Eine Bewertung der Menschenrechts­verletzungen in der Türkei

ihdDer Bericht des Menschenrechtsvereins IHD für das Jahr 2012
Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V., 15.04.2013

Im April letzten Jahres veröffentlichte der Menschenrechtsverein in der Türkei (Insan Haklari Dernegi, IHD) seinen Menschenrechtsbericht für das Jahr 2011. Darin wurde ein signifikanter Anstieg der Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Vorjahren festgestellt, und dass die Türkei sich zunehmend in einen autoritären Polizeistaat verwandele. Sehen wir uns nun den neuen IHD-Bericht an, erkennen wir, dass die Menschenrechtsverletzungen seitens des türkischen Staates auch 2012 kein Ende genommen haben.

Es gilt zunächst für das Jahr 2013 zu betonen, dass der von dem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan eingeleitete Lösungsprozess eine bedeutende Entwicklung darstellt. Im Gegensatz zu den schweren Menschenrechtsverletzungen 2012 ist aus menschenrechtlicher Sicht im Jahr 2013 – bis jetzt – eine Phase der Entspannung zu verzeichnen. Besonders der Aufruf Öcalans »Die Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken und Politik sollen sprechen« am 21. März 2013 auf dem Newroz-Fest in Amed (Diyarbakir) wie auch die Waffenstillstandserklärung der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) und der geplante Rückzug der Guerilla vom türkischen Staatsgebiet spielen hierbei eine wichtige Rolle.

Die Einrichtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission ist für die positive Entwicklung des aktuellen Friedensprozesses und für den gesellschaftlichen Ausgleich von zentraler Bedeutung. Auch für die Phase des Rückzugs der HPG-Guerilla (Volksverteidigungskräfte) vom türkischen Staatsterritorium muss eine Kommission eingerichtet werden, die den Rückzug beaufsichtigt.

Es sollte nicht vergessen werden, dass mit der Lösung der kurdischen Frage auch gleichzeitig die Untersuchung von Massengräbern, das Aufdecken der »Morde durch unbekannte Täter« und von Massenmorden (wie zuletzt Roboski), der (Wieder-)Aufbau der von der Armee zerstörten Dörfer, die Abschaffung des Dorfschützersystems, die Minenräumung und weitere Realitäten einhergehen.

Der Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2012 zeigt, dass die Repression des Polizeistaates weitergeht. Doch hat der Anfang 2013 begonnene Friedensprozess die Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der kurdischen Frage und eine Demokratisierung der gesamten Türkei wieder bestärkt.

Im Folgenden nun zu den Inhalten des am 26.03.2013 veröffentlichten IHD-Berichts 2012:

Verletzung grundlegender Menschenrechte

Die Reihe der Todesfälle bei den schwerkranken Häftlingen in den Gefängnissen hält weiter an und stößt bei der türkischen Regierung auf Gleichgültigkeit. Es gibt derzeit 411 kranke Häftlinge, von denen 124 Schwerkranke sofort entlassen werden müssten. Weitere 121 kranke Häftlinge brauchen dringend umfassende medizinische Versorgung, die ihnen bislang verweigert wird.

Ein Fortbestehen des Dorfschützersystems geht mit Menschenrechtsverletzungen einher. Im Jahr 2012 wurden zwei Menschen durch Dorfschützer getötet und drei weitere verletzt. Eine demokratische Lösung der kurdischen Frage bedeutet gleichzeitig die Abschaffung des Dorfschützersystems.

Durch explodierende Minen und Sprengkörper kamen im Jahr 2012 19 ZivilistInnen, darunter 8 Kinder ums Leben. 85 ZivilistInnen wurden zudem verletzt. Im Jahr 2009 wurden die Minen an der Grenze zu Syrien entfernt, doch für das eigentliche Problem, nämlich die Minen innerhalb des Landes, wurden keine Maßnahmen getroffen. In neun Provinzen der Türkei gibt es in der Nähe ziviler Siedlungen große verminte Flächen. Für die verminten Flächen, die gemäß dem Ottawa-Abkommen bis 2014 bereinigt werden müssen, wurden von der Regierung noch keine entsprechenden Schritte eingeleitet.

Folter und Misshandlung

Nach Angaben des türkischen Justizministeriums betrug 2009 die Zahl der Angeklagten vor Gericht mit dem Vorwurf der Folter und Misshandlung 707. Sie stieg 2010 auf 755 und im Jahr 2011 auf 892 Angeklagte. Das 12.-September-Regime und die fortdauernden bewaffneten Auseinandersetzungen haben in der Türkei ein Klima der Straflosigkeit erzeugt. Die Aussage der Regierung »Null Toleranz gegen Folter« ist nur ein Lippenbekenntnis geblieben. Das wird selbst durch offizielle staatliche Statistiken bestätigt.

Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit

Anfang dieses Jahres ist die Türkei im Pressefreiheits-Ranking von »Reporter ohne Grenzen« (ROG) von Platz 148 auf Platz 154 von insgesamt 179 Staaten abgerutscht. Sie liegt damit hinter Staaten wie Nigeria, Kolumbien oder Russland. Die in New York ansässige Nichtregierungsorganisation Committee to Protect Journalists (CPJ) bezeichnet die Türkei als das »weltweit größte Gefängnis für JournalistInnen«. Am 1. Dezember 2012 waren 49 JournalistInnen inhaftiert, die aufgrund der »Antiterror«-Gesetzgebung oder unter der Beschuldigung mit anderen »staatsfeindlichen« Vergehen festgenommen worden waren. Die meisten inhaftierten JournalistInnen gehören der kurdischen Presse an.

