Der türkische Kurdenkrieg – Eine aktuelle Situationsanalyse (3)

Nilüfer Koc, Kurdistan Nationalkongress (KNK), 12.01.2017

Neben ihren übrigen außenpolitischen Bemühungen im Sinne der Anti-Kurdenpolitik ist die AKP auch bemüht, unter den Kurden die traditionelle „Teile-und-Herrsche“ Politik zu inszenieren. In Erbil forderte der türkische Ministerpräsident die KDP von Masoud Barzani auf, die PKK aus Sinjar herauszudrängen. Damit wollte Yildirm den, in den letzten Jahren begonnen Dialog zwischen der PKK und der KDP kappen und in einen Bruderkrieg führen. Er hat aber nicht verstanden, dass die PKK alles daran setzten wird, nicht gegen eine andere kurdische Bewegung vorzugehen. Weder die PKK noch eine andere kurdische Bewegung wird aus politischen Differenzen kurdischen Errungenschaften wie die Autonome Region Kurdistans aufs Spiel setzten. Der föderale Status der kurdischen Region im Irak ist eine gesamtnationale Errungenschaft aller Kurden und nicht das Monopol einer Partei, auch wenn die KDP in den letzten 70 Jahren eine prägende in Irakisch-Kurdistan gespielt hat. Ein von der Türkei vorgesehener Krieg zwischen der KDP und PKK würde vielmehr Südkurdistan als den beiden Parteien schaden. Sowohl die PKK als auch die KDP sind sich dieser Gefahr bewusst.

Die PKK hat es leichter, den politischen Dialog mit der KDP aufrechtzuhalten, während die KDP hierbei mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Denn durch den Öl-Handel ist sie in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von der AKP geraten, welche sie erpressbar macht. Hinzu kommt, dass die KDP im Namen der KRG einen Vertrag zur wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit mit der Türkei für weitere 50 Jahre unterzeichnet hat. Bislang kennt man nicht die Details dieses Abkommens. Die Drohung aus Ankara ist allerdings stets dieselbe: „Entweder kämpfst du gegen die PKK oder die Pipeline wird dicht gemacht.“ Aktuell finden diese Erpressungen und Drohungen gegen die Präsenz der PKK in Sinjar statt.

Die Haltung der PKK gegenüber Ankara ist klar. Sie wird weder zulassen, dass Sinjar unter türkische Kontrolle gerät, noch dass etwas Derartiges mit Mosul passiert. Deshalb debattieren die PKK und KDP seit einigen Monaten über eine kurdische Lösung in Sinjar.

Allerdings sind die Fragen um Sinjar, Mosul oder auch Nordsyrien/Rojava keine Probleme, die es allein unter der PKK und der KDP zu lösen gilt. Diese Probleme müssen auf einem gesamtkurdischen Kongress behandelt werden, um eben gesamtkurdische Lösungsansätze zu entwickeln. Auf einem solchen Kongress müssen die Kurden für die gesamte Region gemeinsame Strategien für Verteidigung und Diplomatie entwickeln. Sie müssen gemeinsam über die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Kurden in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien beraten.

Die gegenwärtigen Gefahren zwingen die Kurden zu gemeinsamen Schritten. Hier stehen die politischen Vertreter der Kurdinnen und Kurden vor einer historischen Verantwortung. Daher war es wichtig, dass die PKK zum Ende des letzten Jahres erneut zu einem kurdischen Kongress aufgerufen und aus diesem Grund auch den Dialog mit der KDP aufgenommen hat. Es ist auch wichtig, dass sich die KDP für einen solchen Dialog bereit erklärt hat und diesen fortsetzten will.

