Der türkische Kurdenkrieg – Eine aktuelle Situationsanalyse

Nilüfer Koc, Kurdistan Nationalkongress (KNK), 12.01.2017

Der Irakbesuch des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim in Bagdad und Erbil schien der Öffentlichkeit gegenüber wie ein Tauschhandel. Die Türkei soll ihre Soldaten aus Bashiqa (Mosul) zurückziehen. Im Gegenzug sollen Bagdad und Erbil die PKK aus Sinjar (Shengal) herausdrängen. Die türkische Delegation legte für Letzteres drei Optionen auf den Tisch: Erstens – „ihr bekämpft die PKK“; Zweitens – „wir operieren gemeinsam“; drittens –   Wenn beides nicht geht, machen wir es eben selber mit unserer Armee.

Mit diesem Schlachtplan besuchte der türkische Ministerpräsident Yildirim am 7. und 8. Januar Bagdad und Erbil. Die Prioritäten, die Yildirim in seinen gemeinsamen Pressekonferenzen mit Abadi und Barzani äußerte, waren auf die PKK fokussiert. Sekundären Rang hatte die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Was diplomatisch auf diesen Pressekonferenzen umschnörkelt wurde, bedeutet politisch konkret: Kämpft ihr gegen die PKK, helfe ich euch bei euren wirtschaftlichen Problemen. Dem folgte auch die bekannte Drohung: Wenn ihr das nicht tut, werde ich mit meiner Armee die PKK in Sinjar bekämpfen. So einfach wie die Politik auf den Pressekonferenzen in Bagdad, Erbil und Ankara zwischen Binali Yildirim, Haydar al-Abadi und Masoud Barzani präsentiert wurde, ist es aber in der Realität nicht. Denn keiner von diesen Dreien kann seine Worte in Taten umsetzten, da sie alle sowohl mit innen- als auch außenpolitischen Problemen kämpfen müssen, und alle sowohl wirtschaftlich als auch militärisch derzeit mehr als überfordert sind. Der irakische Staat befindet sich ebenso wie die Türkei in einer Systemkrise. Und auch die kurdische Regionalregierung im Irak hat mit einer tiefen politischen Krise zu kämpfen.

Trio der Schwachen

Deshalb können derzeit weder Bagdad noch Erbil der Türkei helfen, auch wenn sie es wollten. Sie sind nämlich selbst auf Hilfe angewiesen. Die Türkei wiederum kann ebenfalls derzeit niemandem unter die Arme greifen.  Die Ursachen der gegenwärtigen Probleme im Irak und der Türkei mögen zwar auf dem ersten Blick politischer Natur wirken. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Systemkrise. Sie rühren aus den Staatsmodellen beider Länder her. An allen Ecken werden deshalb die Schreie nach neuen Verwaltungsmodellen lauter. Auch hilft es weder Bagdad noch der USA durch die gemeinsame militärische Befreiungsoffensive auf Mosul den Staat Irak zu stärken. Das Problem ist tiefgreifender.

Das Modell im Irak, welches die USA gemeinsam mit den schiitischen und den sunnitischen Arabern, sowie den Kurden verfassungsmäßig aufgestellt hat, büßt immer weiter seine Bedeutung ein. Der erhoffte politische Aufschwung des Staates durch die Befreiung Mosuls ist nicht vielversprechend, da die Frage, wie es nach der militärischen Befreiung aussehen soll, noch ungeklärt ist. Während Bagdad auf den alten Strukturen in Mosul beharrt, suchen die vom IS bedrohten Völker nach anderen Lösungen. Sie alle, ob Christen, ezidische Kurden, Shabak Kurden, schiitisch-sunnitische Turkmenen usw., suchen nach dem Recht der Selbstbestimmung. Das Verlangen nach Dezentralisierung des Staates Iraks wird immer lauter. Auch die Kurden im Norden  des Iraks fordern mehr Unabhängigkeit.

Mit denselben Herausforderungen hat auch die Türkei zu kämpfen. Die Nähte der alten Republik platzen. Allen voran die Kurden drängen auf eine demokratischer Autonomie, d.h. einer Dezentralisierung des Staates. Die Antwort der AKP hierauf ist den Staat in ein Ein-Man-System, also eine Diktatur, zu transformieren. Hierzu hat AKP/Erdogan eine neue Staatsverfassung entworfen,  welche momentan im türkischen Parlament debattiert wird. Schon melden sich die Hüter Atatürks zu Wort und bekunden ihr Misstrauen demgegenüber.

Sowohl die türkische Republik als auch das föderale Irak brauchen ein demokratisches System. Die auf pan-arabischer oder pan-türkistischer Doktrin basierenden Nationalstaaten haben keine Zukunftschance. Der Krieg des IS hat die Idee des nationalstaatlichen Systems nach Sykes-Picot und Lausanne auf den Kopf gestellt. Die Völker und Glaubensgemeinschaften der Region fordern Sicherheit, Freiheit und Demokratie, was diese Staaten nicht bieten können.

Ein ähnliches politisches Dilemma erleben wir auch im kurdischen Autonomiegebiet im Irak. Die Systemkrise in der KRG drückt sich in der wirtschaftlichen Misere aus. Die internen Probleme dringen nicht so sehr nach außen, da sie aufgrund der fast täglichen ranghohen diplomatischen Besuche aus dem Ausland in den Hintergrund gedrängt werden. Schon längst fordern die Menschen in Kurdistan keinen kurdischen Staat, sondern sie fordern Brot und Demokratie. Denn die Kluft zwischen Reich und Arm wächst von Tag zu Tag. Hier ist ein Kurdistan entstanden, das durch zwei Klassen charakterisiert ist: den Reichen und den Armen. Die Reichen sind zugleich auch die Regierenden. Sie glaubten in den letzten Jahren durch die Propagierung eines unabhängigen Staates die Menschen von den bestehenden sozialen Problemen ablenken zu können. Abgesehen von den Regierenden spricht keiner im kurdischen Autonomiegebiet über einen kurdischen Staat.

