türkei entsandt. Offizielle Twitteraccounts der USA riefen ein im November 2018 auf die führenden PKK-Mitglieder Cemil Bayık, Murat Karayılan und Duran Kalkan ausgesetztes Kopfgeld in Millionenhöhe in Erinnerung. Und der PDK-nahe Fernsehsender Rudaw TV griff die Tweets in seinen Abendnachrichten auf.

Ohne grünes Licht aus Washington ist ohnehin ein solch groß angelegter Angriffskrieg der Türkei jenseits der eigenen Grenze kaum vorstellbar. Drei Wochen vor dem Telefongespräch zwischen Biden und Erdoğan war der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar nach Großbritannien gereist, um sich mit seinem Amtskollegen Ben Wallace zu treffen. Auch hier dürften die türkischen Kriegspläne Teil der Unterhaltungen gewesen sein.

Zentrale NATO-Partner der Türkei segneten also vermutlich den Krieg der Türkei ab. Dies taten sie gewiss nicht ganz uneigensinnig, denn auch die NATO hat ein Interesse daran, die PKK zu schwächen, wohlmöglich sogar auszulöschen. Die NATO-Staaten haben bereits angekündigt, nach der Corona-Pandemie ihre Truppenstärke im Irak deutlich aufzustocken. Als gern gesehener Partner auf dem Feld im Irak gelten die südkurdischen Parteien und ihre Peshmerga-Einheiten. In der PKK und ihrem wachsenden Einfluss auch in Südkurdistan wird hingegen eine Gefahr für die Mitteloststrategie der NATO-Staaten gesehen. Kurdische Akteure mit einem eigenen Willen und einer eigenen Perspektive erweisen sich in der Regel nämlich nicht als nützliche Handlanger westlicher Interessen in der Region. Ein Interesse an der Schwächung der PKK erscheint deshalb auch nur folgerichtig. Und die militärischen Angriffe der Türkei gelten hierfür als ein passendes Mittel.

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