Der Co-Vorsitzende der PYD (Partei der Demokratischen Einheit) Salih Müslim im Interview mit Civaka Azad, 23.12.2012
(…) Dieses Lösungsmodell wird eine Bereicherung für das politische und soziale Zusammenleben der Völker sein. Im Konkreten kann zusammengefasst werden, dass in diesem Modell sich der Staat nicht in der Sphären der Politik, Kultur, Sprache, Ökonomie und Ökologie einmischen wird. Ein demokratisches Rätemodell, das nach basisdemokratischem Vorbild errichtet wird, kann als Modell für das gesamte Syrien verstanden werden. Somit würde ein ideales gemeinsames System der verschieden Bevölkerungsgruppen und religiösen Gruppierungen in der Region ermöglicht werden, ohne dass Ausgrenzungen oder Unterdrückung bestehend sind. Dieses Modell könnte sich dann von da aus im gesamten Nahen und Mittleren Osten ausdehnen (…)
Lange Zeit wurde in den türkischen und europäischen Medien das Gerücht verbreitet, dass ihre Partei mit dem Assad-Regime kollaboriere. Sie haben dies mehrfach in Interviews zurückgewiesen und erklärt, dass es keinerlei Zusammenarbeit zwischen den KurdInnen und dem Regime gibt. Hintergrund dieser Antipropaganda war sicherlich der Versuch die syrische Opposition gegen ihre Partei anzustacheln. Deshalb möchten wir mit der Frage beginnen, wie die die Haltung der PYD zu anderen Oppositionellen in Syrien und der Revolution im Land insgesamt ist?
Die KurdInnen bilden einen bedeutsamen und wesentlichen Teil der Revolution in Syrien. Es gilt demokratische und freiheitliche Verhältnisse zu schaffen, die die Unterdrückung, Kriminalisierung und Ausgrenzung Politiken des alten Regimes nicht mehr beinhalten. Da wir zu der Bevölkerungsgruppe gehören, die am meisten unter der Baath-Diktatur zu leiden hatte, forcieren wir ebenfalls am meisten ihren Sturz. Folglich befürworten wir einen möglich raschen und demokratischen Wandel in Syrien. Da dieser Wandel sich nicht von alleine bewerkstelligt, bedarf es an Arbeit, Organisierung und Errichtung von Strukturen.
Von Anbeginn der Aufstände war ein gemeinsames Auftreten sämtlicher KurdInnen in Syrien zu beobachten. Dabei unterstützen wir von Anfang an das Demokratiebestreben für Syrien. Folglich waren wir auch von Anfang an gegen eine äußere Intervention. Wir haben es für uns als richtig erachtet im September 2011 bei der Gründung des Nationalen Koordinationskomitees für einen Demokratischen Wandel in Syrien (NCC) mitzuwirken. Innerhalb des NCC haben wir nämlich schnell bemerkt, dass auch andere Kräfte in Syrien dieselben Vorstellungen, die wir vertreten, teilen.
Ich möchte auch anmerken, dass mit der Organisierung des kurdischen Volkes nicht erst mit Beginn der Aufstände angefangen wurde, sondern die KurdInnen schon im Vorfeld über einen gewissen Organisierungsgrad verfügten. Dementsprechend groß ist auch die Mobilisierungskraft gewesen. In diesem Rahmen wurden in der Praxis, durch die Errichtung von den Volksräten, die ersten Fundamente für die Demokratische Autonomie gelegt.
Wir legten besonders viel Wert darauf, dass es zu keinen Auseinandersetzungen und Massaker, wie sie in den anderen Teilen Syriens zu sehen waren, in den kurdischen Gebieten kommt. Daher duldeten wir zunächst die Präsenz des Regimes in den kurdischen Gebieten. Denn im Falle eines militärischen Vorgehens der kurdischen Seite, hätte das Regime mit Bombardierungen der kurdischen Zivilbevölkerung geantwortet. In den rein kurdischen Gebieten, wie beispielsweise Afrin, Kobani, Derik und anderen Städten umzingelte das Volk dann im Juli 2012 sämtliche Regierungsposten und forderte die Angehörigen des Regimes sich aus der Städten zurückzuziehen.
