Lösung bedarf türkischer Road Map

cemil-bayikCemil Bayik: Wenn die Regierung Erdogan bis zum 1. September keine Schritte getan hat, ist sie für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich
Martin Dolzer, Journalist, Südkurdistan, August 2013 

Nach der historischen Erklärung Abdullah Öcalans auf dem Newroz-Fest in Amed im März dieses Jahres wurde von Seiten der kurdischen Freiheitsbewegung weitere Schritte hin zur Beilegung eines über 30 Jahre andauernden bewaffneten Konflikts getätigt. So wurde ein u.a. ein Waffenstillstand erklärt und mit dem Abzug der Guerilla vom türkischen Territorium begonnen. Der Kovorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayik, erklärt aus Sicht der KCK den momentan ins Stocken geraten Prozess zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung.

Im folgenden Auszüge eines Gesprächs mit Cemil Bayik:

Bis zum ersten einseitigen Waffenstillstand 1993 hatten wir eine andere Strategie als in den folgenden Jahren. Insgesamt änderte sich die grundlegende Strategie der kurdischen Befreiungsbewegung mehrfach, jeweils orientiert an der aktuellen historischen Situation.

Bis 1993 lag unser Schwerpunkt darauf zu thematisieren, dass es überhaupt eine kurdische Frage gibt, und die kurdische Identität neu zu entwickeln. Unser Ziel war zudem die Anerkennung der Kurden als eigenständige Bevölkerungsgruppe, deren Existenz und Identität nicht mehr verleugnet werden kann.

Nach der erfolgreichen Umsetzung dieser Ziele beschlossen wir einen Strategiewandel und gingen zur legitimen Selbstverteidigung über. Weil niemand die kurdische Frage als notwendigerweise zu lösendes Problem anerkennen wollte, war es möglich, dass in der Türkei, im Iran, in Syrien und im Irak eine vielfältige Assimilations-, Vernichtungs- und Verleugnungspolitik gegen die Kurden angewendet wurde. In diesen Staaten, in denen der überwiegende Teil der Kurden lebt, wurde jeweils auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Intensität versucht, die kurdische Bevölkerung zu unterdrücken, zu vertreiben und zu vernichten. Wir haben diese Art der Politik nicht akzeptiert und durch unser Handeln und unsere Politik deutlich gemacht, dass wir uns nicht vernichten lassen und in Freiheit leben wollen.

Wir haben diese Auseinandersetzung mit eigenen Ressourcen, aus eigener Kraft und in der von uns beschlossenen Art und Weise geführt. In diesem Rahmen entwickelten wir eine Kultur, ethnische Werte und eine Lebensweise, die ermöglichten, unter allen gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfteverhältnissen und Schwierigkeiten für Selbstbestimmung, Freiheit und die Würde der Menschen zu kämpfen. Das Motto „Widerstand ist Freiheit, Freiheit ist Leben und Leben bedeutet Unsterblichkeit“ bringt diese Vorgehensweise zum Ausdruck.

Auf der Suche nach einer friedlichen Lösung

Auf diese Weise hatten wir unsere Strategie entwickelt und dadurch die erste Phase der Revolution zum Erfolg geführt. Das Ziel war, in der kurdischen Bevölkerung ein Bewusstsein für die eigene Identität zu entwickeln und somit die eigene Kultur neu zu erfinden. Um dem äußeren Druck und den Angriffen der hegemonialen Akteure und Staaten standzuhalten und um zu zeigen, dass es die Kurden gibt, hatten wir keine andere Möglichkeit, als die Strategie der legitimen Selbstverteidigung zu entwickeln und anzuwenden.

Nach dieser ersten Phase änderten wir unsere Strategie. Die Essenz davon war die Analyse, dass durch den bewaffneten Kampf viele Probleme gelöst worden waren, jetzt aber eine Zeit der Suche nach einer friedlichen Lösung notwendig war. Der bewaffnete Kampf hatte bewirkt, dass die kurdische Frage nicht mehr verleugnet werden konnte.

1993 erklärten wir den ersten einseitigen Waffenstillstand. Von 1993 bis Newroz 2013 folgten noch mehrere einseitige Waffenstillstände und wir entwickelten und praktizierten verschiedene Methoden, um die kurdische Frage auf politischem Wege zu lösen. Auf der Grundlage der Überzeugung, dass unser Kampf um Befreiung richtig und wahr ist und unsere Ideologie konsistent, glaubten wir auch daran, die kurdische Frage auf demokratische Weise lösen zu können.