Türkische Niederlage in Syrienkrieg

Mit allen Mitteln hat die Türkei seit 2010, dem Beginn des sogenannten arabischen Frühlings, alles daran gesetzt, um diese Umbruchphase für ihr eigenes Bestreben nach Machtexpansion zu nutzen. Sechs Jahre danach hat die Türkei Schritt für Schritt ihre eigentlichen Absichten, die sie zu Anfang verdeckt verfolgte, offenlegen müssen. Der angebliche türkische Anti-IS-Kampf im Rahmen der Internationalen Koalition war nichts als eine Fassade. Die Maske verlor die Türkei im Kampf gegen die Kurden in Rojava. Denn, was die Türkei gegenüber der Internationalen Koalition und der Weltöffentlichkeit eigentlich verdecken wollte, war die Tatsache, dass es ihr von Anfang an darum ging, die Errungenschaften der Kurden in Rojava zunichte zu machen. Doch jeder militärische Sieg der Kurden gegen die IS in Rojava und in Nordsyrien hat die Türkei aus der Bahn gebracht. Mit dem türkischen Einmarsch in Dscharablus im vergangen August hat sie dann die Strategie eines Stellvertreterkrieges gegen die Kurden mit Hilfe des IS und anderen Islamisten verworfen, um selbst militärisch aktiv zu werden. Nun ist die türkische Armee selbst in Nordsyrien präsent und versucht mit all ihrer Kraft zu verhindern, dass die Kurden und jene ethnische und religiöse Gruppen, die mit den Kurden bei der Entwicklung der Demokratischen Föderation Nordsyrien  mitwirken, ihr System weiter ausbauen.

Entgegen türkischer Behauptungen, die Kurden von Rojava würden hier einen eigenen Staat oder eine kurdische Föderation nach dem irakischen Vorbild von 2003 aufbauen wollen, haben es die Völker der Region unter der Führung von Kurden geschafft, innerhalb der letzten sechs Jahre die Grundlage für die Ausrufung der Demokratischen Föderation Nordsyrien aufzubauen. Ende Dezember beschlossen die Kurden, Araber, Armenier, Assyrer und Tschetschenen einen gemeinsamen Entwurf für den neuen Gesellschaftsvertrags. Binnen der nächsten sechs Monate sollen nun die Bürgerinnen und Bürger Nordsyriens über den 15-seitigen Gesellschaftsvertrag abstimmen. Es wird der Türkei schwer fallen, am 23. Januar in der Syrienkonferenz von Astana die Beteiligten zu überzeugen, dass die Kurden Separationsbemühungen anstreben.

Partnerwechsel der Türkei: von der sunnitischen zur schiitischen Achse

Durch den gemeinsamen Entwurf des neuen Gesellschaftsvertrags für die Demokratische Föderation von Nordsyrien hat sich die Behauptung Ankaras, die Kurden möchten sich von Syrien für einen kurdischen Staat abspalten, nicht bestätigen lassen. Denn über dieses Argument versuchte sie im vergangenen Jahr neue Partner für ihre Anti-Kurden-Strategie zu gewinnen. Entgegen ihrer bisherigen Partner wie Saudi Arabien, Katar und die übrigen sogenannten Kräfte des sunnitischen Lagers sind ihre neuen Partner nun Russland, China, Syrien und der Iran. Diese Staaten sind bekannt für die Zentralisierung der Macht und weisen daher selbst starke Demokratiedefizite auf. Das Prinzip von alle Macht dem Staat führte in diesen Ländern zur Entmündigung der eigenen Bevölkerung. Daher glaubt die Türkei, hier eher Anknüpfungspunkte für ihre eigene politische Haltung finden zu können. Sie alle haben große Ängste bezüglich der Demokratieforderung der ethnischen und religiösen Gemeinschaften innerhalb ihrer Staatsgrenzen. Die Türkei glaubt hier verstanden zu werden. Allerdings kann sie mit dem Argument der kurdischen Abspaltung in Syrien nicht viel erreichen, da die Kurden sich als Teil des zukünftigen Syriens betrachten und daher diesen Staat unbedingt demokratisieren wollen.

Nach der erfolgreichen Befreiung der Region Minbic am 13. August 2016 durch die Demokratischen Streitkräfte Syriens mit Beteiligung der YPG und YPJ marschierten türkische Streitkräfte am 24 August mit der Operation „Schutzschild Euphrat“  im Norden Syriens ein und kontrolliert seitdem die nördliche Region von Shehba, die Stadt Dscharablus und Orte wie Dabiq und Soran.

Vor dem Einmarsch wurde mit dem IS verhandelt, damit es diese Gebiete räumt und den Raum für die Kräfte der Freien Syrischen Armee, die mit der Türkei kooperieren, öffnet. Gemeinsam mit den Kräften der FSA kämpfte die türkische Armee sich vor bis hin zu der kritischen Region um al-Bab.