Ohne Gewalt anzuwenden, wurde somit in den meisten Städten das Regime vertrieben. Seitdem wird die Verwaltung unsererseits betrieben. In solch einer kritischen Phase galt es selbstverständlicher Weise, neben der Organisierung der Bevölkerung, ebenfalls für ihren Schutz zu sorgen. Zwar wollen wir nicht mit in die Kämpfe einbezogen werden. Sollte es jedoch zu Angriffen kommen, verfügen wir über das Recht der Selbstverteidigung.
Um nochmals zurück auf die Frage nach der Beziehung zur Opposition einzugehen. Als die Proteste gegen die Unterdrückung des Baath Regimes in Dara begannen, war es das syrische Volk, das auf die Straße ging. Die Bevölkerung forderte Freiheit und Demokratie. Jedoch nahm der Aufstand einen anderen Verlauf. Es konnte keine einheitlich agierende Opposition gebildet werden, da die jeweiligen Interessengruppen versuchten aus der Situation ihren politischen Profit zu schlagen. Exemplarisch dafür kann die Freie Syrische Armee FSA aufgezeigt werden. Etwa 200 Gruppierungen, zum Teil mit konträrsten Ausrichtungen operieren unter der Flagge der FSA. Zudem erklärte die FSA, dass der in Istanbul gegründete Syrische Nationalrat SNR, nicht repräsentativ für sie stehen würde. Es ist sogar von einer gewissen Ablehnung des SNR seitens des FSA zu sprechen, da der SNR weder das syrische Volk repräsentiert, noch unter die ihm die wirklichen oppositionellen Kräfte vereint sind.
Im November wurde die Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte in Doha gegründet. Es gilt abzuwarten, was für eine Entwicklung sie nehmen wird.
Allgemein gilt es als schwer eine einheitliche Opposition in Syrien zu bilden. Die Gründe dafür sind vor allem in den entstandenen Machtkämpfen zu suchen, die das Bestreben der Bevölkerung nach Schaffung Demokratischer Verhältnisse in den Hintergrund gerückt haben.
Was ist der Grund dafür, dass die KurdInnen dann nicht von Anfang an mit der Syrischen Opposition und dem Syrischen Nationalrat zusammengearbeitet haben?
Der Syrische Nationalrat, der von Anfang an offiziell von der Türkei unterstützt wurde und eine Araber Dominanz hatte, akzeptierte weder die PYD noch den Kurdischen Nationalrat, die gemeinsam den Kurdischen Hohen Rat bilden, der die Belange der kurdischen Bevölkerung vertritt. Wir waren Ende Juni in Kairo und wollten uns bei dem großen Treffen der syrischen Opposition teilnehmen. Aber vor allem die Muslimbrüder die unter der Einfluss der Türkei und dessen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan waren, wollten uns nicht akzeptieren. Deswegen konnten wir diese Dominanz auch nicht akzeptieren. Wir bevorzugen demgegenüber eine breitflächige Opposition, in der sämtliche ethnischen und konfessionellen Bevölkerungsgruppen, wie der der AraberInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, AramäerInnen, TürkmenInnen, TscherkessInnen, SunnitInnen, AlawitInnen, und DrusInnen vertreten sind. Nur so kann eine demokratische Opposition garantiert werden.
Wie bewerten Sie die Lage in Westkurdistan?
Wir können sagen, dass unser System, das wir als Demokratische Autonomie bezeichnen, in Westkurdistan allgemeine Akzeptanz genießt. Wir versuchen mit diesem Modell eine autonome Lebensform und Organisierung jenseits bestehenden staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen zu etablieren, was selbstverständlich kein leichtes Unterfangen ist. Dementsprechend gibt es in manchen Gebieten auch einige Schwierigkeiten. Im Cezire Gebiet, also in Qamislo, Serê Kaniyê und Tirbespî beispielsweise verfügen auch die anderen kurdischen Parteien über einen gewissen Einfluss. Es gibt unterschiedliche politische Ansichten und es herrscht ein Durcheinander. Wir versuchen mit der Bevölkerung zu sprechen und sie zu überzeugen. Aufgrund der Arbeit der anderen Parteien sind nationalistische Gedanken teilweise auch unter den KurdInnen in diesem Gebiet verbreitet, was uns die Arbeit erschwert.
