Die demokratische Friedensphase entwickelt sich …

cikmazyolSongül Karabulut, Kurdischer Nationalkongress, Kurdistan Report 167, Juli/August 2013

(…) Es hat auch den Anschein, als bremse die AKP-Regierung den demokratischen Friedensprozess. Jetzt, wo sich die Guerillaeinheiten zurückziehen, kann die AKP fehlkalkulieren, dass eine Waffenruhe ausreiche, um in den Wahlkampf einzutreten. Mit Hinhaltetaktik kann sie die notwendigen Gesetzesänderungen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vor sich herschieben. Die Tatsache, dass die sechste BDP-Delegation erst nach zwei Monaten nach Imrali durfte, ist zu hinterfragen. Wichtige Themen wie die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage sind mit solch großen Zeitabständen zwischen den Gesprächen nicht zu schaffen. Auch die Tatsache, dass sie, statt die Proteste im Gezi-Park zu beruhigen, regelrecht Öl ins Feuer gießt, kann als Vorhaben gewertet werden, dass die AKP auf Zeit spielt. Sollte dies zutreffen, so steht die Türkei vor einem neuen Chaos. (…)

In dem seit über vierzig Jahren anhaltenden türkisch-kurdischen Konflikt wurden zum ersten Mal 1993 Schritte eingeleitet, um den bis dahin überwiegend militärisch ausgetragenen Konflikt in einen politischen Kampf münden zu lassen. Abdullah Öcalan erklärte im März 1993 zum ersten Mal einen einseitigen Waffenstillstand. Seitdem hat sich seine Suche nach einer politisch-friedlichen Lösung immer mehr intensiviert. So können heute direkte Gespräche zwischen dem inhaftierten kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan und einer Delegation der Regierung geführt werden. Vom ersten Waffenstillstand bis heute sind inzwischen zwanzig Jahre vergangen. Die überwiegend einseitigen Bemühungen Öcalans, der seit zwanzig Jahren die Bedingungen für eine friedlich-politische Lösung zu entwickeln versucht, sind hierbei ausschlaggebend und von großer Bedeutung.

Die Wiederaufnahme der unterbrochenen Verhandlungsgespräche Ende letzten Jahres ist ebenfalls auf seine Initiative sowie auf sein kontinuierliches Beharren zurückzuführen. Während in den letzten zwanzig Jahren durch die wechselnden Regierungen der Türkei jeder Funke zur Lösung der kurdischen Frage vom Staat erstickt wurde und sich erst nach langen blutigen Kämpfen erneut Signale entwickelten, gelangte Abdullah Öcalan seit Anfang der neunziger Jahre zu der Einsicht, dass eine politische Lösung notwendig sei, und in diesen zwanzig Jahren hat er Form und Methoden immer weiter verfeinert und konkretisiert. Unzählige konkrete Schritte wurden unternommen und viele einseitige als Zeichen guten Willens entwickelt, die theoretischen Grundlagen für eine Lösung der kurdischen Frage wurden ausgearbeitet und in Form einer Roadmap veröffentlicht.

Als Abdullah Öcalan 1999 nach einem internationalen Komplott auf die Gefängnisinsel Imrali verschleppt wurde, nutzte er diese Gelegenheit – entgegen anderen Erwartungen –, um sich stärker als zuvor für eine friedliche Lösung einzusetzen und die Bedingungen dafür auf beiden Seiten vorzubereiten.

Die ersten direkten Gespräche mit ihm fanden 2009 statt. Nach zwei Jahren brach die staatliche Seite diesen Prozess, auch bekannt als Oslo-Gespräche, im Juli 2011 ab. Es folgte eine äußerst repressive Zeit voller Gewalt, in der sich die kurdische Bewegung erneut beweisen und folglich die Unmöglichkeit einer militärischen Lösung der kurdischen Frage aufzeigen konnte. Nachdem Abdullah Öcalan einen 68-tägigen Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei im Herbst letzten Jahres mit einem Appell hatte beenden können, wurde seine Rolle bei der Problemlösung wieder erkannt. Am 28. Dezember erklärte der türkische Ministerpräsident Erdogan, Gespräche mit Öcalan hätten erneut begonnen. Seitdem bewegen und entwickeln wir uns wieder in der demokratischen Friedensphase. Bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels scheint der erneut aufgenommene Friedensprozess ohne große Störungen zu verlaufen.

