Die Doppelstrategie Europas…

europarat…vor dem Hintergrund eines möglichen Friedensprozesses in Kurdistan, von ISKU | Informationsstelle Kurdistan, April 2013

„ […] verfolgt die PKK weiterhin ihre langjährige Doppelstrategie: bewaffnete Auseinandersetzungen im Kampfgebiet und ein weitgehend friedliches […] Vorgehen in Europa.“

Jahr für Jahr begegnen uns diese Worte im deutschen Verfassungsschutzbericht. Zu erwähnen, dass die PKK seit 1993 insgesamt acht Mal einen einseitigen Waffenstillstand verkündet hat, diese Friedensinitiativen aber allesamt auf geschlossene Türen der Türkei gestoßen sind, macht für die Herrschaften des VS in diesem Zusammenhang natürlich wenig Sinn. Denn wie will man denn mit diesen Tatsachen das Betätigungsverbot der PKK hierzulande aufrechthalten? Nun hat die PKK nach dem historischen Aufruf ihres inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan zum neunten Mal einen Waffenstillstand verkündet. Neben der Frage, wie die Türkei hierauf reagieren wird, stellt sich selbstverständlich auch die Frage, wie die europäischen Staaten und die europäischen Gesellschaft auf diesen erneuten Beweis des Friedenswillens der PKK reagieren werden?