In Afrîn und Kobanî haben wir einen Großteil unseres Konzepts umgesetzt. Es fehlen uns noch etwa zehn Prozent bis zur völligen Umsetzungen unseres Systems. Die Komitees und Räte sind organisiert. In den Dörfern haben wir angefangen Dorfkommunen aufzubauen, sind allerdings noch relativ am Anfang. Die Dorfbewohner kümmern sich um ihre Selbstverteidigung. Aber die Kommunen haben bereits auch ihre Produktion aufgenommen, es entstehen erste Kooperativen. Auch hier befinden wir uns erst am Anfang, der sich unter den gegebenen Bedingungen nicht einfach gestaltet.
Sie haben von der Gewährleistung der Sicherheit der kurdischen Städte gesprochen. Wie machen Sie das?
Wie gesagt, die Priorität des Kurdischen Hohen Rates und der PYD liegt zunächst in der Verteidigungsaufgabe. In Westkurdistan gibt es zwei Arten von Sicherheitskräften. Einmal die Asayish, welche die Aufgaben der Ordnungskräfte in den Städten und Dörfer übernommen hat, und zum anderen die YPG, die als bewaffnete Volksverteidigungseinheiten außerhalb der Städte agieren. Sie schützen die Bevölkerung bei einem Angriff von außen. Wie z.B. zuletzt in Serê Kaniyê. Die Verteidigung eines jeden Dorfes wird mit geeinten Kräften vorangebracht.
Wie beurteilen Sie die Freie Syrische Armee? Es wurde berichtet, dass es zwischen den kurdischen bewaffneten Kräften und der Freie Syrische Armee zu Auseinandersetzungen gekommen ist. Stimmt das?
Wir standen von Anfang an auf der Seite einer friedlichen Revolution in Syrien. Aber andere Kräfte, allen voran die Türkei, haben die bewaffneten Auseinandersetzungen geschürt. Aktuell erleben wir in Syrien einen Machtkampf und keine Revolution. Uns geht es um die Revolution. Aber nach dem Verständnis der anderen, wird es solange Krieg geben, bis eine der beiden Seiten nicht mehr existiert. Dies entspricht nicht unseren Vorstellungen.
Die Freie Syrische Armee stellt keine Einheit dar. In ihr gibt es verschiedene Strömungen. Einige ihrer Verantwortlichen sitzen in der Türkei, andere in Katar oder Saudi-Arabien. Hinzu kommt, dass es verschiedenste Gruppen gibt, die behaupten, Teil der Freien Syrischen Armee zu sein. Auch wenn der Westen es oft so darstellt, als handle es sich bei der Freien Syrischen Armee um eine Einheit, ist dies in Wirklichkeit nicht der Fall. In Aleppo denken und handeln sie anders als beispielsweise in Homs. In Aleppo haben die Gruppen der Freien Syrischen Armee sogar untereinander Widersprüche. Das ist auch ein Beweis dafür, dass in Syrien viele unterschiedliche Mächte ihre Finger mit im Spiel haben.
Es gibt anscheinend auch Gruppen, die vom Geheimdienst aufgebaut worden sind. Verantwortliche der Freien Syrischen Armee berichteten mir, dass es sich beispielsweise bei der Al Nusra-Front, die für die Angriffe in Serê Kaniyê verantwortlich war, um eine Gruppe handele, die mit dem Syrischen Regime zu tun habe. Zunächst hieß es, sie würden zur Freien Syrischen Armee gehören. Aber Sprecher der FSA versicherten uns, dass diese Gruppe keinerlei Verbindungen zur Freien Syrischen Armee habe und ihre Mitglieder Verräter und Provokateure seien. Wir können zumindest aus dem Gesagten festhalten, dass die FSA keine Einheit darstellen. Von Zeit zu Zeit bekämpfen sie sich auch untereinander.
Bei dem Angriff von Serê Kaniyê kamen die bewaffneten Gruppen von der türkischen Seite der Grenze. Sind sie vom syrischen Geheimdienst aufgebaut worden? Wir wissen es auch nicht. Aber ich wiederhole mich, wir wissen, dass sie keine Einheit darstellen und sich untereinander durchaus widersprechen. Wir wissen aber auch, dass es Araberinnen und Araber gibt, die sich, genau wie wir, selbst schützen wollen. Wir akzeptieren diese als Freie Syrische Armee. Und mit ihnen haben wir uns verständigen können. Wenn wir in ihre Gebiete gehen wollen, fragen wir nach ihrem Einverständnis und genauso tun sie es, wenn sie in unser Gebiet kommen. Den Rest der Gruppen akzeptieren wir nicht als Freie Syrische Armee.