Die demokratische Friedensphase entwickelt sich also. Die erste der insgesamt vorgesehenen drei Etappen ist trotz einiger Mängel fast abgeschlossen. Was war oder ist diese erste Etappe? Im Groben dargestellt geht es dabei darum, dass beide Seiten den Willen zum Frieden bekunden, auf ihre Wortwahl achten, einen gewissen Konsens in Bezug auf den Frieden herstellen und auf dieser Grundlage neben einem Waffenstillstand den Rückzug der kurdischen Guerillaeinheiten auf Gebiete außerhalb der türkischen Staatsgrenzen vollziehen. Also eine Atmosphäre schaffen, in der sowohl die Demokratisierung der Türkei als auch die Lösung der kurdischen Frage als untrennbare Elemente debattiert und entwickelt werden können.

Einige Tage nach der historischen Erklärung des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan zum kurdischen Neujahrsfest Newroz am 21. März [s.?vorher. Ausgabe] erklärte der Exekutivratsvorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Murat Karayilan, im Namen der KCK, der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und der Guerilla Volksverteidigungskräfte (HPG) eine Waffenruhe und kündigte auf einer Pressekonferenz am 25. April den Rückzug der Guerillaeinheiten nach Kandil ab dem 8. Mai an. Deren erste Gruppe traf am 14. Mai unter der Beobachtung verschiedener PressevertreterInnen in Südkurdistan ein. Der Rückzug hält seitdem an.

Parallel wurde eine 63-köpfige »Kommission der Weisen« einberufen (je neun Personen für je eines von sieben Gebieten der Türkei), die im gesamten Land mit der Bevölkerung und VertreterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen den Prozess diskutiert. Außer große Versammlungen abzuhalten, treffen ihre Mitglieder auch unmittelbar vom Krieg Betroffene. Die Ergebnisse dessen wird die Kommission als Berichte über die Vorstellungen der Bevölkerung der Regierung und Abdullah Öcalan vorlegen. Auch eine parlamentarische Kommission zur Beobachtung der Verhandlungen und des Abzugs wurde gegründet, in die eigentlich alle Fraktionen Mitglieder entsenden sollten. Da aber die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die Republikanische Volkspartei (CHP) diesen Prozess ablehnen, haben sie sich geweigert, Mitglieder zu benennen, und die Kommission wurde folglich mit zehn Abgeordneten berufen (neun von der Regierungs-Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP, und einer von der Partei für Frieden und Demokratie, BDP). Diese Kommission ist wichtig, um das Parlament in diesen Prozess einzubeziehen und ihn damit parlamentarisch zu legitimieren.

Eine weitere Erwartung gibt es im Hinblick auf die Einstellung der sogenannten KCK-Operationen und die Freilassung aller politischen Gefangenen. In dieser Frage gibt es zwar eine gewisse Entwicklung, wonach kaum neue KCK-Operationen stattfinden, einige Gerichtsverfahren abgeschlossen sind und bislang einige Hundert Personen – überwiegend BDPlerInnen – freigelassen worden sind, aber in den Hauptprozessen in Istanbul und Amed (Diyarbakir) sowie in den Verfahren gegen die AnwältInnen, JournalistInnen und Abgeordneten sind keine Fortschritte zu verzeichnen.

Diese Situation widerspricht dem Geist des Friedensprozesses. Mehrere Tausend Menschen befinden sich im Gefängnis, weil sie sich politisch engagiert haben. Wenn an die Stelle des bewaffneten Kampfes der politische Kampf treten soll, müssen diejenigen Menschen, die aufgrund ihrer politischen Arbeit im Gefängnis sind, freigelassen werden, damit sich die zivile politische Phase entwickeln kann. Zu Recht stellt sich die Frage, welche Absicht verfolgt die Regierung, wenn sie zum einen den Abzug der bewaffneten Guerillaeinheiten einfordert und zum anderen die politischen Kräfte weiterhin im Gefängnis belässt. Oder wie im Fall Roboski, am 28. Dezember 2011 wurden durch einen Angriff der türkischen Luftwaffe 34 Zivilisten ermordet. Das Gericht hat nun beschlossen, dass der Fall nicht in seinem Zuständigkeitsbereich liegt. Die Akte wurde an das Militärgericht weitergeleitet.

Trotz verbaler Zusicherung Ministerpräsident Erdogans, den Guerillakräften beim Rückzug freies Geleit zu gewähren, kommt es vereinzelt zu Gefechten mit dem Militär. Die Informationen, dass die türkische Armee versucht, die Stellungen der Guerilla zu besetzen und unter ihre Kontrolle zu bringen, sowie über den Bau von Militärkasernen an der Grenze sind Besorgnis erregend. Die Bevölkerung versucht als lebende Schutzschilde, mögliche Gefechte und den Neubau von Militärstützpunkten zu verhindern. Sie begibt sich in die Gebiete, in denen es zu Zusammenstößen kommt, und verhindert die Eskalation der Militäroperationen.