Es war nicht unsere Schwäche oder ein Verlust an Kampfkraft, warum wir auf einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage bestanden haben und bestehen, sondern eine notwendige Folge unserer konsistenten politischen Linie und das Ziel, unbedingt eine friedliche Lösung zu finden.

Die Reaktion des türkischen Staates

Der türkische Staat hat diese Vorgehensweise als Schwäche interpretiert und versucht, unsere Bewegung durch Angriffe auf physischer, juristischer, politischer und militärischer Ebene zu vernichten. Die Regierung wollte in diesem Zusammenhang von ihren weltweiten Beziehungen zur NATO, den europäischen Regierungen sowie ihrer Verflechtung mit internationalen Strukturen und islamischen Organisationen profitieren, um unsere Bewegung zu vertreiben und zu vernichten – und hoffte, damit Erfolg zu haben. Die Herrschenden kalkulierten, durch das Nutzen der Kontakte und die folgende Unterstützung wäre es möglich, unsere Bewegung endgültig zu vernichten. Dann hätte keine Notwendigkeit zu einer friedlichen Lösung mehr bestanden.

Von 1993 bis 2013 wechselten aufgrund dieser verheerenden Herangehensweise häufiger Phasen mit Waffenstillständen oder militärischen Auseinandersetzungen. Im Zeitraum vor 2013 waren wir in den Jahren 2011 und 2012 mit intensivierten Militäroperationen sowie juristischen und politischen Auseinandersetzungen mit der türkischen Regierung konfrontiert.
Weltweit und auch in der Region des Mittleren Ostens sind die Gesellschaften und die Beziehungen der Staaten und Akteure untereinander momentan in einem dynamischen Wandel begriffen. In diesem Rahmen kommt es zu ausgeprägten Verteilungskämpfen. Aufgrund unseres Widerstands und Kampfes für eine Demokratisierung und aufgrund der Veränderungen in der Region hat sich die gesamte Atmosphäre im Mittleren Osten gewandelt. Abdullah Öcalan hat diese Situation analysiert und überlegt, welche Schritte notwendig sind, um als Bewegung die kurdische Frage auf friedliche Weise zu lösen.

Zu der Zeit zuvor hatten wir, wie beschrieben, schon mehrere einseitige Waffenstillstände erklärt. Aber niemand außer der PKK glaubte an die Möglichkeit, dass die kurdische Frage auf friedliche Art und Weise gelöst werden könne. Doch jetzt haben sich die Umstände geändert. Abdullah Öcalan hat die Veränderungen in der Türkei, in der Region und weltweit analysiert und gesehen, dass es mittlerweile sowohl regional als auch weltweit politische Kreise, Akteure und Minderheiten gibt, die eine friedliche Lösung der kurdischen Frage anstreben oder befürworten. Deshalb hat er im Vorfeld und zum Newroz-Fest 2013 den derzeitigen Friedensprozess initiiert.

Ich möchte gern an einem Beispiel besser verständlich machen, auf der Grundlage welcher historischer Erfahrungen dieser Prozess begonnen wurde. 1996 zeigte Premierminister Necmettin Erbakan den Ansatz zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage. Gleichzeitig war er besorgt deswegen, da sein Vorgänger Turgut Özal höchstwahrscheinlich aufgrund der Tatsache ermordet worden war, dass er öffentlich die Notwendigkeit eines Dialogs mit der PKK zur Stabilisierung der Gesellschaft thematisiert hatte.

1996 diskutierten wir genau diese Frage mit Abdullah Öcalan. Er thematisierte, dass es unsere Verantwortung sei, Erbakan zu ermutigen – oder ihn durch politischen Druck dazu zu bringen –, Schritte in Richtung Frieden zu unternehmen. Er skizzierte, dass er es auf jeden Fall für notwendig halte, dass wir die ersten Schritte unternehmen, um eine friedliche Lösung zu ermöglichen.

