Verantwortung für ein freies und demokratisches Land

Abdullah ÖcalanGrußbotschaft von Abdullah Öcalan auf “Friedens und Demokratiekonferenz in Europa”, 29. Juni 2013 in Brüssel 

(…) Alle tragen große Verantwortung dafür, dass ein freies und demokratisches Land entsteht, in dem alle Völker und Kulturen gleichberechtigt leben können, wie es der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist. Ich rufe Euch, die Repräsentanten aller unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen, die im Exil leben müssen, die Frauen als älteste Kolonie und unterdrückte Klasse, die unterdrückten Glaubensgemeinschaften und Konfessionen und die Träger anderer kultureller Identitäten, die Vertreter der Arbeiterklasse und alle, die vom System ausgegrenzt werden, anlässlich dieser Konferenz auf, sich aktiv am Vorstoß für demokratische Politik und am demokratischen Kampf zu beteiligen. (…)

Werte Freundinnen und Freunde, verehrte Delegierte,

zunächst beglückwünsche ich euch zu der Haltung, die Ihr mit diesem Kongress ausdrückt und die seiner historischen Bedeutung entspricht. Ich bin überzeugt, dass er für unsere Völker positive Ergebnisse hervorbringen wird und grüße euch alle mit Liebe und Respekt.

Die Konsultationen und Verhandlungen, die im Namen des türkischen Staates mit mir auf Imrali geführt werden, haben zu einem neuen Prozess geführt. Dem Geiste dieses Prozesses und der damit einher gehenden Verantwortung gemäß veranstaltet ihre diese Konferenz, die zweifellos einen wichtigen Beitrag zu einer Lösung leisten wird.

Wir, die alteingesessenen Völker Kurdistans, Anatoliens und des gesamten Raums Mesopotamien streben seit Jahrhunderten nach Frieden und Gerechtigkeit. Das 21. Jahrhundert begann für uns mit ungelösten Problemen, aber auch einem heftigen Widerstand gegen eine uns aufgezwungene Politik von Kolonialismus, Genozid und Ausplünderung.

Das System in der Türkei organisierte sich auf den Gebieten Wirtschaft, Ideologie, Politik, Militär und Kultur sehr straff und schottete sich gegen die Teilhabe der eigenen Bevölkerung ab. Dies gilt bis zum heutigen Tag. Der introvertierte Charakter des Regimes und der starre Nationalismus in Verbindung mit religiösen, sexistischen und positivistisch-szientistischen Ideologien verhinderten, dass die Probleme auch nur in der Sphäre der Diskussion zutreffend definiert wurden. Das Recht war lediglich ein staatliches Regelwerk. Weder dem Individuum noch dem Volk wurden Rechte gewährt. Da wahrhafte Freiheit der Meinungsäußerung und Organisationsfreiheit nicht gewährt wurden und der dafür notwendige gesellschaftliche Konsens sich nicht herausbildete, konnten diese von Völkern, unterdrückten Klassen und Schichten und religiösen Gemeinschaften, den wichtigsten Komponenten der Demokratisierung, nicht in Anspruch genommen werden.

Dieses eherne staatliche Handeln betraf insbesondere alles, was einen Bezug zu Kurden und Kurdistan besaß – und es wurde als ungeschriebenes Gesetz gnadenlos umgesetzt. Neben physischen Bestrafungen sollte durch äußerst umfassende Assimilationsprogramme alles vernichtet, verboten oder von der offiziellen Ideologie absorbiert werden, was mit Kurdentum oder Kurdistan zu tun hatte.

Insbesondere in dem Maße, in dem die Kurden sich dem Islam der Herrschenden anschlossen, wurde der Wille, ein freies Leben zu führen, der der kurdischen Kultur innewohnte, gebrochen. Dem alevitischen und dem jesidischen Widerstand andererseits, die beide Verbindungen zu alten, zoroastrischen Traditionen aufweisen, ist es zu verdanken, dass das Streben nach einem freien Leben und einer Kultur, die dieses ermöglicht, nicht aufgegeben wurde. Daher waren es neben den Jesiden die kurdischen Aleviten, welche oft Opfer von Massakern wurden. Auch in der Türkei sind es die Aleviten, welche zumeist unterdrückt werden, rebellieren und sich am meisten mit der nationalen Frage befassen. Daher liegen diejenigen völlig falsch, die behaupten, die kurdische Frage gehe die Aleviten nichts an oder die Frage des Alevitentums interessiere die Kurden nicht. Die Kurden müssen eine korrekte Haltung zur alevitischen Frage einnehmen und die anatolischen Aleviten ebenso zur kurdischen Frage. Denn davon hängt für beide ihre Befreiung ab. So war es stets in der Geschichte, und so ist es auch heute. Daher betrachten wir das anatolische Alevitentum als natürlichen Verbündeten.

