Der Kampf der Völker um Demokratie gegen die Machtexpansion der Türkei

nilüfer_kocNilüfer Koç, Kovorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan (KNK), für Civaka Azad, 15.09.2016

…In diesem Zusammenhang sind Behauptungen wie, die USA, Russland und Europa hätten die Kurden verraten oder hintergangen, nur Spiegelbild der eigenen schwachen Position. Als am 19. Juli 2012 die Revolution in Rojava begann, haben die Kurden sich auf sich selbst verlassen. Sie haben ihre Stärke in der Kraft der Völker in Syrien/Rojava gefunden. Sie waren weder auf Betteltour, noch haben sie um Genehmigung für ihre Freiheit gefragt. Sie haben lediglich bei den Weltbürgern die Solidarität gegen die globale Gefahr, die der IS darstellt, gesucht…

 Mit dem Einmarsch der Türkei in die nordsyrische Kleinstadt Cerablus (Dscharablus) am 24. August betreten wir eine neue politische Etappe im Syrienkrieg. Es ist eine Farce darauf hinzuweisen, dass die Türkei hiermit gegen das internationale Recht verstoßen hat. Ohnehin ist in diesem Syrienkrieg seit 2011 klar und deutlich, dass das internationale Recht praktisch außer Kraft gesetzt wurde. Denn sonst säße die Türkei schon längst aufgrund ihrer nachgewiesenen Unterstützung für den Islamischen Staat (IS) auf der Anklagebank vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die politische Toleranz der internationalen Gemeinschaft, die der Türkei bislang entgegengebracht wurde, hat nicht zur Lösung der Syrienfrage geführt, sondern das Problem deutlich vertieft. Natürlich ist diese Toleranz Resultat der eigenen Interessen. Diese hat die Türkei ermutigt, auf fremdes Territorium einzumarschieren. Es kann sich kein Staat die Hand mit der kurdenfeindlichen Politik der Türkei rein waschen. Die kurdenfeindliche Haltung der Türkei hat eine lange Tradition. Daher sollten die Bürger der einzelnen Staaten, die in Syrien aktiv sind, die Toleranz ihrer Regierungsvertreter hinterfragen.

Dass die Türkei seit ihrer Gründung den Krieg gegen die Kurden zu einem strategischen Ziel erklärt hat, ist nunmehr weltweit bekannt. Diese Strategie, die in Nordkurdistan etwa 40 Jahren systematisch umgesetzt wird, hat sich seit 2011 auf Nordsyrien, das mehrheitlich von Kurden bewohnt ist, ausgeweitet. Es ist nicht überraschend, dass die Türkei die Krise in Syrien nicht nur als eine Chance für die Umsetzung ihrer neo-osmanischen Bestrebungen gesehen hat, sondern auch zugleich als eine Gefahr wahrgenommen hat. Denn während die Türkei das politische Vakuum in Syrien 2011 als eine historische Gelegenheit für ihre Machtexpansion sah, haben die Kurden dieses als Chance für die Entwicklung der Demokratie als Alternative gegen das Baath-Regime aufgegriffen. Daher kann kurz und deutlich gesagt werden, in diesem sogenannten Konflikt in Nordsyrien zwischen den Kurden und der Türkei handelt es sich in der Realität um einen Kampf zwischen Demokratie und Machtexpansion. Die verschiedenen Völker im Norden Syriens kämpfen nicht im Interesse eines Machtzuwachses für die Türkei in der Region. Sie kämpfen für eine bessere Zukunft, das heißt für die Demokratie. Die seit 2012 aufgebauten politischen und gesellschaftlichen Strukturen unter diesen Völkern bezeugen dies. Der Ansatz für eine kantonale Lösung stellt ein Bemühen dar, um die lokale Grundlage der Demokratie für Gesamtsyrien zu entwickeln.

Mit dem Einmarsch in Cerablus will die Türkei diesen Krieg um Machtzuwachs intensivieren. Ausgangspunkt für den Einmarsch war der Sieg der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) gegen den IS in Minbic (Manbidsch) und gegen das syrische Regime in Hesekê (al-Hassakah) Mitte August. Die SDF ist ein Zusammenschluss aus den militärischen Kräften der Araber und Assyrer und den Verteidigungseinheiten YPG/YPJ der Kurden. Der gemeinsame Sieg von Minbic war aus militärpolitischer Perspektive ein ebenso wichtiger Sieg wie in Kobanê. Zwei Monate hat der Krieg um die Stadt angedauert. In dieser Zeit hat die Türkei ihre Unterstützung für den IS ungehindert und verstärkt fortgeführt.

Die schwere Niederlage des IS in Minbic hat zugleich ihre Kampfbereitschaft ernsthaft geschwächt. Für die Türkei bedeutete dies die Schwächung ihrer wichtigsten Kraft in Syrien. Denn bislang konnte sich die Türkei im Syrienkrieg über den IS behaupten.

