Der (Friedens-)Prozess befindet sich an einer kritischen Schwelle

ismet kemIsmet Kem, Mitglied des Kurdistan Nationalkongresses KNK, 28.08.2013

Der Mittlere Osten ist regelrecht ein Garten der Völker, Glaubensgemeinschaften, Sprachen und Kulturen. Die kurdische Farbe, Sprache und Kultur, die seit Tausenden von Jahren ein Teil dieses regionalen Mosaiks darstellt, ist – vor allem im letzten Jahrhundert – ständigen Angriffen und Vernichtungsversuchen ausgesetzt. Diese unmenschlichen Angriffe halten bis heute an. Diese Vernichtungsangriffe haben nicht nur dazu geführt, dass allein das kurdische Volk großen Schaden erfuhr und verarmte, sondern auch die gesamte Region und die Menschlichkeit. Nicht vergessen werden darf, dass das gegenwärtige System des Chaos und Krieges in der Region auf der Grundlage der Verleugnung und Teilung des kurdischen Volkes errichtet wurde.

Wir durchleben momentan historische Zeiten, in der sich sowohl Kurdistan als auch der Mittlere Osten verändern.

Die friedlich-politische Lösung der kurdischen Frage wird, vor dem Hintergrund seines Charakters und Umfangs sowie seinem regionalen und internationalen Ausmaß, zu Veränderungen zu Gunsten der Völker führen. Die seit Ende letzten Jahres begonnene Dialogphase ist auf die Initiative des seit 14 Jahren unter schweren Isolationshaftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan zurückzuführen.

Der Friedens- und Lösungsprozess, den er vor ca. fünfeinhalb Monaten zum kurdischen Neujahrsfest am 21 März vor Millionen von Menschen der gesamten Welt deklariert hat, lädt den Konfliktparteien große Verantwortung und Aufgaben auf.

Die erste Phase wurde, trotzt Sabotageversuche des türkischen Staates, durch große Opferbereitschaft der kurdischen Seite beendet. In dieser Phase wurden die festgesetzten türkischen Soldaten, Dorfschützer und Beamte freigelassen, ein Waffenstillstand ausgerufen und mit dem Abzug der Guerillaeinheiten begonnen. Dem sollten als Zeichen des guten Willens und als vertrauensbildende Maßnahmen Schritte wie Gesetzesänderungen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch die AKP-Regierung folgen. Wenn die elementaren Rechte des kurdischen Volkes in der Verfassung verankert werden, würde die dritte und letzte Phase welches als die Normalisierungsphase bezeichnet wurde, beginnen. Obwohl die erste Phase am 1. Juni 2013 zu Ende gegangen ist, hat die AKP-Regierung bislang keine Schritte in Richtung Lösung unternommen. Im Gegenteil: Ihre Politikpraxis widerspricht vollkommen dem Geist der Friedensphase.

Die Militärangriffe und -aktivitäten wurden nie ganz beendet, mit dem Bau von neuen Polizeistationen und Kasernen sowie neue Staudämme in den kurdischen Gebieten wurde begonnen, die Zahl der Dorfschützer wurde erhöht, neue eingestellt, die Festnahmen und Verhaftungen wurden fortgesetzt, demokratisch-friedliche Kundgebungen wurden verhindert, oder wie in Licê führte der staatliche Angriff zum Tod eines Kurden, das Verfahren zum Massaker von Roboskî wurde eingestellt, zur Aufklärung des dreifachen politischen Mord in Paris wurde nicht beigetragen, die politischen Gefangenen der sogenannten KCK-Operationen, unter denen sich Abgeordnete und ein Vielzahl von schwer Erkrankten befinden, wurden nicht freigelassen, die Forderungen nach muttersprachlichem Unterricht und die Senkung der 10%-Wahlhürde sowie die Forderung nach einem Generalamnestie, welches auch in den Forderungskatalog der Berichten der Waisman-Kommission ganz oben standen, wurden klar abgelehnt.

Der Schließung kurdischer Fernsehkanäle in Europa wurde mit Freude applaudiert, die Pressefreiheit wurde noch weiter eingeschränkt und oppositionelle Stimmen zum Schweigen gebracht, die Bandengruppen, die zu Al-Kaida Verbindungen haben, wurden gegen das kurdische Volk in Rojava organisiert und unterstützt, die Drohrhetorik von „Terroristen“ und „Unsere Sicherheitskräfte werden das nötige Unternehmen“ wurde in dieser Zeit nicht aufgegeben. Sie hat ihren Unmut gegen den für den 15. September vorgesehenen Kurdischen Nationalkongress nicht verheimlicht. Während sie den Militärputsch in Ägypten bei jeder Gelegenheit kritisiert und angreift, hat sie keine einzige demokratische Veränderung an den bestehenden Gesetzen vorgenommen und statt einer Verfassungserneuerung wird an der alten Putschverfassung festgehalten.

In dieser Zeit wurden die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan, die dem Geist der Friedensphase widersprechen, außer der Verlegung in eine andere Zelle, nicht geändert. Mehr als zwei Jahre haben seine Anwälte kein Zugang zu ihrem Mandant, die Familienbesuche werden willkürlich verhindert, die BDP-Delegation die ihn besuchen kann, ist ebenfalls willkürlichen Interventionen ausgesetzt – die AKP entscheidet wer und wann auf die Insel gehen darf.