Den Terror gegen die christlichen Völker der Armenier, Assyrer, Chaldäer, Pontusgriechen, Georgier und Lasen und die Assimilation von Muslimen anderer Kulturen (Mhallami, Araber, Tscherkessen und andere) sowie die stattgefundenen Völkermorde können wir in diesem Zusammenhang analysieren. An diesen Genoziden waren nicht nur die türkische Bourgeoisie, sondern auch die kurdischen Feudalherren beteiligt. Sie sind nicht nur die eigentlichen Hauptschuldigen am Völkermord an den Armeniern, sondern auch am Genozid, der im gleichen Zeitraum in anderer Form an den Kurden (besonders durch die Hamidiye-Regimenter) verübt wurde. Sie spielen ihre unselige Rolle bis zum heutigen Tag, wo sie entweder als Dorfschützer das Kurdentum verleugnen und im Gegenzug Besitz und Kapital vergrößern oder wenn nötig ein geheucheltes Kurdentum zur Schau stellen.

Natürlich griffe es zu kurz, die Genozide nur durch repressives Denken und Handeln der türkischen Bourgeoisie und der kurdischen Feudalherren erklären zu wollen. Dem zugrunde liegen eine lange Vorgeschichte und komplizierte gesellschaftliche Faktoren. Insbesondere in den letzten 200 Jahren haben vor allem europäische Nationalstaaten Eroberungskriege und imperialistische Interventionen entfesselt, gleichzeitig mit ihrem sogenannten Recht und der Diplomatie diese Völker „unterstützt“, tatsächlich aber der Vernichtung überlassen. Ihre diesbezügliche Verantwortung für die dramatischen Folgen, welche diese Jahrtausende alten Völker und Nachfahren einiger der ältesten Kulturen der Menschheit trafen, wollten sie weder sehen noch akzeptieren. Daher muss in Anbetracht des Tagungsortes eurer Konferenz die Verantwortung der europäischen Staaten für die Entstehung und Aufrechterhaltung dieses Systems ernsthaft hinterfragt werden.

Diese kurzen Hinweise zielen darauf ab, das wahre Antlitz der Geschichte Mesopotamiens und Anatoliens des letzten Jahrtausends hervorzukehren. Die Blindheit für die Geschichte und ihre Verzerrung sind erschreckend. Ohne diese Blindheit und diese Verzerrungen zu überwinden, können wir den Wert des kulturellen Erbes der Völker und darunter besonders derjenigen mit einer tragischen Vergangenheit nicht verstehen, es in Gegenwart und Zukunft nicht fortführen und befreien und so ein geschwisterliches Zusammenleben nicht erfolgreich gestalten. Wer den Kampf um die Existenz und Freiheit der Völker führt, braucht zutreffende Analysen von Geschichte und Gesellschaft und den Blickwinkel der demokratischen Moderne, um das bestehende kulturelle Erbe zu bewahren und zu befreien.

Noch wichtiger erscheint mir, dass ein Kampf für Freiheit und Gleichheit, der ohne Frauen stattfindet oder die Frau nicht ins Zentrum stellt, die Wahrheit nicht verstehen und Freiheit und Gleichheit nicht erzielen kann. Denn die Problematik der Beziehungen zwischen Frau und Mann liegt den gesellschaftlichen Problemen zugrunde. Die Knechtschaft und die Formen der Ausbeutung in diesem Bereich bilden den Prototyp für alle Formen der gesellschaftlichen Knechtschaft und Ausbeutung. Die ersten gesellschaftlichen Widersprüche von Unterdrückern und Unterdrückten, die Klassen und der Status von Nationen ist stets auf dieses Fundament gegründet. Gleiches gilt für Konflikte und Kriege. Geschichte und Gegenwart sind voll von zahllosen Beispielen dafür. Knechtschaft und Ausbeutung wurden zum Teil des Lebens von Frauen gemacht. Also sind Kampf der Frauen dagegen und für Freiheit und Gleichheit sowie die Erfolge darin die Grundlage für den Kampf für Freiheit und Gleichheit und gegen Knechtschaft und Ausbeutung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Wenn wir also versuchen, gesellschaftliche Probleme zu lösen, muss die Konzentration auf die Frau und die Begründung von Freiheit und Gleichheit aus dem Leben der Frau heraus sowohl die grundlegende Methodik der Forschung als auch die Basis für konsistente wissenschaftliche, ethische und ästhetische Anstrengungen darstellen.