In dieser Zeit diskutierten wir auch einen möglichen Rückzug der Guerilla aus Nordkurdistan [die kurdischen Provinzen der Türkei] nach Südkurdistan [die kurdische Autonomieregion im Irak], um Gefechte und Provokationen zu vermeiden und Erbakan zu Schritten in Richtung einer friedlichen Lösung zu ermutigen. Wir standen in direktem Kontakt mit ihm und wechselten drei Mal ausführliche Briefe. Die darin diskutierten Schritte wurden jedoch niemals umgesetzt. Es blieb lediglich bei einer begonnenen Diskussion. Die PKK konnte den Rückzug der Guerilla aus zwei Gründen nicht umsetzen. Am 6. Mai 1996 versuchten „unbekannte Täter“, Abdullah Öcalan mit einem Bombenanschlag zu töten. Zudem wurde Ministerpräsident Erbakan politisch zunehmend unter Druck gesetzt. Die Oligarchie führte einen kalten Putsch durch. Viele Akteure in der Türkei und im Mittleren Osten hatten zu dieser Zeit nicht das Ziel und keinen Ansatz, die kurdische Frage friedlich zu lösen. Sie profitierten viel eher von der Fortsetzung der politischen und militärischen Auseinandersetzung und wirkten deshalb dafür, dass der Krieg weitergeht.

Trotz dieser Umstände, Intrigen und negativen Herangehensweisen bestand Abdullah Öcalan auf einer friedlichen Lösung. Die PKK erklärte 1998 erneut einen einseitigen Waffenstillstand. Darüber hinaus veränderten wir unsere Methoden, um die Regierung von der Notwendigkeit eines friedlichen Miteinanders zu überzeugen. Ich mache nun einen etwas größeren Sprung in die heutige Zeit, ohne die Entwicklungen zwischen 1998 und 2012 genauer zu beschreiben.

Die kurdische Road Map für den Frieden

Um die friedliche Lösung der kurdischen Frage weiter voranzutreiben, machte Abdullah Öcalan im Bewusstsein der Auseinandersetzungen der letzten zwanzig Jahre in der Zeit des Newroz-Festes 2013 den Schritt zur Initiative für den aktuellen Friedensprozess. In seiner in Amed (Diyarbakir) verlesenen historischen Rede erklärte er in einem Manifest die Strategie für einen demokratischen und friedlichen Wandel. Auf der Basis dieses Manifestes, dieser Road Map für den Frieden, sollte die erste Phase der Konkretisierung bis zum 1. Juni 2013 umgesetzt werden. Die PKK setzte die von ihr erwarteten Schritte konsequent um. Die zweite Phase soll zwischen dem 1. Juni und November 2013 stattfinden, dann soll die dritte Phase in die Praxis beginnen.

In der ersten Phase bis zum 1. Juni 2013 hat die PKK zahlreiche einseitige Schritte unternommen. Nach der historischen Newroz-Rede Abdullah Öcalans haben wir u. a. einen einseitigen Waffenstillstand erklärt und damit begonnen, unsere Guerillaeinheiten aus Nordkurdistan in Richtung Irak zurückzuziehen. Wir haben zudem die acht Gefangenen bei der PKK freigelassen. Es gab zum Rückzug keine konkreten Verhandlungen mit der türkischen Regierung, keine Gegenleistung und auch keinen dritten Beteiligten zur Überwachung oder Supervision des Prozesses. Wir sind unserer Verantwortung in Bezug auf die erste Phase des Prozesses gerecht geworden.

Diese Methode ist einzigartig. Noch keine Bewegung auf der Welt hat einen Friedensprozess auf eine solche Art und Weise begonnen. Es hat immer Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien gegeben. Es war auch immer eine dritte Partei beteiligt, die derartige Friedensprozesse beobachtet oder moderiert. Wir haben unsere Herangehensweise jedoch im vollsten Bewusstsein unserer Stärke gewählt.

Unsere einseitigen Schritte haben starken politischen Druck auf die türkische Regierung erzeugt, einen Weg zum Frieden nicht wie in den letzten Jahrzehnten von vornherein zu bekämpfen. Unser Vorgehen zeigt zudem, in welchem Ausmaß die PKK zu einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage entschlossen ist. Wir haben demzufolge unsere Verantwortung in der ersten Phase wahrgenommen und die notwendigen Maßnahmen umgesetzt, um die zweite Phase zu ermöglichen. In dieser zweiten Phase sind nun jedoch auch konkrete, ernsthafte und verhandelte Schritte der türkischen Regierung notwendig.