Bis dato trat die Türkei rein äußerlich in Syrien als NATO-Partner innerhalb der Internationalen Koalition im internationalen Kampf gegen den IS auf. Sie versuchte mit allen Mitteln allen voran die USA aber auch andere Mitglieder der Koalition dazu zu drängen, dass diese die YPG/YPJ und politische Kräfte wie die PYD mit dem IS als Terrororganisation gleichsetzen. Hierbei war sie erfolglos. Die internationale Koalition agiert allerdings selbst vor Ort und verfügt über beste Informationen, wer tatsächlich erfolgreich gegen den IS und andere islamistische Gruppierung kämpft und wer nicht.

Kurdische  Demokratie hindert türkische Expansion

Nicht nur in Nordsyrien auch in der Türkei kämpfen die Kurden für Demokratie, da sie ihr Recht auf Selbstbestimmung durch Demokratisierung der jeweiligen Besatzerstaaten Kurdistans umsetzen wollen. In Nordsyrien wurde diesbezüglich eine Revolution im wahrsten Sinne des Wortes vollzogen. Ende Dezember nun einigten sich alle Komponente Nordsyriens auf die Demokratische Föderation Nordsyriens. In dem 15-seitigen Entwurf des Gesellschaftsvertrags wurden alle ethnischen und religiösen Gemeinschaften als gleichberechtigte Bürger mit ihren Rechten und Pflichten für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft manifestiert. Auch wenn nationalistisch gesinnte Kurden eine große Gegenkampagne hiergegen gestartet haben, so erklärten alle Beteiligten der Konferenz im Dezember, dass sie Völker Syriens sind und über Nordsyrien auf ein demokratisches Modell für das gesamte Syrien hinarbeiten wollen.

Auch in der Türkei hatte sich der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan in dem Verhandlungsprozess mit dem türkischen Staat zwischen Dezember 2012 und April 2015 darum bemüht, die Türkei über die verfassungsrechtliche Lösung der kurdischen Frage zu demokratisieren.

Rückblickend auf die fast dreijährigen Verhandlungen zwischen Öcalan und des türkischen Staates kann gesagt werden, lässt sich anhand der heutigen Lage der Türkei besser verstehen, warum Öcalan unglaubliche Bemühungen aufgebracht hat, um auf die AKP einzugehen und diese am Verhandlungstisch zu halten. Mehrmals hat er darauf hingewiesen, dass die Heilung der Türkei von der Lösung der kurdischen Frage abhängt. Öcalans Strategie war im Grund ein intensiver Kampf für die Demokratisierung der Türkei über die Lösung der kurdischen Frage.

Erst jetzt wird deutlich klar, warum Öcalan so offensichtlich und beharrend auf den Friedensprozess bestand. Zu gut konnte er vorhersehen, dass die Türkei die Verluste der Gebiete durch den Lausanner Vertrag nicht verdaut hatte und dass die AKP das politische Vakuum entfacht durch den arabischen Frühling für die Realisierung eines türkischen Reiches nach Osmanischem Vorbild ausnutzen würde. Jede Äußerung von Erdogan nach April 2015, dem Ende der Verhandlungen mit Öcalan, bestätigten die Befürchtungen von Öcalan. Erdogan nahm kein Blatt vor dem Mund und sagte immer wieder, dass er eine kurdische Autonomie in Nordsyrien nicht erlauben und die Türkei den Fehler aus dem Jahr 2003 in Nordirak (die Gründung der KRG) nicht wiederholen wird.

Öcalan wusste im Voraus, dass die Türkei mit der AKP der Politik des Neo-Osmanischen Reiches folgen wird. Der 4. Kongress der AKP in September 2012 fand unter dem Motto „Große Nation, Große Macht, Ziel 2023“ statt. Hier erklärte Erdogan, dass der erste Schritt in Richtung 2023, also dem 100. Jahrestag des Lausanner Vertrags (Aufteilung des Osmanischen Reiches), und dann der zweite Schritt 2071 sein würden. Er sagte auch, dass er den zweiten Schritt nicht erleben wird, aber die Generation nach ihm diesen Schritt weiter verfolgen werde. Vor etwas 1000 Jahren, also 1071 nach Chr., wanderten die ersten Turkstämme von den mongolischen Steppen aus nach Mesopotamien und Anatolien, wo sie später das Osmanische Reich gründeten.  Die Umwälzung im Nahen Osten mit dem arabischen Frühling und vor allem dem Syrienkrieg ab 2011 hatten den Appetit der Türkei für die Realisierung dieses Traumes vergrößert.