Wie viele andere linke und sozialistische Gruppen, die sich gegen die Politik und Gesetze wandten, die all diese Tragödien und Probleme hervorgebracht hatten, fanden sich einige Menschen aus der Tradition der Linken unter dem Namen PKK zusammen. Ihr Widerstand begann in den 1970er Jahren und hielt durch mehrere Phasen, unter großen Schmerzen und Verlusten, bis heute an. Die Folgen dieses Widerstandes spielten eine bedeutende Rolle dabei, die Probleme in Bezug auf Freiheit, Gleichheit und Demokratie offenzulegen und einer Lösung zuzuführen.

Im Ergebnis hat sich letztlich ein stillschweigender Konsens aller gesellschaftlichen Parteien bezüglich der Demokratisierung der Türkei ergeben. Was noch fehlt ist, diesen stillschweigenden und historischen Wunsch in eine offene und lebendige Willensäußerung zu verwandeln. So werden unsere Völker von ihren schweren Traumata, den scheinbar endlosen Verlusten von Menschenleben und Hab und Gut, von Leid und Tränen erlöst werden.

In diesem Sinne ist die Zeit gekommen, mit einer neuen, paradigmatischen Veränderung der türkisch-kurdischen Beziehungen an einem Frieden zu bauen, der den gesamten Mittleren Osten beeinflussen wird. Weil wir als kurdische Freiheitsbewegung daran aufrichtig glauben, haben wir die bewaffneten Kräfte der PKK aus der Türkei abgezogen und so dazu aufgerufen, einer Lösung eine Chance zu geben. Da die PKK zum jetzigen Zeitpunkt die ihr zukommende Verantwortung ernst genommen und erfüllt hat, wurde das Sterben gestoppt und die Phase des Rückzugs größtenteils abgeschlossen, ohne Provokationen Raum zu geben. Nun sind wir in die zweite Phase eingetreten, in der jetzt der Regierung Verantwortung zufällt. Meine Ansichten und Vorschläge bezüglich dieser Phase habe ich dem Staat schriftlich unterbreitet. Dies ist die Phase, in welcher der Satz von Ministerpräsident Erdogan „Die Waffen sollen schweigen, die Ideen sprechen, die Politik sprechen.“ mit Inhalt gefüllt werden muss.

Die grundlegende Erwartung an diese Phase ist, dass die Regierung die nötigen Gesetzes- und Verfassungsänderungen vornimmt, um ein System zu schaffen, das allen das Recht auf demokratische Ausübung von Politik garantiert. Dafür ist es notwendig, dass sich alle von Diskursen und Praktiken fernhalten, welche die Unsicherheit in Bezug auf diesen Prozess vertiefen, und praktische Schritte unternehmen, ohne dass der Lösungsprozess zeitlich zu sehr verschleppt wird.

Falls die Regierung die Kanäle für demokratische Politik nicht öffnet und sich vor demokratischer Politik drückt, wird dies dem Geist des Lösungsprozesses zuwiderlaufen.

Wir dagegen werden uns geduldig und beharrlich bemühen und dafür kämpfen, die Kanäle der demokratischen Politik zu öffnen. Durch den aufopferungsvollen Kampf der Völker und die Werte, die zehntausende Märtyrer geschaffen haben, musste mittlerweile die ganze Welt das kurdische Volk und alle anderen unterdrückten und ignorierten ethnischen und religiösen Identitäten anerkennen. Die Haltung eurer Konferenz wird wegweisend sein im Bezug auf die Definition dieser Anerkennung im Rahmen des universalen Rechts, den Rechtsstatus für Sprachen und Kulturen unserer Völker und Lösungen für ökonomische und soziale Probleme sowie solche im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Denn auch der über lange Jahre in der Diaspora geführte, aufopferungsvolle Kampf derjenigen aus unseren Völkern, die wegen der Politik des Exil nach Europa migrieren mussten, war für unsere heutigen Errungenschaften durchaus entscheidend. Ich glaube fest, dass ihr diesen Kampf in diesem neuen Kampfabschnitt mit noch größerer Entschlossenheit fortsetzen werdet. Ich hoffe, dass eure Konferenz den Prozess aufmerksam verfolgen und sich entschließen wird, die Arbeit bis zu einem dauerhaften Frieden und der Phase der Normalisierung fortzuführen.