Lange Zeit wurde die PKK medial als Gegner eines Kurdenstaates präsentiert. Das fruchtete allerdings nicht, da die PKK erklärte, sie mische sich nicht in die interne Politik der KRG (Kurdistan Regional Government) ein. Stattdessen schlug sie vor unter anderem auch dieses Thema in einem Kurdistan Nationalkongress zu debattieren.

Die Gründung eines Kurdenstaates  ist ein jahrhundertealter Traum der Kurden gewesen. Nun sehen die Menschen im südkurdischen Autonomiegebiet allerdings, dass mit der Gründung eines eigenen Staates die Probleme nicht gelöst sind. Die Frage, die gestellt wird, ist, ob dieser propagierte Staat mit dem gegenwärtigen Führungsstil überhaupt einen demokratischen Charakter einnehmen kann? Auch dieser Traum ist leider zum Opfer der kurdischen Herrschaftspolitik im Irak geworden.

Hilfe der Hilfslosen

Die Versprechungen Binali Yildirims der KRG gegenüber, die Türkei werde der KRG helfen, die Wirtschaftskrise zu überwinden, ist nichts als eine Farce. Die realen Fakten der türkischen Wirtschaft widerlegen dies. Aufgrund der politischen Krise ziehen sich die ausländischen Investoren aus der Türkei zurück. Der Tourismus liegt am Boden. Die türkische Lira verliert fortwährend an Wert. Die Mittelschicht, die bislang aus den staatlichen Ressourcen durch die AKP gefördert wurde, wird demnächst nicht mehr in diesen Genuss kommen und sich zu Wort melden. Es ist nicht zutreffend zu glauben, dass die „Mehrheit“ der türkischen Bevölkerung aus ideologischen Gründen die AKP unterstützt. Vielmehr gibt es eine gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit. Während seiner Regierungszeit hat die AKP eine weit ausgebereitet Politik der wirtschaftlichen Abhängigkeit installiert. Einst wurde dies unter dem Namen „Grüne Wirtschaftspolitik“ geführt. Grün soll hier den Islam symbolisieren.

Hinzu kommt der totale Kriegskurs der AKP. Der Krieg kostete dem Land viel aus der Staatskasse. Die Türkei führt Krieg in Syrien, Irak und streckt seine Arme auf in andere Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas. Dies kommt dem Lande teuer zu. In diesem Zusammenhang ist das Versprechen von Binali Yildirim, der KRG oder Bagdad durch wirtschaftliche Zusammenarbeit helfen zu wollen, nur verbaler Natur. Die Türkei braucht selbst Hilfe.

Aber auch militärisch haben weder die Türkei noch diejenigen Kräfte, die von der Türkei um Hilfe gebeten wurden, also Erbil und Bagdad, die militärische Kapazität einen erfolgreichen Krieg gegen die PKK zu führen. Die türkische Armee hat nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli ihre Kampfmotivation verloren. Tausende von Militärmitgliedern sitzen im Gefängnis. Viele haben sich ins Ausland abgesetzt. Zuletzt wurde durch ein Dekret mit Gesetzescharakter (KHK) dem Generalstabschef Hulusi Akar, also dem höchsten Militärvertreter der türkischen Armee, die Kompetenzen entrissen und an Erdogan übertragen.

Aufgrund ihrer militärischen Schwäche sah sich die Türkei in Syrien auch gezwungen, Aleppo aufzugeben und sich gegen die Kurden in Nordsyrien zu konzentrieren. Die bisherigen Stellvertreter der türkischen Kriegsführung in Syrien wie die Freie Syrische Armee, Al Nusra und Ahrar al-Sham fühlten sich in Aleppo von der Türkei verraten und verkauft, weshalb sie heute nicht mehr wie gewünscht in al Bab (Nordsyrien) kämpfen können. Deshalb kämpft die türkische Armee jetzt an vorderster Front und muss große Verluste in den eigenen Reihen in Kauf nehmen. Es ist fast unmöglich mit einer konventionellen Armee gegen die IS oder andere derartige Banden vorzugehen, da diese asymmetrischen Kriegstaktiken folgen. Dennoch setzt die Türkei ihre ganze Kraft in al Bab ein, um nur zu verhindern, dass die Kurden hier keinen Korridor zwischen den Kantonen Afrin und Kobane öffnen.

Aber auch die irakische Armee samt den Spezialeinheiten der schiitischen Miliz ist seit vergangenem Oktober bei der Befreiungsoffensive von Mosul in einer Sackgasse. Sie erlitten schwere Verluste, was den Verlust der Kampfmotivation von Soldaten zur Folge hatte. Diese Verluste entstehen trotz der großzügigen Hilfe aus den USA und dem Iran. Aber auch die Peschmerge der KDP können nicht die erhofften Erfolge, trotz großzügiger Unterstützung aus dem Ausland erzielen.

In morgen folgenden zweiten Teil der Analyse geht Nilüfer Koc auf die Situation in Mosul, die Forderungen der Minderheiten im Mittleren Osten und die Expansionsbestrebungen der Türkei in der Region ein.