Könnten sie näheres über die Gefechte in Serê Kaniyê berichten? Was genau hat sich dort zugetragen?
Serê Kaniyê ist ein sensibles Gebiet. Hier leben AraberInnen, KurdInnen und andere Minderheiten. In anderen Städten haben wir die Regimekräfte vertrieben und die Kontrolle erlangt. In Serê Kaniyê haben wir dies nicht getan. Weil es hier auch zu einem arabisch-kurdischen Konflikt kommen könnte. Deswegen sind wir vorsichtig. Die kurdischen Stadtteile sind unter unserer Kontrolle, hier gewährleisten wir die Sicherheit. Die anderen Gruppen sind in den arabischen Stadtteilen ein- und ausgegangen. Sie haben sich nicht in unsere Angelegenheiten eingemischt und wir uns nicht in ihre. Die Türkei hat versucht, dies in Aleppo durcheinander zu bringen und ist daran gescheitert. In Afrîn haben sie das in einigen strategisch wichtigen Dörfern versucht. Aber auch dort sind sie gescheitert und haben sich zurückgezogen. Die Türkei plant derzeit, in Serê Kaniyê zu intervenieren und von dort aus in Richtung Osten vorzudringen. Sie wollen die YPG-Kräfte an der Grenze vernichten, die Kurden dadurch ihrer Verteidigungsmöglichkeiten berauben und die dort ansässige Bevölkerung nach Südkurdistan vertreiben. Das war der Plan und der erste Schritt hierzu sollte in Serê Kaniyê getan werden, denn es ist der westlichste Ort des genannten Gebietes.
Am 8. November drangen bewaffnete salafistische Gruppen von der Türkei in Serê Kaniyê ein und haben zunächst die Kräfte des Regimes, die Polizeistation und das Geheimdienstzentrum angegriffen. Dabei sind dutzende von Menschen ums Leben gekommen. Wir haben die salafistische Gruppen von Anfang an davor gewarnt, nicht in die kurdischen Teile der Stadt zu kommen. Die Gruppen wurden zunächst vom Staat aus der Luft angegriffen. Als dies später aufhörte, fühlten sich die Mitglieder der Gruppen wohl in einer Art Siegesrausch. Sie dachten sich wohl: „Der Staat hat uns nicht aufhalten können. Glauben die Kurden etwa, dass sie es schaffen können?“ So haben sie angefangen, die KurdInnen zu provozieren. Am 19. November haben die salafistische Gruppen Abid Xelil den Volksratsvorsitzenden von Serê Kaniyê getötet. Dem waren einige Versuche vorausgegangen. So hatten sie beispielsweise versucht, in Dirbesiyê und Amude einzudringen, wurden aber von den YPG-Kräften aufgehalten. Auch in Serê Kaniyê sind sie auf heftigen Widerstand der YPG gestoßen. Daraufhin mussten die Gruppen sich erstmalig zurückziehen. Sie wollten sich mit uns verständigen und hofften auf eine Vereinbarung. Dafür hatten wir ihnen zwei Bedingungen gestellt: Zum Ersten sollten sie sich aus der Stadt zurückziehen und zum Zweiten sollte unter Beteiligung aller Volksgruppen der Stadt ein Volksrat gegründet werden, der die Leitung der Stadt übernehmen soll. Damit waren sie einverstanden. Als die salafistische Gruppen sich zurückziehen wollten, ließ dies die Türkei jedoch nicht zu und schloss ihre Grenzen. Deswegen mussten sie in den arabischen Stadtteilen bleiben. Der Staat hat sie daraufhin ein zweites Mal aus der Luft angegriffen und einige von ihnen sind umgekommen. Am 4. Dezember haben dieselben Gruppen dann einen erneuten Angriff auf unsere Kräfte gestartet. Es fing damit an, dass einer von ihnen auf ein YPG-Mitglied schoss und dabei verletzte. Die YPG hat darauf reagiert und bei den Gefechten sind eine Vielzahl von ihnen getötet worden. Dann behaupteten sie, dass derjenige, der auf das Mitglied der YPG geschossen hatte, ein Provokateur aus der Türkei gewesen sei. Aber sie denken auch weiterhin, dass wir mit dem Regime zusammenarbeiten würden. Als sie von der Luft aus angegriffen wurden, dachten sie, wir würden sie zeitgleich vom Boden aus angreifen, was natürlich nicht der Fall gewesen ist. Sie begreifen immer noch nicht, dass wir selbstständig und autonom handeln.