Alle tragen große Verantwortung dafür, dass ein freies und demokratisches Land entsteht, in dem alle Völker und Kulturen gleichberechtigt leben können, wie es der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist. Ich rufe Euch, die Repräsentanten aller unterdrückten Völker, Klassen und Kulturen, die im Exil leben müssen, die Frauen als älteste Kolonie und unterdrückte Klasse, die unterdrückten Glaubensgemeinschaften und Konfessionen und die Träger anderer kultureller Identitäten, die Vertreter der Arbeiterklasse und alle, die vom System ausgegrenzt werden, anlässlich dieser Konferenz auf, sich aktiv am Vorstoß für demokratische Politik und am demokratischen Kampf zu beteiligen.

Ich bin überzeugt, dass unsere Völker in Europa durch diese Konferenz ihre Einheit und Organisierung festigen und eine dem historischen Prozess angemessene Verantwortung übernehmen. Ich beglückwünsche erneut alle Teilnehmenden und würde der Konferenz einen erfolgreichen Verlauf.

Ich persönlich erkläre schon jetzt, dass ich im Sinne der Konferenzbeschlüsse kämpfen werde – an welchem Ort oder in welchem Augenblick ich auch leben möge: Ich werde natürlich kämpfen für die Gesellschaftlichkeit, zu der ich zu gehören versuche, für die Kurden, die einer tragischen Realität ausgesetzt sind, und für den Aufbau ihrer demokratischen Nation, den Weg der Lösung und Befreiung; für die Demokratische Einheit der Nationen, den Weg zur Lösung und Befreiung für alle Völker des Mittleren Ostens und der Völker der Welt, deren Teil sie sind. Ich werde bis zuletzt kämpfen in Wort und Tat, unaufhörlich und auf jede Art und Weise, die nötig ist. Ich werde mit der dafür nötigen Kraft von Ethik, Ästhetik, Philosophie und Wissenschaft meine immerwährende Suche nach Wahrheit fortsetzen, das Leben erringen und es mit allen teilen.

Ich grüße alle, die den Prozess und eine friedliche, demokratische Lösung unterstützen!

Ich grüße alle, die für die Geschwisterlichkeit, Gleichheit und demokratische Freiheit unserer Völker Verantwortung übernehmen.

Hochachtungsvoll

Abdullah Öcalan, Gefängnis Imrali

(Übersetzung: Internationale Initiative “Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan)

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Hintergrund:

Am 29. und 30. Juni 2013 fand in Brüssel die „Friedens- und Demokratiekonferenz in Europa” statt.

Zur Konferenz haben 30 unterschiedliche Institutionen und Organisationen, darunter Vertreter_innen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen, sowie eine Vielzahl von Einzelpersonen aus der Türkei und Nordkurdistan aufgerufen. Mehr als 350 Teilnehmer_innen bestehend aus Vertreter_innen von annähernd 60 unterschiedlichen Organisationen, Einrichtungen und Institutionen haben an der Konferenz teilgenommen.

Die Zielsetzung der Konferenz wurde von den Organisator_innen wie folgt beschrieben: „Ziel der Konferenz ist es, uns mit unseren unterschiedlichen ethnischen und religiösen Identitäten, unseren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Geschlechtern und Weltanschauungen in den begonnenen Demokratischen Friedensprozesses in der Türkei/Kurdistan aktiv einzubringen und den Prozess zu fördern. In dieser historischen Phase möchten wir unsere Verantwortung für eine freie Zukunft nachkommen und den Friedensprozess in die Gesellschaft hineintragen. Unserer Konferenz in Europa gingen bereits zwei Konferenzen mit derselben Zielsetzung voraus. In Ankara (25. und 26. Mai) und in Amed/Diyarbakir (15. und 16. Juni) fanden Konferenzen mit einer ähnlichen Zielsetzung statt. Bei diesen Konferenzen wurden die Forderungen für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage formuliert. Die Konferenz in Brüssel versteht sich als Fortsetzung dieser beiden Konferenzen.“

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