Die Chance zur Freiheit

sebahat tuncelEinschätzung des aktuellen Gesprächsprozesses
Sebahat Tuncel, BDP-Abgeordnete für Istanbul

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts strukturiert sich der Mittlere Osten von neuem und auch die Kurdistan-Frage, die seit 200 Jahren noch immer ungelöst ist, erlebt einen historischen Prozess. Geografisch ist es in vier Teile geteilt: Die Staaten Iran, Irak, Syrien und Türkei haben dem kurdischen Volk mit ihrer Unterdrückungspolitik keine andere Möglichkeit als den Widerstand gelassen. Und die Kurdinnen und Kurden haben diesen gegen die herrschende Politik und zum Schutz ihrer Existenz, Identität, Kultur und Sprache zu leisten gewusst. Dieser Widerstand, der Kampf des kurdischen Volkes im Mittleren Osten um Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie, ist heute einem Sieg sehr nahe. Der Verlauf der Revolution in Syrisch-Kurdistan (Rojava [kurd.: Westen, gemeint Westkurdistan]) entwickelt sich in Bezug auf die Errungenschaften des kurdischen Volkes sehr positiv.

Dessen organisierter Kampf unter Führung der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die Beteiligung der Bevölkerung an der Revolution und die zur Sicherheit der Bevölkerung aufgestellten Verteidigungskräfte sind eine wichtige Praxis des revolutionären und sozialistischen Kampfes im 21. Jahrhundert. Die kurdische Befreiungsbewegung hat zum ersten Mal in der Praxis die Möglichkeit zur Umsetzung ihres demokratischen, ökologischen, geschlechterbefreiten und freiheitlichen Paradigmas in die Hand bekommen. Der Erfolg dessen wird für die Zukunft der Völker des Mittleren Ostens als Erfahrung langfristig von unschätzbarem Wert sein. Der Prozess der Revolution in Rojava stellt also einen wichtigen Punkt darin dar, die Infrastruktur des vom Vorsitzenden Abdullah Öcalan vorgestellten Modells der »demokratischen Konföderation im Mittleren Osten« aufzubauen und die Voraussetzungen für dessen Verwirklichung zu schaffen. Dieser Prozess wird auch von maßgeblicher Bedeutung für die anderen Teile Kurdistans im Kampf um Gleichheit und Freiheit sein. Es steht fest, dass der gegenwärtige politische Prozess in der Türkei in Richtung einer möglichen Lösung des Problems von den Entwicklungen in Syrien und Syrisch-Kurdistan beeinflusst wurde und wird.

Und auch in Türkisch-Kurdistan werden historische Entwicklungen durchlebt. Seit dreißig Jahren gibt es zwischen dem türkischen Staat und der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) einen vom Staat als »Terror«, von manchen als Krieg niederer Intensität, von anderen wieder als Gefechtssituation bezeichneten Krieg und wir erleben derzeit einen Prozess, in dem sich eine Gelegenheit zur friedlichen Lösung herauskristallisiert. Auch wenn es noch zu früh ist zu sagen, der Frieden ist da, der Krieg wird beendet, finden doch wichtige Entwicklungen für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage statt. Der Aufstand, den die Türkei jahrelang mit ihrer Sicherheitspolitik zu unterdrücken versuchte, der aber täglich von mehr Menschen getragen wurde, lenkte die Regierung dahin, ihre Politik noch einmal zu überdenken. Der seit dreißig Jahren ununterbrochen geführte Befreiungskampf des kurdischen Volkes hat die Verleugnungs-, Vernichtungs- und Assimilationspolitik des türkischen Staates zunichtegemacht. In dem dreißig Jahre dauernden Kampf sind fast 50?000 Menschen gestorben, 40?000 davon Kurden, tausende Morde unbekannter Täter fanden statt, annähernd 4?000 Dörfer wurden vom Staat zwangsweise geräumt, fast 4 Millionen Kurden zur Emigration gezwungen und mit der Einführung des Dorfschützersystems wurde das kurdische Volk gegeneinander in den Krieg getrieben. Besonders in den 90er Jahren wurden Menschenrechte und Freiheiten vor allem vom Staat verletzt und es wurden auf dem Boden Kurdistans unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Trotz allem hat die Bevölkerung Widerstand geleistet, in ihrem Befreiungskampf überaus wichtige Fortschritte gemacht und dadurch an einer Kraft und einem Einfluss gewonnen, die das Gleichgewicht im Mittleren Osten durcheinanderbringen können. Diese Realität ist heute sowohl national als auch international noch deutlicher zu erkennen. Der organisierte Kampf des Volkes für die Lösung der kurdischen Frage wird auch von nun an weitergehen.