Entgegen jeglichen vernünftigen Erwartungen, dass parallel zum Abzug der Guerillaeinheiten die Auflösung des Dorfschützersystems auf der Tagesordnung stehen müsste, hat die AKP-Regierung ihre Anzahl durch neue Rekrutierungen erhöht. Außerdem gibt es Informationen, dass die türkische Armee ihre Aufklärungsflüge über Südkurdistan intensiviert habe. Diese Entwicklungen geben selbstverständlich Anlass zur Sorge. Zu Recht sagt Murat Karayilan am 19. Juni in einem Interview gegenüber ANF: »Eigentlich sollte der Staat in der Phase des Abzuges der Guerillakräfte seine militärischen Aktivitäten reduzieren, doch er befindet sich regelrecht in Kriegsvorbereitung. Mit diesen Vorbereitungen unternimmt er alles Mögliche, um die Phase zu sabotieren. Er bereitet sich auf einen Krieg vor, das ist klar ersichtlich.«

Während der Abzug der Guerilla weiter anhält, beginnt auch schon die zweite Etappe. Was beinhaltet sie und welche Erwartungen sind mit ihr verbunden? In der ersten Phase war die kurdische Befreiungsbewegung am Zuge, indem sie mit einer Waffenruhe und dem Abzug der Guerilla die Bedingungen für Gewaltfreiheit geschaffen hat. In der zweiten Etappe ist die Regierung an der Reihe. Grob gesagt ist die zweite Etappe als die Demokratisierungsphase zu bezeichnen, in der entsprechende Gesetzesreformen sowie eine neue demokratische Verfassung ausgearbeitet und verabschiedet werden sollen. Es gibt unzählige antidemokratische und das demokratische Leben stark beeinträchtigende Gerichtsurteile und Gesetze. Um nur einige zu erwähnen: das Antiterrorgesetz, Parteien- und Wahlgesetze, Sprachengesetz, Wahlhürde, Gesetze, die die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit einschränken.

Erinnern wir uns, am 12. September 2010 wurden in einem Referendum einige Verfassungsänderungen mit 57,88 gegen 42,12 % angenommen. Während die kurdische Bewegung zum Boykott aufgerufen hatte, stimmten Demokraten und Liberale für die Veränderungen, obwohl sie ihnen ebenfalls nicht weit genug gingen. Mit diesem Referendum wurde eigentlich erneut unter Beweis gestellt, dass die Völker der Türkei eine neue demokratische Verfassung fordern. Die AKP ging im Juni 2011 mit dem Versprechen in die Parlamentswahl, unmittelbar nach der Wahl eine neue Verfassung herauszubringen. Zu diesem Zwecke wurde noch im selben Jahr eine parlamentarische Einigungskommission gegründet mit je drei Abgeordneten der vier Fraktionen. Sie sollte ursprünglich am 31. Dezember 2012 ihre Arbeit beenden und im April 2013 sollte die Türkei eine neue Verfassung erhalten. Weil ein Übereinkommen nicht leicht herzustellen war, musste die Arbeit dieser Kommission zweimal verlängert werden, gegenwärtig bis Ende Juni. Echte Fortschritte gab es bislang nicht. Inwieweit ein absolut neues Werk zu erarbeiten sein wird, ist fraglich. Gut möglich, dass eine vorläufige Verfassung in ihren Grundrissen vor den nächsten Wahlen 2015 angenommen, später erweitert und verbessert oder aber die jetzige mit neuen Gesetzespaketen reformiert wird.

Für die ersten beiden Etappen, d. h. Rückzug der Guerillaeinheiten und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, war ein Zeitraum bis Ende dieses Jahres vorgesehen. Inwieweit diese Zeitplanung eingehalten werden kann, bleibt abzuwarten. Unrealistisch ist sie nicht. In Anbetracht der rasanten Entwicklungen der letzten Monate wäre eine neue Verfassung ohne Weiteres auch bis Ende dieses Jahres realisierbar. Das einzig Notwendige ist der Wille der Regierung.

In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass 2014 womöglich ein Jahr der Wahlen in der Türkei sein wird. Kommunal- und Präsidentschaftswahl und vielleicht auch ein Verfassungsreferendum. Zuvor muss die zweite Etappe ebenfalls zumindest teilweise abgeschlossen sein. Wenn in Richtung Wegbereinigung und neue Verfassung bis Ende dieses Jahres sich nichts Konkretes entwickelt, wird der eingeleitete Friedensprozess Schaden nehmen.

