Der »Zeitgeist« ist auf der Seite des Friedens, der Freiheit und …

zamanin ruhGünay Aslan, Journalist

Bereits Ende 2012 war ersichtlich, dass ein neuer Verhandlungsprozess anbrechen wird, bei dem der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan im Zentrum steht.

Nach dem Abbruch der Oslo-Gespräche im Sommer 2011 erlebten wir von Neuem eine blutige Phase, die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär nahmen zu, die PKK startete einen neuen militärischen Vorstoß und innerhalb eines Jahres verloren mehr als tausend Menschen ihr Leben. Die »Sicherheitspolitik« der AKP schlug somit fehl. Ein militärischer Sieg über die PKK blieb ihr ein unerfüllter Traum.

In derselben Zeit bestimmten die kollektiven Hungerstreiks kurdischer PolitikerInnen in den Gefängnissen der Türkei und Kurdistans die Tagesordnung. Der von tausenden Gefangenen geführte Hungerstreik im Herbst 2012 wurde erst nach einem Aufruf des PKK-Vorsitzenden Öcalan beendet. Während dieser zuvor einer Totalisolation ausgesetzt gewesen war und mehr als dreißig seiner AnwältInnen inhaftiert worden waren, öffnete der türkische Ministerpräsident Erdogan nun erneut die Tore nach Imrali, wodurch sich eine Rückkehr Öcalans auf die politische Bühne bereits abzeichnete.

Neben dem bereits genannten Aufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen und den Hungerstreiks in den Gefängnissen war ohne Zweifel die Übernahme der Kontrolle der Bevölkerung Westkurdistans über ihre Städte eine wichtige politische Entwicklung, welche die Position der PKK und somit auch Öcalans weiter gestärkt hat.

Der türkische Ministerpräsident hat vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen seine erneute Gesprächsbereitschaft mit Öcalan gezeigt. Mit Beginn des Jahres 2013 wurde in die praktische Phase der Imrali-Gespräche eingetreten. Seit 14 Jahren wurde erstmals der Besuch einer politischen Delegation auf Imrali gestattet. Mit dem Besuch der BDP-Abgeordneten Ahmet Türk und Ayla Akat Ata auf Imrali begann nun die von Erdogan als »Lösungsprozess« bezeichnete Phase offiziell.

Am 21. März 2013 wurde dann auf den Newroz-Feierlichkeiten von Amed (Diyarbakir) in Anwesenheit von mehr als einer Million Menschen ein Meilenstein in diesem Prozess gesetzt. Das vom PKK-Vorsitzenden verfasste Manifest für die Lösung der kurdischen Frage mit demokratischen und friedlichen Mitteln wurde in kurdischer und türkischer Sprache vorgetragen. Viele nationale und internationale Medien übertrugen dieses Ereignis live.

Öcalan kündigte in seiner Erklärung zunächst an, dass die Phase des bewaffneten Kampfes zu Ende sei und nun die Lösung der Frage auf einer politischen Basis gefunden werden müsse. Anschließend erklärte er, in der Türkei müsse ein neues politisches System errichtet werden, das auf dem demokratischen Willen, der Gleichheit und der Freiheit der Völker basiert. Ihm zufolge ist ein regionales Bündnis zwischen dem türkischen und dem kurdischen Volk unausweichlich, und dementsprechend sollten alle verantwortungsbewusst handeln.

Seit Beginn des Gesprächsprozesses auf Imrali sind nun vier Monate vergangen. Wenn wir jetzt einen Blick zurückwerfen, können wir für diese Zeit Folgendes festhalten:

1. Die kurdische Bevölkerung aus allen vier Teilen Kurdistans ist in diesem Prozess der Einigung nähergekommen.

2. Die internationale politische Konstellation in der Region begünstigt gegenwärtig einen nachhaltigen Lösungsprozess.

3. Auch die Entwicklungen in Syrien haben einen wichtigen Einfluss. Die KurdInnen in Syrien haben ein Friedensabkommen mit der Freien Syrischen Armee (FSA) unterzeichnet. Daraufhin hat das Assad-Regime begonnen, die KurdInnen zu bombardieren. Ob das Regime damit irgendwelche Ergebnisse erzielt, ist mehr als fraglich.

Die wichtigsten Entwicklungen hat der gegenwärtige Prozess selbstverständlich in der Türkei selbst ausgelöst. Die politischen Verhältnisse im Land verändern sich nachhaltig und es durchlebt gerade ihre Erschütterung.

Mittlerweile ist ein Monat seit dem Aufruf Öcalans vergangen. Das Echo und die Diskussionen halten weiter an. Einerseits wird versucht, das in den letzten dreißig Jahren deutlich gestörte gegenseitige Vertrauen wiederaufzubauen. Andererseits werden mögliche Lösungsmodelle diskutiert. Es wird nach Wegen gesucht, wie die bewaffneten Kräfte der PKK sich hinter die türkischen Landesgrenzen zurückziehen können und wie ein solcher Schritt im Sinne einer demokratischen und gerechten Lösung sein kann.