Worauf ist die Aggressionspolitik der Türkei, die sich in die inneren Angelegenheiten Syriens einmischt, zu begründen? Bildet die PYD eine Bedrohung für die Türkei?
Die Syrien-Politik der Türkei basiert auf ihrer anti-kurdischen Haltung. Seit Anfang 2000 intensivierten sich die Beziehungen im Rahmen einer anti-kurdischen Allianz. So lud Erdogan, der Assad noch vor Ausbruch der Aufstände als seinen Bruder bezeichnete, Assad uns seine Familie zum gemeinsamen Urlaub in die Türkei. Mit dem Ausbruch der Aufstände änderte die Türkei sowohl ihre Haltung, als auch ihre Rhetorik bezüglich des Assad-Regimes. Von ihr aus sind bewaffnete Auseinandersetzungen ausgehend. Zur PYD äußert sie sich seit Beginn der Aufstände feindlich. Mit dem Vorwurf wir seien ein Ableger der PKK diffamiert die Türkei uns in ihrem Inland und auf internationaler Ebene. Obwohl offensichtlich ist, dass keinerlei organischer Verbindung zwischen der PKK und der PYD bestehen. Auch gibt es keine Mitglieder der PKK auf syrischem Territorium. Trotzdem respektieren wir die Bemühungen der PKK im Zuge ihres Freiheitskampfes.
Da wir nicht beabsichtigen irgendjemanden von Syrien aus anzugreifen, bilden wir folglich auch keine Bedrohung für die Türkei. Uns geht es lediglich um die Rechte der KurdInnen in Syrien. Die Aggressionspolitik der Türkei rührt auf ihrer eigenen Politik und Interessen. Dabei wünschen wir uns gute Beziehungen zu all unseren Nachbarn, wie auch der Türkei.
Die Presse vermeldete Verhandlungen zwischen den KurdInnen und der Nationalen Syrischen Koalition? Wie verliefen die Verhandlungen? Wie sieht der aktuelle Stand aus?
An der Gründung der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte im vergangenen November in Doha partizipierten keine kurdischen Gruppen. Diese Koalitionsgefüge ist nicht mit dem Syrischen Nationalrat, der in der Türkei gegründet wurde, gleichzusetzen. Nachdem die Syrische Nationale Koalition von zahlreichen Staaten als legitimer Vertreter Syriens anerkannt wurde, wurde bestrebt, ebenfalls die KurdInnen mit in das neugegründete Gefüge einzubeziehen. Dafür wurde zunächst der Kontakt zum Kurdischen Nationalrat Syriens (ENKS), welcher zugleich Mitglied im Kurdischen Hohen Rat ist, gesucht. Jedoch erklärten die kurdischen VertreterInnen, dass durch den ENKS nicht alle KurdInnen repräsentiert werden, und trafen sich deshalb mit insgesamt sieben VertreterInnen des Kurdischen Hohen Rates mit der Syrischen Nationalen Koalition.
Unserer Meinung nach sind die ersten Gespräche positiv verlaufen und auch wenn nicht alle unsere Forderungen zu 100 Prozent erfüllt worden sind, wurden uns Versprechen erteilt. Darin heißt es, dass der stellvertretende Vorsitzende der Nationalen Koalition von den KurdInnen gestellt wird und die Rechte der KurdInnen in der Verfassung gesichert werden. Zudem wird sowohl die kurdische Identität, als auch die Kultur offiziell anerkannt. Schulbildung wird in kurdischer Sprache erteilt.