Zweifellos hat der kurdische Vorsitzende Herr Öcalan den größten Anteil daran, dass sich in der Türkei diese positive Stimmung um die Lösung des kurdischen Problems entwickelt hat. Seit er dafür ab dem Jahr 1993 eine Lösung auf freiheitlicher Ebene sucht, scheint nun auch der Staat erstmals nach (dem verstorbenen) Turgut Özal offiziell darauf zu reagieren. Die Ergebnisse der 2008 zwischen Öcalan und dem Staat geführten Gespräche (der Öffentlichkeit als Osloer Prozess bekannt), die Roadmap und die Protokolle, sind von der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) abgelehnt und der Prozess von ihr gekappt worden. Davon überzeugt, mit der traditionellen Sicherheitspolitik ein Ergebnis erzielen zu können, hat die AKP nach dem Abbruch der Gespräche am 14. April 2009 eine unglaubliche Unterdrückungspolitik gegen die kurdische demokratische Politik (damals die Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP) in Gang gesetzt. Unter dem Etikett KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) sind zehntausende Politiker der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) mit Hilfe der Gerichte dem politischen Massaker ausgesetzt worden. Die Isolationshaft gegen Herrn Öcalan ist eingeführt worden. Er durfte fast anderthalb Jahre nicht mehr von Familienmitgliedern und seinen Rechtsanwälten besucht werden. Fast 50 Anwälte, die auf der Insel Imrali waren, sind verhaftet worden, weil sie mit ihm gesprochen haben. Gleichzeitig hat die AKP-Regierung die Militäroperationen verstärkt, um das kurdische Problem mit einem letzten Angriff zu bezwingen, wogegen das kurdische Volk überall glorreich Widerstand gezeigt hat. Dieser Widerstand und dass das kurdische Volk und die Befreiungsbewegung auf der Freiheit bestanden, hat erneut die beharrliche Verleumdungs-, Vernichtungs- und Assimilationspolitik des Staates zu Fall gebracht. Das heute erkennbare politische Bild ist nicht unabhängig von diesem Widerstand zu verstehen. Die im Rahmen der, von der AKP-Regierung unter Vorwänden durchgeführten, KCK-Razzien verhafteten Politiker begannen am 12. September 2012 [Jahrestag des Militärputsches in der Türkei 1980] einen unbefristeten Hungerstreik mit der Forderung der »Schaffung von Bedingungen, welche die Gesundheit, Sicherheit und Freiheit des Vorsitzenden Abdullah Öcalan gewährleisten, um mit ihm Verhandlungen für die Lösung der kurdischen Frage zu beginnen«. Die zweite Forderung der Hungerstreikenden betraf die Abschaffung der Verbote hinsichtlich der kurdischen Sprache, vorrangig beim Recht auf die Verteidigung in der Muttersprache. Der Hungerstreik wurde erst am 68. Tag mit dem Aufruf Herrn Öcalans beendet, was sowohl in Kurdistan als auch in der Türkei ein großes Echo fand und von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, Akademikern mit Erleichterung begrüßt wurde. Diese riefen die AKP-Regierung nun auf, die beiden Forderungen zu erfüllen. Das stellt einen Wendepunkt in der Vergesellschaftung der Friedens- und Lösungsforderungen dar.

Diese Entwicklungen wirkten sich darauf aus, erneut mit Herrn Abdullah Öcalan in den Dialog zu treten und Gespräche zu beginnen. Der Besuch unserer beiden BDP-Abgeordneten Ayla Akat Ata und Ahmet Türk auf der Gefängnisinsel Imrali und ihr dortiges Gespräch mit Herrn Öcalan stellen eine neue Etappe für die Lösung der kurdischen Frage dar. Später kamen Pervin Buldan, Altan Tan und Sirri Süreyya Önder und im Anschluss der Kovorsitzende der BDP, Selahattin Demirtas, nach Imrali und diskutierten mit ihm. Im Verlauf dieser Diskussionen legte Herr Öcalan seine Ansichten zur Lösung der kurdischen Frage dar, schrieb Briefe nach Kandil, Europa und an die BDP, in denen er drei Phasen zur Lösung vorstellte, nahm deren Ansichten und Vorschläge auf, und während der historischen Newroz-Feier in Amed (Diyarbakir) am 21. März 2013, vor fast zwei Millionen Menschen und Millionen von Fernsehzuschauern, ließ er mit den Worten »Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen Politik« seine Botschaft verkünden. Dieser Aufruf ist zunächst vom Volk in Kurdistan, dann von den Völkern in der Türkei und vom Ausland begrüßt worden. Herr Öcalan hat in seiner am Newroz-Tag verlesenen Nachricht, sich an die Völker des Mittleren Ostens und Mittelasiens wendend, dazu aufgerufen, gemeinsam den Frühling der Völkerbefreiung zu erleben. Er hat alle unterdrückten Völker, Klassen, Kulturen, die Arbeiterklasse, Frauen, Glaubensgruppen, die ökologischen Aktivisten, alle, die in diesem System als nicht existent betrachtet werden, dazu aufgerufen, gegen die kapitalistische Moderne die demokratische Moderne zu errichten. Damit unterstrich er, dass die Idee, die Ideologie und die demokratische Politik die Basis des neuen Kampfes sind.

