Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 11.09.2016
Mit Bedauern mussten wir in den letzten Tagen feststellen, dass immer mehr Medien in Europa die türkische Berichterstattung gegen die demokratische Selbstverwaltung in Rojava/Nordsyrien in diffamierender Weise in ihren Worten wiedergeben. Dabei geht es vielen Journalisten nicht darum, unterschiedliche Meinungen zur Situation in Nordsyrien und zum Konzept der Demokratischen Autonomie an die Öffentlichkeit zu tragen, sondern darum, dass offensichtliche Falschbehauptungen von erfahrenen Kriegsberichterstattern wie Christoph Reuter im Spiegel in Umlauf gebracht werden.
So behauptet er: „In Manbidsch befestigen kurdische Milizionäre und einige Ausländer, deren Herkunft unklar ist, Gefechtsstellungen. Wenige Kilometer vor der Stadt stehen seit Tagen türkische Panzer und syrische Rebellen aus der Umgebung. Auf Druck der USA, die mit beiden Parteien verbündet sind, rollen sie vorläufig noch nicht.“
Minbic (Manbidsch) wurde von den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in einem 70 Tage dauernden blutigen Kampf befreit. Getragen wurde der Kampf dabei vor allem vom Militärrat von Minbic, der sich in erster Linie aus der Lokalbevölkerung der Stadt zusammensetzt. Der Militärrat von Minbic besteht aus acht arabischen und turkmenischen Gruppen. Die Verwaltung der Stadt wurde allerdings sofort nach der Befreiung der Stadt an die zivilen lokalen Räte übergeben. Insbesondere in der Umgebung von Minbic gibt es weiterhin viele kurdische Dörfer. Die Übergabe an eine lokale Verwaltung und der Kampf des mit den SDF verbundenen Militärrates werden in dem oben erwähnten Zitat in keiner Weise erwähnt. Stattdessen verwendet der Autor hier mit dem Ausdruck „Milizionäre und einige Ausländer, deren Herkunft unklar ist“ Begrifflichkeiten, die den Anschein erwecken, die Region sei von fremden Truppen besetzt worden.
Ähnlich argumentiert auch der türkische Staat, wenn er über die Gebiete, die durch die SDF vom IS befreit werden, berichtet, diese würden von den KurdInnen besetzt werden, um dort anschließend Entvölkerungskampagnen gegen die arabische Lokalbevölkerung durchzuführen. Dieselbe Strategie wurde bereits in der Region Tell Abyad (Gire Spî) angewandt, welche vor allem von Araber_innen und Turkmen_innen bewohnt ist. Die Türkei erhob nach der Befreiung der Stadt die Behauptung ethnischer Säuberungen, um einen Einmarsch in die Region rechtfertigen zu können. Mittlerweile haben viele Journalist_innen und Menschenrechtler_innen die Region besucht und konnten feststellen, dass hier eine multiethnische Selbstverwaltung aufgebaut wurde, welche von allen Bevölkerungsgruppen der Region getragen wird. Denn die Demokratische Föderation Nordsyrien, zu der neben den drei Kantonen Rojavas auch Gire Spî und Minbic gehören, versteht sich explizit nicht als kurdisches Projekt, sondern als ein multi-ethnisches und multi-religiöses Gesellschaftsmodell, in welchem sich alle Menschen der Region widerfinden können sollen. So gibt es im Gegensatz zu allen anderen Ländern der Region nicht nur eine offizielle Sprache, sondern in allen Erklärungen und Einrichtungen werden Aramäisch, Arabisch und Kurdisch gleichberechtigt benutzt.
Das Modell der Selbstverwaltung mit seinen Konzepten von Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Säkularismus steht diametral den Vorstellungen des IS gegenüber. Der Kampf gegen den IS ist für die Einheiten der SDF kein Vorwand, sondern eine humanitäre und politische Notwendigkeit. Die SDF nahmen ihre Operation auf Wunsch des Exilrates von Minbic auf und nicht aus eigenem Eroberungsinteresse. Letzterem wäre die Übergabe der Stadt an die Regionalverwaltung auch entgegengesetzt. Es geht es den Demokratischen Kräften Syriens darum, eine Region zu schaffen, in der sich die Menschen mit ihren Rechten selbst entfalten und repräsentieren können. Und entsprechend dieser Zielsetzung haben wir es bei den Demokratischen Kräften Syriens auch mit einer Koalition regionaler und lokaler Kräfte zu tun.