Im Jahre 2012 ist der Zugang zu 6?661 Internetseiten verwehrt worden, weil sie unabhängige Berichte zu Themen wie den Rechten von Minderheiten wie KurdInnen und ArmenierInnen enthielten. Im Bericht der ROG 2012 anlässlich des »Welttags gegen Internetzensur« gehörte die Türkei der Reihe von Staaten an, die »unter Beobachtung« stehen.

Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit

Im Jahr 2012 haben die Menschenrechtsverletzungen in diesem Bereich einen Höchststand erreicht. Nach Angriffen von Sicherheitskräften auf gesellschaftliche Aktivitäten, wie Versammlungen, Kundgebungen oder Demonstrationen, gab es schwere Verletzungen auf Seiten der DemonstrantInnen. Im Osten und Südosten der Türkei gab es 424 Angriffe auf Versammlungen und Kundgebungen. Dass die Angriffe auf die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit im Jahr 2012 zugenommen haben, wird selbst durch offizielle Angaben des türkischen Justizministeriums bestätigt: So lag die Anzahl der Angeklagten, die gegen das Versammlungs- und Demonstrationsrecht nach Art. 2911 des Türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) verstoßen haben, im Jahr 2007 bei 3?294, 2008 bei 3?778, 2009 bei 8?251, 2010 bei 11?462 und im Jahr 2011 bei 13?479 Personen.

Auch die Verwendung von Pfefferspray durch die türkischen Sicherheitskräfte ist besorgniserregend. Die Aussage des ehemaligen Innenministers Idris Naim Sahin, Pfefferspray sei harmlos, zeigt, dass selbst auf höchster politischer Ebene diese Folterpraxis geduldet, wenn nicht sogar unterstützt wird. Die Tatsache, dass im Jahr 2012 bei Angriffen der Sicherheitskräfte auf Demonstrationen und Kundgebungen vier Menschen, darunter der BDP-Vorsitzende des Stadtverbands Arnavutköy, Haci Zengin, durch Tränengasgranaten tödlich verletzt wurden, zeigt, wie ernst die Lage ist.

Organisationsfreiheit

Im Jahr 2012 wurden gegen 18 Vereine Schließungsverfahren eingeleitet. Unbekannte Täter griffen 68-mal Partei- und Vereinsgebäude an. Die Tatsachen, dass die 10-Prozent-Hürde in der Türkei weiterhin besteht, dass die neuen Gewerkschaftsrechte, trotz heftigen zivilen Widerstands, die Rechte der ArbeitnehmerInnen weiter beschränken und dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder weiter gesunken ist, zeigen, dass die Repression des Staates auch in diesem Bereich andauert.

Festnahmen und Inhaftierungen

Nach dem Bericht des IHD hat das AKP-Regime im Jahr 2012 insgesamt 12? 300 politisch begründete Festnahmen, darunter 2?788 Inhaftierungen, veranlasst. Unter den Festgenommenen befinden sich 550 Kinder [in diesem Zusammenhang alle Minderjährigen unter 18 Jahren], von denen 125 inhaftiert wurden. Ein Großteil der Festnahmen und Verhaftungen laufen im Rahmen der sogenannten KCK-Verfahren [KCK = Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans], in denen seit dem Frühjahr 2009 bis dato bis zu 10?000 Personen inhaftiert wurden. Die Türkei wurde unter dem AKP-Regime zum weltgrößten Gefängnis für JournalistInnen, StudentInnen, GewerkschafterInnen, RechtsanwältInnen, BürgermeisterInnen, Frauenaktivistinnen und Kinder.

Demnach wurden beim IHD im Jahr 2009 bei 7?718 Festnahmen 1?923 Inhaftierungen registriert, im Jahr 2010 bei 7?100 Festnahmen 1?599 Inhaftierungen, und im Jahr 2011 waren es bei 12?685 Festnahmen 2?922 Inhaftierungen. Schließlich sind in den letzten vier Jahren laut IHD-Berichten 39?803 Festnahmen und 9?232 Inhaftierungen registriert worden. Bei diesen Zahlen handelt es sich meist um AktivistInnen und Mitglieder der BDP und KurdInnen.

Repression gegen MenschenrechtlerInnen

Auch zahlreiche MenschenrechtlerInnen sitzen in der Türkei hinter Gittern, darunter seit 2009 auch der kurdische Rechtsanwalt und stellvertretende Vorsitzende des IHD, Muharrem Erbey. Ihm wurde Ende 2012 von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger der Internationale Ludovic-Trarieux-Preis verliehen. Auch die beiden IHD-MitarbeiterInnen Roza Erdede und Arslan Özdemir befinden sich weiterhin in Haft. Gegen Dutzende IHD-Mitglieder wurden Verfahren eingeleitet, die weiterhin andauern. Zudem wird die Arbeit der MenschenrechtlerInnen durch staatliche Behörden stark behindert und eingeschränkt. Ohne eine Demokratisierung wird es um die Menschenrechte in der Türkei weiterhin schlecht bestellt sein und dafür ist die friedliche Lösung der kurdischen Frage von entscheidender Bedeutung.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es im Jahr 2012 eine offensichtliche Verschlechterung der Menschenrechtslage gegeben hat.

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