Ein anderer Grund für den Einmarsch hängt unmittelbar mit der innenpolitischen Situation des Landes zusammen. Der versuchte Militärputsch vom 15. Juli hat die Türkei in ernsthafte neue Schwierigkeiten gebracht. Die Republik hatte sich immer stolz als die zweitstärkste Armee der NATO national und international präsentiert. Ferner war die türkische Armee die Säule des kemalistischen Staates. Der gescheiterte Militärputsch ist auch zugleich der Beginn des Zerfalls des Mythos der „Mehmetcik“, des Soldatentums. Da es um die Türkei nicht nur um einen demokratischen, sondern um einen militaristischen Staat handelt, hat die Armee sowohl innen- als auch außenpolitisch eine drohende Wirkung. Sie ist der Ausdruck purer Macht, von Angst, Schrecken und Einschüchterung. Nun hat diese Armee ihr altes Image verloren. Somit wurde diese Säule des Staates geschwächt. Der Einmarsch nach Cerablus soll das Ansehen der Armee wieder aufpolieren. Die Armee soll mit der Propagandamaschinerie der Regierung über die Invasion von Cerablus in ihrer alten Drohfunktion erneuert werden. Die, die glauben die Türkei wäre aufgrund des gescheiteren Putsches geschwächt, sollen überzeugt werden, dass dem nicht so ist.

Der militärische Sieg von Minbic sollte nach kurdischem Konzept zu einem neuen politischen Vorgehen verhelfen. Die Kantone Kobanê und Afrin sollten über einem Korridor verbunden werden, was zu der Verbindung aller drei Kantonen – Cizîrê, Kobanê und Afrin – geführt hätte. Damit wären nicht nur die drei Kantone vereint gewesen, sondern neue Kantone der arabischen Regionen wie Minbic, al-Bab, Azaz, als arabische Kantone, hätten in die vorgesehene Föderation eingegliedert werden können. Dies war nicht nur ein kurdischer Plan, sondern dem gingen intensive gemeinsame Diskussionen und Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Arabern voraus. Der Demokratische Rat Syriens, der aus Vertretern von verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften besteht, arbeitet seit Monaten an der Vereinbarung der Demokratischen Föderation Nordsyrien/Rojava. Der Entwurf für die gemeinsame Föderation ist fast abgeschlossen.

Daher wäre es einseitig und oberflächlich, den Einmarsch der Türkei bloß als einen kurdisch-türkischen Konflikt zu verstehen. Letzten Endes geht es darum, ob die von den Völkern aufgebaute demokratische Selbstverwaltung oder die machtorientierte Politik das Sagen haben wird. Cerablus ist daher gegenwärtig eine Herausforderung für alle Befürworter von Demokratie. Da das internationale Recht nicht in Sicht ist, müssen die handeln, die für Frieden und Demokratie stehen. Nordsyrien/Rojava stellt eine Chance dar. Die Invasion durch die Türkei kann daher politisch auf internationaler Ebene durch eine stärkere Solidarität mit den Völkern Nordsyriens/Rojava, allen voran den Kurden, überwunden werden. Die Türkei ist innenpolitisch aufgrund des Putsches vom 15. Juli politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und militärisch stark geschwächt. Daher wird ihre Ausdauer dem kurdischen Widerstand gegenüber nicht langatmig sein können. Die Befreiung von Cerablus von der türkischen Okkupation kann auch politisch erreicht werden, wenn der Druck auf die Türkei und gegen alle anderen Staaten, wie zum Beispiel gegen Europa, USA und Russland, die sich in Syrien behaupten, erhöht wird. In diesem Zusammenhang sind Behauptungen wie, die USA, Russland und Europa hätten die Kurden verraten oder hintergangen, nur Spiegelbild der eigenen schwachen Position. Als am 19. Juli 2012 die Revolution in Rojava begann, haben die Kurden sich auf sich selbst verlassen. Sie haben ihre Stärke in der Kraft der Völker in Syrien/Rojava gefunden. Sie waren weder auf Betteltour, noch haben sie um Genehmigung für ihre Freiheit gefragt. Sie haben lediglich bei den Weltbürgern die Solidarität gegen die globale Gefahr, die der IS darstellt, gesucht. Zudem ist die Demokratisierung Syriens nicht nur eine Aufgabe der Kurden, sondern aller, die auf denselben Werten beharren. Kobanê war der Ausdruck der internationalen Solidarität, dessen Zeuge wir alle sind! Die Kurden werden kämpfen, es ist aber nicht allein ein kurdischer Kampf. Es ist unser gemeinsamer Kampf für Frieden und Demokratie.

Die Befreiung von Cerablus von der türkischen Besatzung ist daher eine gemeinsame Aufgabe. Wenn die Türkei dort bleiben kann, bedeutet dies nicht nur die Stärkung des IS lokal, sondern auch global. Wenn wir dies sehen, dann verraten die USA, Russland und Europa nicht nur die Kurden, sondern uns alle aufgrund ihrer profitorientierten Interessenspolitik. Wir Kurden werden weiterhin entschlossen für ein demokratisches Syrien, Nordsyrien/Rojava, kämpfen. Den Druck zu erzeugen, dass die erwähnten Staaten von ihrem Verrat abkehren, ist eine Aufgabe der Bürger dieser Staaten.