In seiner weiteren Darstellung bezeichnet Christoph Reuter die YPG, die YPJ und die SDF als Ableger der PKK, die mit einer kleinen Anzahl arabischer Kämpfer Vielfalt suggerieren wolle. Doch alle drei Einheiten sind keine Ableger der PKK, sondern eigenständige Organisationen mit einer eigenen Führungsstruktur. Auch YPG (Volksverteidigungseinheiten) und die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) setzen sich aus Angehörigen verschiedenster politischer Richtungen und unterschiedlichster Identitäten zusammen. Dass die Volksverteidigungskräfte Abdullah Öcalan als Ideengeber für das Modell des Demokratischen Konföderalismus für eine wichtige symbolische Persönlichkeit halten, ändert nichts an dieser Tatsache. Denn Öcalan ist diesem Kontext Symbol der Demokratiebewegung, der Frauenbefreiung und der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens aller Völker. Auch aus diesem Grund kämpfen in den YPG und YPJ viele Assyrer_innen, Araber_innen, aber auch Internationalist_innen aus vielen Ländern. Die SDF ist hingegen ein Dachverband, dem eine große Zahl arabischer und assyrischer Kämpfer_innen angehören. Alleine die arabische Gruppe Sanhadid-Einheit zählt mehrere tausend Kämpfende. Und die Sanhadid ist nicht der einzige arabische Kampfverband in der SDF. Gerade der im Kampf um Minbic gefallene Kommandant im Militärrat von Minbic Abu Leyla und die vor allem aus Araber_innen und Turkmen_innen bestehende Widerstandsgruppe Shams al Shamal steht für diese enge Zusammenarbeit. Abgesehen von der Tatsache, dass sehr viele Araber_innen mittlerweile selbst für die Demokratische Autonomie an vielen Orten in Rojava auf die Straße gehen und sich zu tausenden am Widerstand gegen den IS beteiligen, ist es schwer ihre genaue Anzahl zu beziffern. Woher Christoph Reuter die gesamte ethnische Zusammensetzung der SDF kennen möchte, bleibt sein Geheimnis.
Im nächsten Absatz bezeichnet Christoph Reuter die YPG und YPJ als „brennende Nationalisten“, ein weiterer gravierender Fehler, hat doch die Selbstverwaltung der Demokratischen Föderation gerade sogar das kurdische Wort „Rojava“ – „Westen“ aus ihrem Titel gestrichen, weil sie explizit kein nationalistisches Projekt mit dem Ziel einer Staatsgründung ist, sondern es um eine wirkliche Demokratisierung Syriens und des ganzen Mittleren Ostens geht. Insbesondere Abdullah Öcalan und die PKK, die für Reuter hinter allem stehen, sind explizite Antinationalisten im Gegensatz zur Türkei, Syrien, dem Irak oder auch der mit der Türkei verbündeten kurdischen Barzani-Regierung in Südkurdistan/Nordirak. Der Autor behauptet, die „PKK/YPG“ wolle einen Staat aus Syrien herauslösen. Dabei vergisst, er, dass erstens die YPG keine politische Kraft ist und dass auch die Selbstverwaltung von Rojava und die Demokratische Föderation einen Föderalismus für Syrien vorschlägt, somit also eine Eigenstaatlichkeit explizit ablehnt. Die Selbstverwaltung hat mehrfach deutlich gemacht, dass sie prinzipiell gegen ein staatliches Modell steht. Der Nationalstaat wird nämlich als ein Modell betrachtet, das Unterdrückungsmechanismen in der Gesellschaft reproduziert. Auch Abdullah Öcalan legt in seinen Verteidigungsschriften ausführlich dar, weshalb das Staatsmodell dem Ziel gesellschaftlicher Befreiung zuwiderläuft.
Dass Christoph Reuter die Sicherheitskräfte von Rojava, also die Asayish, als „Partei-Geheimdienst“ bezeichnet, ist nicht nur ebenso falsch, sondern fast schon bösartig. Asayish sind Sicherheitskräfte, die autonom und demokratisch organisiert sind. Menschenrechtsorganisationen haben jederzeit Zugang zu den Strukturen der Asayish, die transparent gehalten sind.
Viele Behauptungen, welche in dem Bericht aufgestellt werden, entsprechen also nicht der Wahrheit. Es fällt schwer davon auszugehen, dass eine solche Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht zufällig entstanden ist. Vielmehr steht der Verdacht im Raum, dass der Artikel unter dem Einfluss einer großangelegten Desinformationskampagne steht, welche die Legitimität der Demokratischen Föderation Nordsyrien untergraben soll. Gleichzeitig, und das ist vermutlich noch gefährlicher, wird der Eindruck erweckt, dass die Besatzungsoperation der Türkei und der mit ihr agierenden dschihadistischer Gruppen, die ja auch die Stadt Minbic zum Ziel auserkoren haben, gerechtfertigt ist.
Doch der einfachste Weg diese Gefahr vorzubeugen, ist es, sich ein eigenes Bild von der Region zu machen. Deshalb laden wir Journalisten_innen und Menschenrechtler_innen dazu ein, nach Rojava und in die Demokratische Föderation Nordsyrien zu kommen, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.