Auf diesen Aufruf antwortete Murat Karayilan [als KCK-Exekutivratsvorsitzender für KCK, PKK und HPG] einige Tage später bei den Newroz-Feiern in Bonn/Deutschland und verkündete einen Waffenstillstand. Diese Situation bedeutet im Hinblick auf eine Lösung des kurdischen Problems eine neue strategische Etappe. Auch wenn die Forderungen sehr dürftig von der AKP-Regierung umgesetzt wurden, hat das Parlament seine Rolle übernommen, und die »Kommission der Weisen« ist zusammengestellt worden, um diesen Prozess zu befördern. Erstmals in der Geschichte der türkischen Republik wird offen für die Öffentlichkeit mit der PKK verhandelt. Ob dieser Prozess erfolgreich sein wird oder nicht, wird uns die Zeit zeigen. Dabei zeigen Umfragen in der Türkei, dass die friedliche Lösung dieses Problems die Forderung eines großen Teils der Menschen geworden ist. Allein diese Tatsache zwingt uns eigentlich zu einem erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses.

Es ist eine Tatsache, dass die Gruppen, die gegen Frieden und eine Lösung sind, von diesem Prozess beunruhigt sind. Es liegt auf der Hand, dass die grauenvolle Ermordung dreier revolutionärer Frauen in Paris so kurz nach den Gesprächen auf Imrali der Sabotage dieses Prozess dienen sollte. Obwohl seit diesem Massaker fast vier Monate vergangen sind, ist es noch immer nicht aufgeklärt. Frankreich und die Türkei stehen noch immer unter Verdacht. Und solange das Massaker nicht aufgeklärt wird, so lange sind diese beiden Staaten verantwortlich. Es ist kein Geheimnis, dass nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch in der Türkei eine Lösung des Problems einige Gruppen beunruhigt. Die Oppositionsparteien Republikanische Volkspartei (CHP) und Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) betonen bei jeder Gelegenheit ihre Ablehnung dieses begonnenen Prozesses. Die MHP bringt nicht nur ihre Beunruhigung zur Sprache, sie schafft auch Unruhe auf den Straßen. Sie organisiert vor allem faschistische Angriffe auf kurdische Studierende an den Universitäten. Die Antwort des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli »die Zeit wird noch kommen« auf die Parole »Sag: schlag zu, und wir werden zuschlagen, sag: stirb, und wir werden sterben« zeigt, dass die MHP jeder möglichen Provokation die Basis liefern wird, um diesen Prozess zu verhindern. Eine fast schon tragische Figur macht in diesem Prozess die CHP. Mal abgesehen davon, dass diese vermeintlich sozialdemokratische Partei für solch ein diffiziles Problem kein einziges Projekt hervorbringt, ist stattdessen zu beobachten, dass sie sich ganz besondere Mühe dabei gibt, diesen begonnenen Prozess zu unterbinden. »Wir sind für Frieden, wir haben den ersten Kurdenbericht vorbereitet«, das sind zwar Äußerungen von ihnen, aber mit ihrem Vorschlag für die Verfassungskommission erinnerten sie sich auf einmal wieder an ihre »roten Linien«. Und auch bei der Gründung der Kommission, die diesen Prozess beobachten soll, haben sie ihre Vorschläge zurückgezogen und erklärt, dass sie für die Kommission keine Mitglieder stellen würden. Im Gegensatz zur oberen Entscheidungsebene der CHP, die einen dicken roten Strich durch die Forderungen nach Recht und Freiheit macht, ist die Basis für eine Lösung auf demokratischem und friedlichem Wege. Es scheint so, als habe die CHP gegenwärtig zwei Optionen. Entweder muss sie ihrer Basis Gehör schenken und in dieser Phase ihrer Rolle gerecht werden oder sie muss sich ihren Platz auf dem Müllhaufen der Geschichte suchen. Mit ihrer jetzigen Politik scheint letztere die wahrscheinlichere Option.