Aus rein wirtschaftlicher Sicht steht es außer Frage, dass die europäischen Staaten vom Krieg in Kurdistan profitieren. Denn laut Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) rangiert die Türkei auf der Liste der Länder mit den weltweit größten Militärausgaben auf Rang 15. Da die Türkei als Waffenproduzent nicht sonderlich von sich reden macht, kann man davon ausgehen, dass sie ihren Waffenbedarf durch Importe deckt. Nebenbei bemerkt, Deutschland ist auf der Liste der weltweit größten Waffenexporteure hinter den USA und Russland auf Platz drei. 
Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Interessen, weswegen der Westen möglicherweise eine nichtgelöste kurdische Frage bevorzugen könnte, denn auch aus politischer Sicht mag dieser Umstand den einen oder anderen Vorteil mit sich bringen. Der Kurdistankonflikt stellt nämlich immer auch einen Trumpf der westlichen Staaten gegen die Türkei dar. Dieser Trumpf kann jederzeit nach Belieben gegen die Türkei ausgespielt werden, um von ihr politische und wirtschaftliche Zugeständnisse zu erpressen. Gleichzeitig sollen im Idealfall hierdurch auch die KurdInnen an die westlichen Staaten gebunden und kontrolliert werden. Solch eine Trumpfkarte gibt man in einer strategisch so wichtigen Region wie dem Nahen und Mittleren Osten nicht gerne aus der Hand.
Nun stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht die PKK, sondern vielmehr Deutschland und die übrigen europäischen Staaten im Kurdistankonflikt eine Doppelstrategie verfolgen? Einerseits werden die Friedensbestrebungen der PKK und ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan in den europäischen Medien und von einigen Politikern begrüßt, andererseits werden die Repressionen gegen kurdische AktivistInnen und PolikerInnen in Europa fortgesetzt, gar verschärft. Sind das nicht gezielte Versuche, einen möglichen Friedensprozess zu sabotieren? Hat Europa ein Interesse an der Fortdauer des Konflikts in Kurdistan? Oder wie lässt sich sonst erklären, dass derzeit so viele Prozesse gegen kurdische AktivistInnen in Deutschland laufen wie lange nicht mehr? Wie lässt sich erklären, dass bei koordinierten Festnahmeoperationen, die durch die französische Staatsanwaltschaft gelenkt werden, kurdische AktivistInnen in Frankreich, Spanien und zuletzt auch in Belgien festgenommen werden? Wie lässt sich erklären, dass am 9. Januar, kurz nach dem Besuch der ersten BDP-Delegation bei Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, in Paris drei kurdische Aktivistinnen, von denen mindestens eine nachweislich unter der Beobachtung der französischen Beamten stand, brutal hingerichtet werden können? Ist dieser Mord mitten in einer europäischen Hauptstadt nicht der offensichtlichste Anschlag gegen einen möglichen Friedensprozess? Während durchaus positive Statements zu einem möglichen Friedensprozess im Kurdistankonflikt zu hören sind, drängt sich durch die Praxis der europäischen Staaten der Verdacht auf, dass nicht die PKK, sondern die europäischen Staaten in dieser Frage eine Doppelstrategie verfolgen.
Es stellt sich also unweigerlich die Frage, ob die europäischen Staaten aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen es nicht lieber sähen, wenn die kurdische Frage ungelöst bliebe? Es sei daran erinnert, dass in Deutschland das Betätigungsverbot gegen die PKK im November 1993 ausgesprochen wurde. Im selben Jahr hatte die PKK erstmals einen einseitigen Waffenstillstand erklärt, den sie aufgrund fortdauernder Angriffe des türkischen Staates nicht lange halten konnte. Allerdings manifestierte dieser erste einseitige Waffenstillstand der PKK ihren Willen für eine friedliche Lösung des Konflikts. Zu dieser Zeit konnte auch bewiesen werden, dass Waffen aus deutschen Rüstungsbetrieben gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden. Bilder, die das belegen konnten, gingen um die Welt. Proteste dagegen führten zu einem kurzzeitigen Stopp der Waffenlieferungen an die Türkei, aber auch zum sogenannten PKK-Verbot. Im Jahr 2002 wurde schließlich die PKK von der Europäischen Union auf die EU-Liste terroristischer Organisationen gesetzt. Dieser Schritt wurde unternommen, als sich die kurdischen Guerillakräfte in einer Phase der Aktionslosigkeit (1999–2004) befanden. Wichtig ist zu erwähnen, dass die PKK zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Terrorliste der EU gar nicht existierte. Denn sie hatte zuvor ihre Auflösung bekanntgegeben. Die Neugründung der PKK geschah erst im Jahr 2004. Allerdings übernahm die neue PKK fortan ausschließlich die Rolle einer rein ideologischen Partei. Jede Friedensinitiative der kurdischen Bewegung wurde also mit steigenden Angriffen gegen kurdische Strukturen und kurdische AktivistInnen durch die Staaten Europas beantwortet.
Aus dem oben genannten wird deutlich: An die europäischen Staaten zu appellieren, einen möglichen Friedensprozess in Kurdistan zu unterstützen, erscheint nicht besonders sinnvoll. Stattdessen sollte allerdings an die demokratische Öffentlichkeit Europas, an die Friedensbewegung, an fortschrittliche Kreise der Gesellschaft appelliert werden, sich mit den KurdInnen gemeinsam für einen gerechten Frieden einzusetzen. Wenn gewollt ist, dass von Europa aus gemeinsam ein möglicher Friedensprozess in Kurdistan unterstützt werden soll, muss auch von kurdischer Seite die Gesellschaft hier über ihre Situation und ihre Ziele aufklärt werden. Die europäische Gesellschaft ist zumeist nicht darüber informiert, in welcher Weise und in welchem Ausmaß ihre Staaten weltweit in Kriege und Konflikte wie in Kurdistan verwickelt sind. Dass durch europäische Waffen und Soldaten aus Europa weltweit Menschenrechtsverletzungen begangen werden, um die wirtschaftlichen und politischen Interessen auszubauen oder zu wahren, wird der eigenen Bevölkerung allzu gerne vorenthalten. Hier muss ein Weg gefunden werden, um sich gemeinsam dagegen in Bewegung setzen zu können.
Ein wichtiger Schritt, wenn wir die Lösung der kurdischen Frage von hier aus unterstützen wollen, ist die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland, ihre Streichung von der EU-Terrorliste und ein damit einhergehendes Ende der Kriminalisierung kurdischer AktivistInnen in Europa. Aber Erfolge in dieser Frage werden nicht dadurch erreicht, indem an die „Vernunft“ der europäischen Staaten appelliert wird. Schritte in diese Richtung könnten dadurch erreicht werden, indem die Menschen in Europa von der Notwendigkeit einer Lösung der kurdischen Frage überzeugt werden, sodass diese die „Kurdistanpolitik“ ihrer jeweiligen Staaten kritisch verfolgen und ihre Regierungen gegebenenfalls zu Kurskorrekturen zwingen. So kann die Doppelstrategie der europäischen Staaten gestoppt und ein Beitrag für den Frieden in Kurdistan geleistet werden.

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