Nachdem sowohl der Weg für einen neuen Gesellschaftsvertrag durch Gesetzesreformen bereitet als auch eine neue Verfassung geschrieben ist, tritt die dritte und letzte Phase ein. Sie wird als »Normalisierungsphase« bezeichnet. In ihr muss es darum gehen, einen dauerhaften Frieden zu sichern und den Übergang zu einem normalen Leben zu gewährleisten. Das heißt, die Demokratisierung muss institutionalisiert und parallel dazu Existenz, Freiheit und Sicherheit des kurdischen Volkes garantiert werden. Erst unter diesen Umständen wird die Entwaffnung der Guerilla behandelt werden können.

Klar ist, dass die Haftbedingungen Abdullah Öcalans dahin gehend verändert werden müssen, dass er seine Schlüsselrolle uneingeschränkt ausüben kann. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach seiner Freilassung nur legitim und notwendig. Seine Freiheit kann nicht am Ende dieses Prozesses stehen, sondern muss auf dessen Weg erfolgen.

VertreterInnen sowohl der kurdischen Bewegung als auch der Regierung erklärten, wer sich aus dieser Phase zurückziehe, werde als Verlierer daraus hervorgehen. Zwar befinden wir uns noch nicht auf der Etappe, dass ein Rückzug mehr Schaden anrichtet als den Friedensweg bis zum Ende zu gehen, aber auf diesen Punkt sollten die Konfliktparteien zugehen.

Der kurdische Volksvertreter hatte den BDP-Delegationen auf der Gefängnisinsel Imrali vier Konferenzen vorgeschlagen, die auf Initiative der kurdischen Befreiungsbewegung entwickelt und organisiert werden sollten. Eine in Ankara (fand bereits am 25./26. Mai statt), eine in Europa (in Brüssel, fand am 29./30. Mai statt), eine in Amed (Diyarbakir; fand am 15./16. Juni statt) und eine in Hewlêr (Arbil). Alle vier Konferenzen sollten sich aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zusammensetzen, nicht nur KurdInnen, sondern alle vom System ausgeschlossenen Gesellschaftsschichten und -gruppen sollten in diesen Konferenzen zusammenkommen, um ihre Vorstellungen von einer neuen Türkei auszuarbeiten und ihre Forderungen an eine neue Verfassung zu formulieren. [mehr dazu in diesem Heft]

Risiken für den demokratischen Friedensprozess

Was in all dieser Zeit fehlt und dadurch eine große Gefahr darstellt, ist der Mentalitätswandel bei der Regierung. Die AKP-Regierung erhält ihre despotische und ignorante Position aufrecht. Mit dieser Haltung unterdrückt sie zahlreiche unterschiedliche Gesellschaftsgruppen und versucht das Land über die Köpfe der Bevölkerung hinweg zu gestalten. Ihre Vorstellung von Politik beinhaltet, der Gesellschaft die Werte vorzuschreiben, nach denen sie zu leben habe. Die überhebliche und beleidigende Rhetorik Erdogans hat längst die Gesellschaft polarisiert. Die Einführung des Alkoholverbots rechtfertigt er damit, dass er alle, die Alkohol trinken, als AlkoholikerInnen abstempelt, diejenigen, die nicht nach islamischen Werten erzogen werden, definiert er als verlorene Generation, er gibt vor, wie viele Kinder Frauen auf die Welt zu bringen hätten. Er beschließt, eine Brücke nach Yavuz Sultan Selim zu benennen, ohne auf die Sensibilität der alevitischen Gemeinschaft zu achten (AlevitInnen machen Yavuz Sultan Selim für eines der größten Massaker an ihnen verantwortlich). Er erklärt ein Kunstwerk zur Ruine und ordnet seinen Abriss an, er lässt Theaterzentren schließen, beschließt den Abriss von Kulturzentren, all das, ohne die Reaktion aus der Bevölkerung zu beachten. Diese Politik hat nur den Unmut der Menschen verstärkt. Das Ergebnis dieser diktatorischen AKP-Politik: die wochenlang anhaltenden Demonstrationen und Proteste gegen ihr Vorhaben des Neuaufbaus einer osmanischen Kaserne im Istanbuler Gezi-Park mit Einkaufszentren und Wohnungen. Dieser Protest ist ein Veto gegen die undemokratische Mentalität Erdogans. Auch wenn der diese Protestierenden als marginale Gruppe und PlündererInnen hinstellt und hartes Vorgehen gegen sie verordnet, haben sich die Menschen unterschiedlichster Couleur nicht einschüchtern lassen. Erschütternd zudem, dass Erdogan zu Beginn der Gezi-Proteste die Protestierenden mit seiner WählerInnenschaft von 50 % bedroht hat – er würde sie zurückhalten. Diese Äußerung ist Ausdruck davon, dass er die 50 % WählerInnenschaft der AKP als seine Schlägertruppe sieht, mit der er gegen die anderen 50 % vorzugehen droht. Ein äußerst gefährliches Vorhaben für einen Ministerpräsidenten mit dem Anspruch, die gesamte Bevölkerung zu vertreten. Während er mit Polizeigewalt gegen die Protestierenden vorgeht, hat er seine AnhängerInnen zu AKP-Kundgebungen aufgerufen.