Aber zu diesem Zeitpunkt war die türkische Regierung noch nicht auf einen derartigen ernsthaften Friedensprozesses vorbereitet. Aber weil wir einseitig vorgingen, hat die Regierung sich nicht öffentlich gegen den Friedensprozess stellen können. Deshalb unterstützte sie ihn, ohne jedoch zu erwähnen, dass es die einseitigen Initiativen der PKK waren, die sie dazu gebracht haben. Sie behauptete demgegenüber, sie selbst sei es gewesen, die den Friedensprozess begonnen und das Ziel habe, ihn auch fortzusetzen.

Sämtliche Beteiligten und die Weltöffentlichkeit haben in dieser Zeit gesehen und anerkannt, dass die PKK ernsthafte Schritte gemacht hat, um den Friedensprozess zu ermöglichen und zu beginnen. Aufgrund dieses Drucks hat Premierminister Erdogan die Bildung einer „Kommission der Weisen“ beschlossen, die durch das Land reisen, Reformen vorbereiten und den Friedensprozess begleiten sollte. Sie hat nach monatelanger Recherche und Arbeit einen Bericht vorgelegt und darin geschildert, dass nicht nur die kurdische, sondern auch die Mehrheit der türkischen Bevölkerung eine friedliche Lösung der kurdischen Frage wünscht. Um das zu ermöglichen und einen Weg für eine demokratische Konfliktlösung zu eröffnen, solle u. a. Abdullah Öcalan freigelassen werden. Nach der Veröffentlichung des Berichts stand die AKP in der Verantwortung, ihre eigenen Ideen – ihre eigene Road Map – vorzustellen. Aber sie hat sich nicht geäußert und die Ergebnisse der Kommission für nicht verbindlich erklärt. Auf diese Weise wurde offensichtlich, dass es nicht die Gesellschaft ist – nicht die türkische oder die kurdische Community –, die sich gegen eine Lösung der kurdischen Frage stellt, sondern die AKP-Regierung selbst und Ministerpräsident Erdogan.

Die Auseinandersetzungen und Proteste um den Gezi-Park versuchte R. T. Erdogan dafür zu instrumentalisieren, der öffentlichen Debatte eine neue Richtung zu geben und die Menschen in die Irre zu führen. Er benutzte die Protestbewegung u. a., um von der Diskussion über die Lösung der kurdischen Frage abzulenken und an einer anderen politischen Agenda zu arbeiten. Aber damit hatte er letztendlich keinen Erfolg, weil die Öffentlichkeit weiter nach einer Lösung der kurdischen Frage verlangt.

Was macht die AKP-Regierung?

Gleichzeitig begann die Regierung damit, nach Entschuldigungen zu suchen, warum sie keine ernsthaften Schritte im Friedensprozess unternimmt. Um dem wegen ihrer eigenen Untätigkeit entstandenen öffentlichen Druck zu begegnen, erklärte sie, dass es die PKK und weitere Kräfte in der Region seien, die nicht an einer Lösung der kurdischen Frage und an Frieden interessiert sind. Die Regierung agitierte gegen die kurdische Bewegung und behauptete, die PKK habe in Cizîr (Cizre) Kontrollpunkte errichtet und in Licê, Amed (Diyarbakir), einen Friedhof für die gefallenen Guerillas angelegt. Auch dass sie neue Guerillas rekrutiert habe, wurde propagiert, um von der eigenen Untätigkeit abzulenken. Die AKP versucht auf diese Weise erneut, das Verhältnis von Ursache und Wirkung umzudrehen.

Ich möchte noch auf einen Aspekt aufmerksam machen, um die Vorgehensweise der AKP zu verdeutlichen. Dass sich momentan viele kurdische Jugendliche der Guerilla anschließen, wird nicht, wie von der AKP behauptet, von der PKK verursacht. Der Grund dafür ist vielmehr die Tatsache, dass die kurdischen Jugendlichen wissen, dass die Regierung im Friedensprozess nicht aufrichtig agiert. Sie sehen sich selbst und ihre eigene Zukunft und die Zukunft der kurdischen Bevölkerung. Sie wissen genau, dass die türkische Regierung sich auf einen neuen Krieg und weitere Massaker, einen Genozid an den Kurden und der kurdischen Bewegung vorbereitet. Diese Situation, dieses Dilemma und die Stagnation im Friedensprozess sind Gründe dafür, dass sich die Jugend der PKK anschließt.

