Im Kampf gegen patriarchale Strukturen und für die Selbstverwaltung der Gesellschaft
Eine Bewertung von Rosa Zilan
In dem Bewusstsein, dass es ohne die Befreiung der Frau keine Befreiung der Gesellschaft geben kann, und gesellschaftliche Umwälzungen nicht zwangsläufig mehr Frauenrechte mit sich bringen, haben die kurdischen Frauen beschlossen, sich eigenständig zu organisieren: Gegen das syrische Regime, das ihre kurdische Identität unterdrückt, und gegen die patriarchalen Strukturen der kurdischen Gesellschaft. Die Zusammenarbeit und Vernetzung mit der schwach ausgeprägten Frauenbewegung in Syrien sowie in der gesamten Region ist von besonderer Bedeutung. Trotz der ideologischen Differenzen betrachten die kurdischen Frauen die Solidarität mit den anderen Frauenorganisationen für die Zukunft der Frauenbewegung als unentbehrlich.
Frauenorganisation Yekitîya Star
Bereits 2005 wurde die Frauenorganisation „Rojavayê Kurdistanê Yekitîya Star“ (Westkurdischer Verband Star) gegründet. Ihre Aktivistinnen waren massiven Repressionen wie Verhaftung und Folter durch das Baath-Regime ausgesetzt. Trotz schwerster Bedingungen haben sie mit ihrer Arbeit die Voraussetzungen für die aktuellen Fortschritte geschaffen, wobei sie auf die 30-jährige Erfahrung der in der kurdischen Freiheitsbewegung organisierten Frauen zurückgreifen konnten.
Ziel von Yekitîya Star ist das friedliche Zusammenleben aller Ethnien und Religionsgruppen in einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft. Als ihre Hauptaufgabe betrachten die Mitglieder von Yekitîya Star die Organisierung von Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Alle Frauen, die sich in Westkurdistan in sozialen, politischen oder militärischen Bereichen engagieren, sind stets auch Mitglieder der Yekitiya Star. Sie haben einen großen Beitrag für die Einheit der KurdInnen geleistet und auch gemeinsame Plattformen mit arabischen, assyrischen und yezidischen Frauen und Kontakte zu anderen Frauenorganisationen aufgebaut.
Fraueneinrichtungen
In den befreiten Städten Westkurdistan wurden Frauenkomitees, Frauenzentren und eigene Bildungseinrichtungen („Navenda Zanist û Perwerdeyê Jinê“) ins Leben gerufen, um eine aktive Beteiligung von Frauen an der Umgestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen. Konkret fungieren diese Einrichtungen als Anlaufstelle für Frauen, die sich dort über ihre familiären und sozialen Probleme austauschen und gemeinsame Lösungsansätze entwickeln können. Die wöchentlichen Bildungsangebote reichen von Themen wie Demokratische Autonomie, Selbstverteidigung, Kultur, Ökologie, die Geschichte der Frau, Sexismus, die Rechte der Frau, bis hin zu gesundheitlichen Themen wie Verhütung oder Schwangerschaft. Frauen haben auch bei der Eröffnung von kurdischsprachigen Schulen eine führende Rolle gespielt.
An vielen Orten wurden Frauenhäuser eröffnet, um Frauen beraten, aber auch konkret unter-stützen zu können, beispielsweise durch den Schutz vor familiärer Gewalt oder sogenannten „Ehrenmorden“. Dutzende von Frauen konnten so bereits vor dem Tod bewahrt werden.
Frauenräte
Die Frauenräte sind das verbindende und beschlussfassende Gremium aller Frauen. In allen Städten Westkurdistans und in den syrischen Städten, in denen viele KurdInnen leben, wurden Frauenräte mit 150 bis 250 Mitgliedern gewählt, um die politischen Interessen von Frauen zu vertreten und den Aufbau einer demokratisch-ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft voranzutreiben.