Die Bilanz der 14-tägigen Polizeigewalt nach Presseberichten (Stand 11. Juni): Die Herzfunktionen von Ethem Sarisülük haben abgenommen, nachdem er in Ankara von der Polizei am Kopf verletzt wurde. In Istanbul verlor Mehmet Ayvalitas sein Leben, als er von einem PKW angefahren wurde, und in Hatay starb Abdullah Cömert, als eine Gasgranate der Polizei ihn am Kopf traf. In Ankara starb Irfan Turan infolge der eingesetzten Gasmunition, in Adana ein Polizist, als er Demonstrierende verfolgte und von einer Brücke fiel. Sechs Menschen verloren infolge der Polizeiangriffe ihr Augenlicht. Landesweit gibt es bislang 4 335 Verletzte.

Es hat auch den Anschein, als bremse die AKP-Regierung den demokratischen Friedensprozess. Jetzt, wo sich die Guerillaeinheiten zurückziehen, kann die AKP fehlkalkulieren, dass eine Waffenruhe ausreiche, um in den Wahlkampf einzutreten. Mit Hinhaltetaktik kann sie die notwendigen Gesetzesänderungen sowie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung vor sich herschieben. Die Tatsache, dass die sechste BDP-Delegation erst nach zwei Monaten nach Imrali durfte, ist zu hinterfragen. Wichtige Themen wie die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage sind mit solch großen Zeitabständen zwischen den Gesprächen nicht zu schaffen. Auch die Tatsache, dass sie, statt die Proteste im Gezi-Park zu beruhigen, regelrecht Öl ins Feuer gießt, kann als Vorhaben gewertet werden, dass die AKP auf Zeit spielt. Sollte dies zutreffen, so steht die Türkei vor einem neuen Chaos. Beim letzten Besuch einer BDP-Delegation sagte Öcalan: »Ich werde die Entwicklungen noch zwei Wochen beobachten und im Anschluss eine umfassende Bewertung abgeben. In einigen Wochen werden wir den eigentlichen Willen der AKP-Regierung noch objektiver erkennen. Aber die gegenwärtigen Anzeichen geben Anlass zur Sorge.«

Schließlich noch einige Anmerkungen zur Haltung der internationalen Öffentlichkeit

Die Friedensphase wurde auch von der internationalen Öffentlichkeit und internationalen politischen Kreisen begrüßt. Aber bislang ist noch unklar, inwieweit es ernst gemeint ist mit der Unterstützung. Zu Recht wird die Forderung laut, als Zeichen der Unterstützung dieser Friedensphase die PKK aus der Liste terroristischer Organisationen zu streichen. Mit dieser Liste sind keine Bedingungen für gesunde Friedensverhandlungen gegeben.

Auch ist die Erwartung sehr hoch, dass der dreifache politische Mord in Paris lückenlos aufgeklärt wird. In diesem Zusammenhang gibt es bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Fortschritte. Die Festnahme des kurdischen Politikers und Diplomaten Adem Uzun im Oktober letzten Jahres in Frankreich entbehrt jeder rechtlichen Grundlage. An diesen drei Punkten wird sich die internationale Politik messen lassen müssen, inwieweit sie wirklich an einer friedlichen Lösung interessiert ist oder nicht. Solange es dabei keine positiven Entwicklungen gibt, wird das Misstrauen der Kurdinnen und Kurden gegenüber dem Rechtssystem dieser EU-Staaten bestehen bleiben und die Glaubwürdigkeit der EU wird Schaden nehmen.

Die kurdische Frage ist seit längerem eine internationale Frage und deshalb bedarf es in der Friedensphase auch konkreter internationaler Schritte.

Quelle: Kurdistan Report 167, Juli/August 2013

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