Der zweite Punkt, auf den ich aufmerksam machen möchte, ist die gesundheitliche Situation unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Eine unabhängige Ärztedelegation wollte ihn dort auf Anregung der Ärztekammer besuchen, um seinen Gesundheitszustand medizinisch zu untersuchen. Bis heute wurde ihr dafür jedoch keine Genehmigung erteilt. Zur Vertrauensbildung und um Zweifel an der Regierung wegen eines etwaigen Verschweigens ernsthafter Probleme zu entkräften, sollte deshalb als erster Schritt unbedingt eine derartige Ärztedelegation zugelassen werden. Dass den Ärzten ein solcher Besuch nicht gestattet wird, ist ein weiterer Grund dafür, dass sich derzeit immer mehr Jugendliche der Guerilla anschließen.

Ein ebenso wichtiger Aspekt ist, dass die Regierung bis heute keine Verbesserung der Haftbedingungen Abdullah Öcalans zulässt. Bei den Friedensverhandlungen gibt es zwei Konfliktparteien, aber deren Bedingungen sind sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft und ohne die Möglichkeit, sich regelmäßig und unüberwacht mit der kurdischen Bewegung oder Menschen seines Vertrauens auszutauschen. Die Presse hat ebenfalls keine Möglichkeit, ihn zu besuchen und direkt mit ihm zu sprechen. Er ist im Hinblick auf die Entwicklungen weitgehend auf sich allein gestellt. Auf der anderen Seite die türkische Regierung mit all ihren Gremien und der Unterstützung vieler Organisationen und Medien sowie der Möglichkeit, ständig zu diskutieren. Rechte und Möglichkeiten der beiden Verhandlungspartner sind offensichtlich äußerst ungleich.

Zudem haben die Anwälte Abdullah Öcalans ihren Mandanten seit zwei Jahren und einem Monat nicht besuchen können. Es gab allerdings ein Zugeständnis. Die Regierung ließ zu, dass Parlamentarier der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) unseren Vorsitzenden besuchten. Diese Besuche sollten eigentlich alle 15 Tage drei BDP-Parlamentariern ermöglicht werden. Auch diese Zusage wurde nicht eingehalten. Es wird in der Praxis lediglich zwei Parlamentariern einmal im Monat ermöglicht, Abdullah Öcalan besuchen. Viele seiner Anwälte wurden in den letzten Jahren verhaftet und befinden sich noch immer im Gefängnis.

Mehr als 10.000 kurdische politische Gefangene sind derzeit in den türkischen Gefängnissen inhaftiert. Viele von ihnen sind todkrank. Als positives Signal und humanitäres Zugeständnis ist es notwendig, dass zumindest die kranken Gefangenen sofort freigelassen werden. Es ist unerträglich und respektlos, dass in den letzten Monaten zahlreiche Familien die Särge mit in den Gefängnissen gestorbenen Kranken in Empfang nehmen mussten, obwohl wir zu Beginn der ersten Phase sämtliche Gefangenen bei der PKK freigelassen hatten.

Die Politik der türkischen Regierung basiert noch immer weitgehend auf Unterdrückung. Sie lässt im Moment im gesamten Land keinerlei demokratische Opposition zu. Freie Meinungsäußerungen werden häufig negativ sanktioniert, Demonstrationen von der Polizei angegriffen. Zuletzt haben wir das bei den Gezi-Park-Protesten erlebt. Menschen, die ihr Versammlungsrecht wahrnehmen, werden mit Tränengas und körperlich angegriffen und willkürlich festgenommen. Wie kann R. T. Erdogan behaupten, er setze sich dafür ein, die Türkei in eine entwickelte Demokratie zu verwandeln, wenn nicht einmal die Grundrechte eingehalten werden. Das Recht auf Versammlung ist faktisch ausgehebelt, demokratische Proteste werden regelmäßig unterbunden. Hier besteht ein erheblicher Widerspruch zwischen Anspruch und Realität. Erdogan will die Demokratie offenbar nur für sich selbst nutzen. Selbst religiöse Argumente missbraucht der Ministerpräsident zu seinen eigenen Gunsten.

Die AKP bereitet sich momentan auf einen neuen Krieg gegen die kurdische Bewegung vor. Immer wieder fliegen Drohnen tagelang kontinuierlich über Gebiete in Nordkurdistan und über die Kandil-Berge in Südkurdistan [Nordirak]. In den Regionen, aus denen sich die Guerilla zurückgezogen hat, lässt die Regierung neue Militärposten errichten. Besonders im Grenzgebiet zu Südkurdistan lässt sie zudem eine Vielzahl von Staudämmen bauen. Auch die Zahl der Dorfschützer und Militäroperationen steigt. All das zeigt, dass die türkische Regierung nicht aufrichtig handelt, obwohl sie vorgibt, den Friedensprozess mitzutragen.