Über den Status der KurdInnen im künftigen Syrien wurde debattiert, ob er in Form einer Föderation oder der Demokratischen Autonomie sein soll. Meiner Vermutung nach wird der Demokratischen Autonomie zugestimmt werden. Die diesbezüglichen Details werden später noch konkretisiert werden. Der Name der Arabischen Republik Syrien soll ebenfalls geändert werden. Der neue Name soll Syrische Republik lauten. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) stellt zurzeit die Verteidigungskraft sämtlicher KurdInnen dar. Dies hat jeder so zu wissen und zu akzeptieren. Wenn die Verhandlungen positiv laufen wird die YPG sich nicht der Freien Syrischen Armee (FSA) unterordnen, jedoch in Koordination mit ihr zusammen agieren.
Jedoch ist hier anzufügen, dass wir uns inmitten einer Chaosphase befinden. Daher stützen sich die bisher erzielten Vereinbarungen nur auf bloße Versprechungen. Demnach sind sie nicht offiziell als bindend zu bewerten. Für die Errichtung des neuen Syriens bedarf es einer Übergangsphase in der eine Übergangsregierung gegründet wird. Nach dieser Übergangsphase wird es zu einem Regierungswechsel kommen. Verfassungskommissionen müssen gegründet werden, in denen die KurdInnen und die Koalition diese Punkte erneut debattieren werden. Über die Bestimmung des stellvertretenden Koalitionsvorsitzenden werden sowohl wir KurdInnen unter uns, als auch gemeinsam mit den Koalitionsvertretern beraten.
Seit den Gesprächen zwischen der Nationalen Koalition und den KurdInnen ist eine noch aggressivere Haltung der Türke in der Syrienfrage zu beobachten? Wie ist dies ihrer Meinung nach zu erklären? Und welche sind als praktische Konsequenzen aufzuzeigen?
Die Türkei akzeptiert den Kurdischen Hohen Rat nicht. Daher wird die Türkei auch etwas dagegen haben, dass wir in der Nationalen Koalition vertreten sein werden. Jedoch handelt es sich dabei um ein alleiniges Problem der Türkei, ob sie es akzeptieren werden oder nicht. Entweder werden sämtliche KurdInnen akzeptiert, oder die KurdInnen werden, auch wenn ein Teil von ihnen von der Nationalen Koalition akzeptiert wird, nicht daran teilnehmen. Und selbst wenn, handelt es sich dabei um keine Angelegenheit der Türkei. Diese sollte statt sich in die inneren Angelegenheiten ihrer Nachbarländer einzumischen, lieber etwas bezüglich der eigenen Demokratisierung unternehmen.
Zuletzt äußerte der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu: „Falls das freie Parlament den KurdInnen eine Föderation zusprechen werden, werden wir das akzeptieren.“ Zunächst liegt es nicht in der Hand von Davutoglu zu entscheiden, ob ein Parlament als frei zu gelten hat oder nicht. Dieses haben die Völker alleine zu entscheiden. Davutoglu sollte seine Grenze erkennen. Ähnliche Worte haben wir schon im Vorfeld von einigen Oppositionellen zu hören bekommen. Dem ist zu folgern, dass solcherlei Festsetzungen von einem bestimmten Zentrum festgelegt werden. Zudem sollte Davutoglu erst einmal lernen, respektvoll mit seinen eigenen Parlamentariern umzugehen. Personen, die ihrem eigenen Parlament nicht respektvoll gegenübertreten, von denen ist auch nicht auszugehen, dass sie den Parlamenten anderer Länder einen angemessen Respekt zollen.
Als praktische Konsequenz kann zu einem die Zusammenkunft der militärischen Gruppen aus Syrien in der türkischen Stadt Antalya in Dezember 2012 aufgeführt werden. Dort distanzierten sich die anderen Gruppen von den der Türkei nahestehenden islamischen Gruppierungen. Dies hat natürlich die Türkei gestört. Das türkische Regime ist zu allem fähig. Es wird versuchen Syrien in ein noch größeres Chaos zu versetzen. Durch die Unterstützung der Türkei konnten einige Organisationen nach Syrien gelangen. Eine davon ist die Al-Nusra Front, deren Mitglieder aus Tunesien, Libyen und anderen Ländern stammen.
Welche Pläne haben Sie für Syriens Zukunft?