Während vom kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan der größte Beitrag abverlangt wird, wird er weiterhin schweren Haftbedingungen ausgesetzt. Dies allein ist ein ausreichender Maßstab darüber, was die AKP unter einer demokratischen Lösung versteht. Das wiederum führt unter dem kurdischen Volk und allen Menschen, die sich für Frieden und Demokratie einsetzen, zu ernsthaften Bedenken. Am 23. August schrieb der Journalist Daniel Dombey in Financial Times folgendes: „Sogar das Sicherheitspersonal fragt sich, ob Erdogan ernsthaft das Problem lösen möchte oder ob er auf diese Weise versucht vor den Wahlen Zeit zu gewinnen.“ Der Journalist zitiert anschließend einen Dorfschützer aus Çelê (Cukurca) „Die Türkei hat keinerlei Schritte unternommen. Die PKK hat sich zurückgezogen und ihre militärische Aktivitäten eingestellt, aber die Türkei versucht auf Zeit zu spielen.“

Auf dem letzten Kongress des Kongra-Gels hat die kurdische Bewegung seine Entschlossenheit, das Problem mittels Dialog lösenzuwollen, auf höchster Ebene erneut bestätigt. Des Weiteren hat Abdullah Öcalan die Weiterentwicklung der Friedensphase und die Gründung von acht unterschiedlichen Kommissionen vorgeschlagen. Auch dieser Vorschlag blieb bislang unbeantwortet. Dieser Widerstand der AKP-Regierung gefährdet den weiteren Verlauf der Friedensphase. Öcalan, der die regionalen und internationalen Entwicklungen nicht aus den Augen verliert, verweist die AKP auf zwei wichtige Fristen, den 1. September und den 15. Oktober.

Diese beiden Daten stellen eine Frist dar, in der die Regierung ihre Vorhaben bzw. Projekte zu Gesetzesänderungen und einer neuer Verfassung sowie anderen konkreten Schritte bekannt machen sollte und mit dem umsetzen beginnen sollte. Es wird erwartet, dass die AKP-Regierung bis zum 1. September öffentlich erklärt, mit welchen konkreten Schritten sie diese Phase entwickeln möchte. Dann gibt es noch eine bestimmte Zeit, in der dieses Projekt diskutiert und vertieft werden kann, was dann nach der Eröffnung des türkischen Parlaments am 15. Oktober konkret im Parlament umgesetzt werden kann.

Sollte die AKP-Regierung, die sich auf einem Scheideweg befindet, diese genannten Fristen unbeachtet lassen und weiterhin an der bisherigen Politik festhalten, erwartet sie noch schwierige Zeiten. Im Hinblick auf die Entwicklungen in der Region im Allgemeinen und im speziellen, die sich immer weiter anheizende politische Atmosphäre in Rojava, ist davon auszugehen, dass die kurdische Seite dieser verantwortungslosen Haltung der Regierung, welches zu einer größeren und noch blutigeren Krieg führen wird, nicht akzeptieren kann. Aufgrund ihres Anspruches, sich für eine gleichberechtigte, freie und demokratische Einheit der Völker in Kurdistan, in der Türkei und des Mittleren Osten einzusetzen, wird sie diesen Zustand nicht akzeptieren können. Das sollte nicht als eine Drohung begriffen werden. Aber das Ende der Verhandlungen wird zwangsläufig den Weg für einen blutigen Krieg ebnen. Die Verantwortung hierfür ist groß. Daher ist es wichtig, dies im Vorfeld zu verhindern. Das ist die Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte sowie im Inland als auch im Ausland, die sich für Freiheit, Frieden und Demokratie einsetzen. Nur so kann sich die Regierung in Richtung einer Lösung bewegen und die Gefahr abgewandt werden. Die kurdische Bewegung hat öffentlich erklärt, dass sie diese Haltung der Regierung mit einem umfassenden und wirksamen demokratischen politischen Kampf beantworten wird. Wie der Kampf des kurdischen Volkes die militärischen und politischen Operationen der AKP ins Leere laufen ließ und die AKP zum Dialog mit Öcalan gezwungen hat, so ist auch heute der Garant für die Weiterführung der Friedensphase der Kampf der Völker für Demokratie und Frieden.

Die Hand der Völker, die sich von Gezi nach Licê, von Licê nach Gezi in der ersten Etappe der Friedensphase ausgestreckt hat, war eine wichtige Chance, damit der Kampf der Völker als ein gemeinsamer Kampf voranschreitet. Mit dem Wissen, dass die Realisierung einer friedlichen Lösung in Kurdistan gleichbedeutend ist mit der Etablierung einer pluralistischen, freiheitlichen und gleichberechtigen Demokratie für die gesamte Türkei und der Region, ist der gemeinsame Kampf zu entwickeln und zu verstärken. Vor diesem Hintergrund sollten alle demokratischen Kräfte, die sich für Frieden und Freiheiten einsetzen, zum Antikriegstag am 1. September auf den Straßen ihre Kräfte bündeln. Die AKP, die bei jeder Gelegenheit auf Ägypten zeigt und alle demokratischen Reaktionen und Kritiken gegen sich als „Putschversuch“ darzustellen versucht, scheut am meistens den gemeinsamen Kampf der Völker. Denn nur so ein Kampf wird den Weg für einen wahren Frieden, Freiheit und Demokratie ebnen.

Gleichzeitig ist es wichtig, dass die europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft mit samt ihren Institutionen, die bei der Entstehung und Vertiefung der kurdischen Fragen eine große Rolle spielen, sowie alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte weltweit, einen positiven Beitrag zur Friedensphase leisten, damit die kritische Schwelle zu Gunsten von Frieden und Demokratie überwunden werden kann.

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