Die BDP trägt im Vergleich zu den anderen Parteien eine weitaus größere Verantwortung. Während sie einerseits darum ringt, dass Sprache, Identität und kulturelle Forderungen des kurdischen Volkes verfassungsmäßigen und rechtlichen Schutz erfahren, führt sie andererseits einen breiten demokratischen Kampf, um die Erwartungen der Arbeiter, Werktätigen, Frauen und derer, die den ökologischen Kampf führen, zu erfüllen. Auch müssen wir als BDP größte Mühen aufbringen, damit dieser Prozess ungestört verlaufen kann und keinen verhängnisvollen Ereignissen ausgesetzt wird.

Letztlich ist es so, dass der aktuelle Wandel im Mittleren Osten die Zukunft der dortigen Völker neu gestaltet. Es ist undenkbar, dass eine Türkei in diesem neu entstehenden Gleichgewicht ihren Platz einnehmen kann, wenn sie die Forderungen nach Recht und Freiheit der annähernd zwanzig Millionen Kurden in der Türkei und die Realität des organisierten Volkes, entstanden aus dreißig Jahren ununterbrochenen Kampfes um Gleichheit und Freiheit, nicht anerkennt. Und eine Verleugnung der Entwicklungen im benachbarten Syrien einschließlich der vom kurdischen Volk entwickelten Revolution würde die Türkei ins Verderben führen. Zur Voraussetzung dafür, dass die Türkei eine unentbehrliche Kraft im Mittleren Osten wird, gehört die Schaffung eines neuen Rechtsverständnisses mit dem kurdischen Volk in Türkisch-Kurdistan. Wie Herr Öcalan sagte, werden jene, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen, auf den Müllhaufen der Geschichte wandern, und jene, die sich gegen den Strom des Wassers stellen, an den Abgrund getrieben. Wer die Zeichen der Zeit nicht richtig deutet, wird für sich keinen Platz finden.

Dieser eingeleitete Prozess ist folglich sowohl für Kurden als auch für die Türkei als historisch zu betrachten. Aus Sicht der Parteien ist eine Phase erreicht worden, ab der die Rückkehr sehr schwierig ist. Wichtig ist die weitere, gesunde Fortsetzung dieses Prozesses. Dafür muss der Staat greifbarere Schritte tun, dies ist unabdingbar. Es ist im zweiten Schritt vor allem notwendig, dass die Kollektivrechte, das Recht und die Freiheiten des kurdischen Volkes verfassungsrechtlich geschützt werden und das Feld für die demokratische Politik gestärkt wird. Um diesen Prozess gesund weiterverlaufen zu lassen, ist es überlebenswichtig, gesetzliche Hürden, die das Feld für die demokratische Politik einengen, zu beseitigen, das Parteiengesetz zu ändern, die im Verlauf der Operationen des politischen Massakers als Geiseln genommenen kurdischen Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte, Gewerkschafter freizulassen und Gedanken-, Meinungs- und Organisierungsrechte zuzusichern.

Auch internationalen Mächten wie den USA und der EU fallen Aufgaben zu in diesem Prozess. Sie sollten sich die »Terrorliste« noch einmal vornehmen und die PKK, die dem Aufruf des kurdischen Vorsitzenden Abdullah Öcalan gefolgt ist und vom bewaffneten Kampf in den demokratischen Widerstand übergegangen ist, aus dieser Liste streichen. Dadurch kann für den Friedens- und Lösungsprozess ein wichtiger Beitrag geleistet werden. Die Rolle der genannten internationalen Kräfte beim bisherigen Krieg in der Türkei und bei der Weiterführung der Auseinandersetzungen ist bekannt. Daher betrifft es auch diese Kräfte, die eine Rolle dabei spielten, die kurdische Frage in der Türkei ungelöst zu lassen, Mühe und Arbeit aufzuwenden, denn die Geschehnisse sind nicht nur für die Türkei und die dortigen Kurden relevant, sondern gehen die Zukunft des gesamten Mittleren Ostens an.

Kurdistan Report Nr. 167 Mai/Juni 2013

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