Öcalan hatte mit großen Risiken versucht, den Staat zu überzeugen, dass der türkische Traum vom großen Reich gefährlich ist und dass die Kurden dies nicht akzeptieren werden.

Der Krieg in Irak und Syrien wird im Kern ein Kampf zwischen den Kurden und der Türkei sein. Erdogan will bis 2023 die verlorenen Gebiete des 20. Jahrhunderts wiederhaben. Hierfür verändert er die Strukturen der türkischen Republik und zu diesen Zwecken will er die neue Verfassung durch bekommen, um mit der Diktatur besser expandieren zu können. Er will als der zweite Atatürk in die Geschichte eingehen. Als Hindernisse stehen ihm die Kurden, vor allem aber die PKK im Weg. Die kurdische Vorstellung vom 21. Jahrhundert sieht die Anerkennung des kurdischen Volkes durch die Besatzerstaaten und die internationalen Politik vor. Das bedeutet aber auch, dass die Kurden die von der Türkei beanspruchten Gebiete um Aleppo und Mosul der Türkei nicht überlassen werden. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert sind die Kurden heute nicht allein, sondern haben es geschafft, mit den Völkern, die in den Gebieten um Aleppo und Mosul leben, eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln.

Ein weiterer Vorteil für die Kurden ist, dass die britisch-französische Nahost-Kolonialpolitik des 20. Jahrhunderts gescheitert ist. Die Ziehung von künstlichen Grenzen zwischen Staaten über die Köpfe der Völker hinweg, wie es vor 100 Jahren durch das Sykes-Picot Abkommen und die Friedensverträge von Sevres und Lausanne beschlossen wurde, ist desaströs an die Wand gefahren. Im Gegensatz zu dieser Politik ist die Erfahrung mit föderativen Modellen wie in den USA oder Russlands zwar auch keine Lösung, berücksichtigt aber zumindest  die Pluralität der Region. Dieser Ansatz ist also das kleinere Übel. Hier setzt auch die Lösung von Öcalan und der PKK an, geht aber weiter. Denn föderative, autonome, konföderale Strukturen sind im Gegensatz zu zentralisierten Nationalstaaten ausbaufähig. Es wird von den Geschicken der kurdischen Politik und Diplomatie abhängen, auf Grundlage des  gemeinsamen Nenners mit den Völkern hinsichtlich föderaler Strukturen ihren Lösungsansatz gegenüber den Global Playern durchzusetzen.  Die Erfahrung in Nordsyrien, also dem  Aufbau der demokratischen Föderation Nordsyriens, kann hierfür einen ersten Anfang darstellen.

Allen voran wird es die Türkei sein, die gegen den kurdischen Modellvorschlag vorgehen wird. Der türkische Kurs läuft in Richtung Diktatur, während der kurdische sich auf die Demokratie zubewegt. Es mag wie ein kurdisch-türkischer Krieg aussehen. Jedoch werden auch die Entscheidungen der übrigen Mächte in der Region den Lauf sehr stark mit beeinflussen. Daher wird zunächst wichtig sein, zu sehen wie die türkische Bevölkerung auf den neuen Verfassungsentwurf zur Manifestierung einer türkischen Diktatur reagieren wird. Zweitens wird die politische Haltung der NATO Partner wichtig sein. Eine türkische Diktatur wird ohnehin keine Zustimmung finden, da es Konsequenzen für alle haben wird, die es mit der Türkei zu tun haben. Jedenfalls muss auf die Frage, was gemacht werden kann, um den Wandel der Türkei in Richtung einer Diktatur zu verhindern, auf alle Fälle mit der Anerkennung der Kurden geantwortet werden.

Zum Weiterlesen:

Der türkische Kurdenkrieg – Eine aktuelle Situationsanalyse (1)
Der türkische Kurdenkrieg – Eine aktuelle Situationsanalyse (2)