Zusammenarbeit mit anderen Selbstverwaltungsstrukturen
Ein Frauenrat entsendet Vertreterinnen in den allgemeinen Volksrat, um dort seine Ideen, Wünsche und Forderungen einzubringen. Die Aktivistinnen von Yekitîya Star haben durchgesetzt, dass es sowohl in der größten westkurdischen Partei, der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), als auch in anderen gemischtgeschlechtlichen Strukturen auf allen Ebenen eine Doppelspitze, bestehend aus einer Frau und einem Mann, gibt. In allen gemischten Strukturen, wie beispielsweise den Volksräten, gibt es eine Geschlechterquote von 40 Prozent, das heißt, sowohl Frauen als auch Männer müssen zu mindestens 40 Prozent vertreten sein. Auch wenn diese Quote noch nicht überall erreicht werden konnte – im Kurdischen Hohen Rat sind von zehn Mitgliedern nur zwei Frauen – hat das gestärkte Selbstbewusstsein der Frauen bereits jetzt Auswirkungen auf deren Alltag und auf das gesellschaftliche Bewusstsein.
Frauen beteiligen sich auch an der militärischen Selbstverteidigung der Bevölkerung im Rahmen der YPG (Yekinîyên Parestina Gel, Volksverteidigungs).
Errungenschaften der westkurdischen Frauenbewegung
Neben dem gestärkten Selbstbewusstsein der Frauen, ihrer führenden Rolle beim Aufbau der Demokratischen Autonomie, kann die Frauenbewegung aber auch andere Erfolge vorweisen, die den Verlauf und die Zukunft der Revolution entscheidend beeinflussen werden.
So wurden u.a. folgende von Yekitîya Star auf einer der letzten Konferenzen des Volksrates in Westkurdistan eingebrachten Beschlüsse durch die Vollversammlung angenommen:
Frauenarbeit [im Sinne der Arbeit für die Organisierung und Selbstbestimmung von Frauen] ist nicht nur eine Angelegenheit von Frauen, sondern auch der Männer. Sie können die Frauenarbeit beispielsweise unterstützen, indem sie sich mit ihrer Rolle auseinandersetzen und ihre patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen überwinden.
Morde »im Namen der Ehre« werden als Verbrechen gegen Frauen und die Gesellschaft verurteilt und bestraft.
Patriarchale Praktiken wie die Verheiratung in jungem Alter, arrangierte Ehen bei der Geburt (Berdel), Zwangsverheiratung usw. werden nicht akzeptiert und sie werden geächtet.
Verheiratete Männer, die eine weitere Frau heiraten, werden aus allen Organisationen und Gremien ausgeschlossen.
Dass diese Beschlüsse auf der Generalversammlung des Volkskongresses angenommen und verabschiedet wurden, ist ein großer Erfolg. Im Gegensatz zu den Ländern des sogenannten „arabischen Frühlings“, in denen der Einfluss der Frauen wieder zurückgedrängt wurde und ein Erstarken des politischen Islams zur Einführung frauenfeindlicher Gesetze führte, zeigt sich hier, dass die Forderungen der Frauen gesellschaftlich akzeptiert sind und die Selbstbestimmung, Teilnahme und Vertretung von Frauen im Prozess des gesellschaftlichen Neuaufbaus in Westkurdistan garantiert werden sollen.
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„Als in Westkurdistan die Bevölkerung die Kontrolle an sich gerissen hat, waren eine Kreise in der Öffentlichkeit überrascht darüber, dass die Frauen so an vorderster Front in diesem Prozess mitwirken. Die Rolle der Frau ist ihrem jahrelangen Kampf und ihrer Organisierung zu verdanken. Die kurdische Frau bricht mit einer Vielzahl an festgefahrener und überholter Strukturen in der Gesellschaft. Durch sie wird die Entwicklung der Gesellschaft vorangetrieben. Die Entwicklungen in der Region werden oftmals als ‚Frühling der Völker‘ bezeichnet. Uns geht es darum, dass dies auch zum ‚Frühling der Frauen‘ wird.“
Diese bedeutenden Worte stammen von Ilham Ahmed. Die 39 jährige Ahmed stammt aus der westkurdischen Stadt Afrin. Heute steht sie symbolisch für das Selbstbewusstsein der Frauen in der gesamten Region. Sie ist kurdische Politikerin, Mitglied des Kurdischen Hohen Rates und vertritt dort die Frauen und den Volksrat.
Entnommen aus der 2. Ausgabe der Civaka Azad Infoblätter / Januar 2013