Um den Friedensprozess nicht in einer Sackgasse enden zu lassen, hat Abdullah Öcalan vorgeschlagen, acht Kommissionen einzurichten, die sich mit der Demokratisierung der türkischen Gesellschaft beschäftigen sollen. Eine Rechtskommission, eine Kommission für die Entwicklung von Gesellschaft und Ökonomie, eine Ökologiekommission, eine Kommission für die Freiheit der Frau, eine Kommission für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, eine Kommission für die legitime Selbstverteidigung, eine Kommission für die nationale Einheit und eine Wahrheitskommission. Diese Ausschüsse sollten recherchieren und einige Gesetzesvorschläge sowie einen Vorschlag für eine neue demokratische Verfassung entwickeln.

Die türkische Regierung muss zusichern, dass sie diese Kommissionen akzeptiert. Wenn wir die Vorgehensweise der Regierung genauer analysieren, können wir erkennen, dass sie auf Zeit spielt. Sie unternimmt keine ernsthaften Schritte und will den Friedensprozess zugunsten eines für sie selbst vorteilhaften Ausgangs der Kommunal- und Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr opfern. Das ist der Grund dafür, dass wir sie auffordern, den Friedensprozess nicht durch eigennützige Spielchen zu gefährden. Wir haben eine Frist gesetzt bis zum 1. September, um ihr Zeit zu geben für positive Schritte. Wir als Bewegung können nun nichts mehr tun. Wir haben sämtliche einseitigen Schritte unternommen, die möglich sind. Jetzt liegt der Ball im Feld der türkischen Regierung. Wir warnen sie, dass der Friedensprozess beendet wird, wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt keine zielgerichteten Schritte unternimmt.

Die Frist läuft am 1. September ab

Ein Grund dafür, dass sie bisher keine ernsthaften Schritte unternommen hat, ist die Tatsache, dass die Regierungen der internationalen Staaten keinen politischen Druck entfalten, der die Regierung zu ernsthaften Aktivitäten im Sinne einer friedlichen Lösung veranlassen könnte. Die internationale Gemeinschaft und der Westen nehmen lediglich die Äußerungen Erdogans wahr. Das ist ein großer Fehler. In der Praxis sehen wir keine ernsthaften Schritte der türkischen Regierung zur Lösung der kurdischen Frage.

Zuerst hatten wir darum gebeten, dass eine internationale Beobachtungskommission den Rückzug der Guerilla beaufsichtigt – als eine Garantie, zur Absicherung des Friedensprozesses. Aber dieses Anliegen wurde abgelehnt. Wir haben trotzdem darauf bestanden, unsere Guerilla zurückzuziehen, um einen Mentalitätswandel bei den Beteiligten zu ermöglichen. Aber wir sehen keine Veränderung – weder in der Praxis noch in der Mentalität. Sämtliche Schritte der Regierung dienen lediglich dazu, die Öffentlichkeit zu täuschen und Zeit zu schinden. Ihr Vorgehen ist, wenn sie überhaupt etwas unternimmt, von großer Willkür gekennzeichnet und entspricht keinen verhandelten Details. Deshalb haben wir die Frist zum 1. September gesetzt.

Die Regierung ist in der Pflicht, gegenüber Abdullah Öcalan eine strategische Herangehensweise zu entwickeln und nicht zu versuchen, ihn aus taktischen Gründen zu missbrauchen. Bis jetzt haben wir ein taktisches Vorgehen toleriert, weil wir festen Willens sind, den Friedensprozess nicht zu gefährden. Aber es ist auch wichtig zu wissen, dass es Grenzen der Toleranz gibt. Und wir haben nun eine letzte Toleranzgrenze erreicht.

Wenn der Friedensprozess fortgesetzt werden soll, muss es von nun an eine dritte Partei geben, die den Prozess beobachtet, bezeugt und zudem eine Supervision durchführt. Verhandlungen sollten nicht nur mündlich geführt, sondern auch festgehalten und verschriftlicht werden. Wenn die Regierung Erdogan bis zum 1. September keine Schritte getan hat, ist sie für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich.

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