Als PYD repräsentieren wir bis zu 60 Prozent der mehr als drei Millionen syrischen Kurden. Und wir möchten in Zukunft ein einheitliches, demokratisches und pluralistisches Syrien, in dem alle Nationen wie z.B. Kurden, Araber, Armenier, Aramäern, Tscherkessen, Turkmenen und alle andere ethnische und religiöse Minderheiten gemeinsam in Freiheit und Frieden leben – ohne das Baath Regime und ohne Sektierertum. Bei einem dezentralen und demokratischen Syrien sollen Kurden und die andere Minderheiten Anspruch auf politische Rechte, ökonomische Rechte, Selbstverteidigungsrechte gewährleistet werden.
Dennoch sollten die Beziehungen zwischen den sich autonom organisierten Minderheiten, die sich selbst verwalten und der Zentralregierung verfassungsrechtlich formuliert und verankert werden. Dieses Lösungsmodell wird eine Bereicherung für das politische und soziale Zusammenleben der Völker sein. Im Konkreten kann zusammengefasst werden, dass in diesem Modell sich der Staat nicht in der Sphären der Politik, Kultur, Sprache, Ökonomie und Ökologie einmischen wird. Ein demokratisches Rätemodell, das nach basisdemokratischem Vorbild errichtet wird, kann als Modell für das gesamte Syrien verstanden werden. Somit würde ein ideales gemeinsames System der verschieden Bevölkerungsgruppen und religiösen Gruppierungen in der Region ermöglicht werden, ohne dass Ausgrenzungen oder Unterdrückung bestehend sind. Dieses Modell könnte sich dann von da aus im gesamten Nahen und Mittleren Osten ausdehnen.
***
Forderungen Aus dem Parteiprogramm der PYD:
• Lösung der kurdischen Frage in Syrien auf Basis der Demokratisierung und des Rechts auf Selbstbestimmung
• Offizielle Anerkennung der nationalen Existenz der Kurden in der syrischen Verfassung
• Garantie der Rückgabe der syrischen Staatsbürgerschaft an alle Personen, die ihrer seit der 1961er-Volkszählung beraubt wurden, und der Rückgabe enteigneter Ländereien an die ursprünglichen Besitzer
• Garantie der Freiheit für politische Parteien, der Meinungs- und Pressefreiheit
• Freilassung aller politischen Gefangenen und Entschädigung für erfahrenes Leid
• Ermöglichung des Erlernens der kurdischen Sprache in Schulen für kurdische Kinder
• Organisierung der Bevölkerung in Westkurdistan auf der Basis einer demokratischen Konföderation
• Stärkung der Geschwisterlichkeit der Bevölkerung und ethnischer Gruppen im Rahmen einer freiheitlichen Einheit in Syrien
• Unterstützung des demokratischen Befreiungskampfes in allen Teilen Kurdistans
• Lösung der Frage nach nationaler Einheit nach dem Prinzip einer demokratischen Konföderation, ohne Verletzung der politischen Grenzen
• Schaffung einer ökologischen, demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft und Hinarbeiten auf eine demokratische Mittelostkonföderation
Aus der Erklärung des im Dezember 2011 gegründeten und über 300 Delegierte umfassenden interkonfessionellen und interethnischen Volksrats in Westkurdistan, in dem die PYD vertreten ist, gehen die Bestrebungen hervor, ein Nationalkonzept zu entwickeln, das auf demokratischen Prinzipen für eine pluralistische und vielfältige Gesellschaft in Syrien fußt, außerdem eine Intervention aus dem Ausland auszuschließen, „Gewalt und Sektierertum“ zu vermeiden und einen drohenden Bürgerkrieg abzuwenden versucht.
****
Zur Person:
Salih Muslim, kam 1951 in Kobani zur Welt und ist seit 2010 der Co-Vorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) in Syrien. In den 70er Jahren studierte er Chemietechnik an der Technischen Universität Istanbul und schloss 1977 sein Studium ab. Nach jahrelangem politischem Engagement in kurdischen Strukturen war er 2003 bei der Gründung von PYD aktiv. Neben seiner Rolle als Co-Vorsitzender der PYD ist er auch Mitglied des Kurdischen Hohen Rats und stellvertretender Koordinator des Nationalen Koordinationskomitees für einen Demokratischen Wandel in Syrien.