Seit Anfang April wurden hierzu binnen kürzester Zeit vier wichtige Schritte getan. Zunächst wurde bei einer Zusammenkunft zwischen einer staatlichen Delegation und Abdullah Öcalan über die Art und die Umstände eines möglichen Rückzugs diskutiert. Kurz nach dieser Zusammenkunft reiste eine Delegation der BDP zunächst nach Imrali und dann nach Kandil. Kovorsitzender Selahattin Demirtas, der Teil der Delegation war, erklärte nach dem Kandil-Besuch, sie hätten den PKK-Verantwortlichen einen Brief Öcalans überbracht. Die PKK habe trotz einiger Bedenken versichert, den Prozess zu unterstützen. Während ich diese Worte zu Papier bringe, wird dieser Tage ein erneuter Aufruf Öcalans erwartet.

Der zweite wichtige Schritt in diesem Monat ist die Erfüllung einer seit Jahren von der PKK verlangten Forderung nach einer »Kommission der Weisen«, die einen positiven Beitrag zu einer demokratisch-friedlichen Lösung leisten kann. Seit Jahren hatte sich die AKP-Regierung gegenüber dieser Forderung taub gestellt. Nun hat sie es sich anders überlegt und einen Rat aus sieben neunköpfigen Gruppen zusammengestellt. Die Gruppen verteilen sich auf sieben Regionen der Türkei und werden dort vor Ort ihren Aufgaben nachkommen. Auch wenn die kurdischen PolitikerInnen die Art und Weise kritisieren, wie diese Weisenkommission zusammengestellt worden ist, so haben sie doch ihrer Arbeit ihre Unterstützung zugesichert.

Ein weiterer wichtiger Schritt wurde im Parlament eingeleitet. Die AKP hat dort die Gründung einer Kommission vorgeschlagen, die sich mit dem möglichen Rückzug der Guerillakräfte der PKK beschäftigt. Auch das entspricht einer gewichtigen Forderung der PKK. Und dem ist im Parlament mit den Stimmen von AKP und BDP zugestimmt und somit die Untersuchungs- und Aufsichtskommission ins Leben gerufen worden.

Und zuletzt hat sich die parlamentarische Vermittlungskommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung getroffen. Auf dieser Sitzung wurden die Verfassungsentwürfe von AKP, CHP, MHP und BDP diskutiert. Allerdings scheint eine Übereinkunft der Fraktionen hinsichtlich einer neuen Verfassung derzeit eher unwahrscheinlich. Deshalb deutet vieles darauf hin, dass die Verfassung nicht durch einen Parlamentsbeschluss, sondern in einer Volksentscheidung im Herbst dieses Jahres verabschiedet wird.

Ein Ende des Krieges in der Türkei steht in direkter Verbindung mit einem politischen Lösungsprozess in der kurdischen Frage. Trotz einiger Probleme macht der Prozess gegenwärtig auf zwei Ebenen Fortschritte. Es wird offensichtlich, dass die bevorstehenden Tage, Wochen und Monate richtungsweisend sein werden.

Es scheint, dass der türkische Staat in der kurdischen Frage auf der Suche nach einem strategischen Neuanfang ist. Innerhalb seiner Grenzen weckt er mit der Aufnahme des Imrali-Prozesses Hoffnungen auf eine Lösung. Und in der Region versucht er sein Verhältnis zu allen Teilen Kurdistans neu zu strukturieren.

Vor allem die strategischen Abkommen mit Südkurdistan sind hier von Bedeutung. Die Türkei versucht trotz Einwänden der irakischen Zentralregierung durch Öl- und Gasabkommen die Zusammenarbeit mit Südkurdistan zu stärken. Sie scheint zu verstehen, dass sie bei der Neustrukturierung des Nahen und Mittleren Ostens auf eine langfristige Allianz mit den KurdInnen und Kurdistan angewiesen ist.

Auch wenn die Türkei sich noch nicht ihrer Vergangenheit gestellt hat und auch wenn sie noch keine klare Vorstellung von der Lösung der Frage entwickelt hat, sehen wir, dass sie gewisse Suchanstrengungen an den Tag legt. Der Gesprächsprozess auf Imrali ist ein Ergebnis dessen. Die Türkei konnte die KurdInnen nicht aus der Geschichte löschen, nun sucht sie nach Wegen einer gemeinsamen Zukunft mit ihnen.

Wie ernst sie es damit allerdings meint, wird sich im Verlauf dieses Prozesses zeigen. Auf Seiten der PKK sind keine Probleme zu erkennen. Der PKK-Vorsitzende nähert sich der gegenwärtigen Phase strategisch an und schlägt für eine Lösung der Frage ein regionales türkisch-kurdisches Bündnis vor.

Wie die Türkei darauf antwortet, kann in der aktuellen Etappe des Prozesses noch nicht abgesehen werden. Zumal die Provokationen vonseiten der CHP, der MHP und nationalistischer Kreise des Militärs weiter anhalten. Wie die Türkei mit Kräften umgehen wird, die diesen Prozess sabotieren wollen, und ob der türkische Ministerpräsident eine mögliche Lösung seinen politischen Kalkulationen opfern wird, kann noch nicht vorhergesagt werden.

Kurgefasst: Auf dem Weg in Richtung eines Friedens haben KurdInnen und TürkInnen noch schwere Zeiten vor sich. Dennoch müssen wir unsere Hoffnung bewahren, denn der »Zeitgeist« ist auf der Seite des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit.

Quelle: Kurdistan Report Nr. 167 Mai/Juni 2013

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