Eindrücke: Gefeiert wurde der Triumph der Realität

nazan_üstündağDr. Nazan Üstündag*

Partha Charterjee, Mitbegründer der „Subaltern Studies Collective“, einer sozialwissenschaftlichen Strömung, die, von Indien ausgehend, Lateinamerika, Asien und Afrika umfasst, schreibt in seinen Büchern von den antikolonialistischen Kämpfen der Völker.

Laut Chatterjee ist der Kampf gegen den Kolonialismus der gemeinsame Widerstand der Völker, die sich im Hinblick auf Klasse, Geschlecht und Glauben bekämpfen. Jede Gruppe hat Gründe, die Kolonialherren zu hassen. Sie wurden unterdrückt, getötet, ausgegrenzt und entwürdigt. Trotz ihrer selbst wurden sie definiert und ihre Realität wurde verheimlicht. In ihrem Gedächtnis sind die Leiden von Jahrhunderten, in ihren Körpern die Spuren, die die Ungerechtigkeit hinterlassen hat, in ihren Träumen sind die Kämpfer, die vor ihnen existierten.

Der antikolonialistische Kampf wird also geführt, damit dieses Gedächtnis, diese Körper und Widerstände ihren Platz in der Weltgeschichte einnehmen. Chatterjee betont, dass dieser Kampf in der heutigen Moderne die Form einer Nation angenommen hat. Die Moderne erkennt unter allen möglichen diversen Gesellschaftsformen nur das Modell der Nation an. Daher ist auch das 20. Jahrhundert geprägt von der Bildung von Nationalstaaten.

Die Autoren des „Subaltern Studies Collective“ feiern den antikolonialistischen Kampf ebenso wie sie den Nationalstaat kritisieren. Sie sehen die Revolution als Bestandteil des Kampfes der Völker und Nationen. Doch der Nationalstaat ist ein vom Kapitalismus und seinen Trägern aufoktroyierte Form. Es führt dazu, dass die revolutionäre Energie der Völker ins System einfließt und dort zerstört wird. Die Mittelschichten werden zur Vertretung der Völker, Nationalität löst sich von Revolution. Die Mittelschichten errichten innerhalb des vom Kolonialisten befreiten Nationalstaates ein despotisches Regime. Sie werden modern und kapitalistisch.

Tatsächlich zerfloss die revolutionäre Energie der Völker in allen bekannten Formen des Nationalstaates und wurde zur bekannten Hierarchie zwischen Klassen und Geschlechtern verurteilt. Somit wurden die versteckten, neuen historischen Möglichkeiten im antikolonialistischen Kampf auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. Zur Newroz-Feier in Amed am 21. März erklärte die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan vor allen Zeugen, dass die Kurden im antikolonialistischen Kampf einen solchen Verlauf nicht zulassen werden, sondern, ganz im Gegenteil, entschlossen sind, ihre revolutionäre Energie einer neuen Historie zuzuführen.

Es muss verstanden werden, dass aus diesem Grund zu Newroz in Amed nicht der Frieden gefeiert wurde. Das kurdische Volk und die anderen Völker wollen wirklich keinen Tod mehr erleben. Der Menschen, die im Kampf um Freiheit ihr Leben verlorenen haben, wurde schweigend und zeitweise öffentlich gedacht. gedacht. Am 21. März wurde hundertfach, gar tausendfach erklärt, dass keiner mehr sterben solle. Daher waren die Aussagen im Brief der kurdischen Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan zum Schweigen der Waffen für alle Menschen von großer Bedeutung. Das Schweigen der Waffen kommt jedoch nicht dem Frieden gleich. Bis zum Frieden ist der Weg noch lang. Es wurde am 21. März in Amed noch nicht der Frieden zelebriert. Keiner soll sich täuschen. Am 21. März wurde in Amed gefeiert, dass die Kurden in der Weltgeschichte ihren Platz einnehmen. Das kurdische Volk hat eine legitime Basis als globale Bewegung geschaffen. Am 21. März begrüßte das Volk, das an den Newroz-Feiern mit hoher Moral teilnahm, die kurdische Freiheitsbewegung und nahm die Grüße ihrer Führungspersönlichkeit entgegen. Am 21. März wurde in Amed denjenigen zum Trotz, die die Realität des kurdischen Volkes und des 30jährigen Freiheitskampfes zu verdecken versuchen, gefeiert, dass die bis heute geschriebene offizielle Geschichte durchbrochen ist. Aus diesem Grund wurde jeder Satz des Briefes aufmerksam verfolgt, es wurde geweint und gelacht. Die Realität der Führungspersönlichkeit, die Realität des Volkes und die Realität der Freiheitsbewegung haben in den Worten zusammengefunden.

Die Botschaft der kurdischen Führungspersönlichkeit am 21. März wurde von den kurdischen Politikern und dem Volk, das den Platz der Veranstaltung füllte, klar und deutlich verstanden. Wenn die Regierung die notwendigen Schritte einleitet und eine Phase ohne Waffen beginnt, beginnt ein neues Stadium des Kampfes. Wenn die kurdische Freiheitsbewegung keinen neuen Nationalstaat einfordert, so liegt das an ihrem Willen zur Veränderung des Mittleren Ostens und der Welt. Sie will ihre revolutionäre Energie steigern und stärker einfließen lassen. Die Grenzen eines Nationalstaates werden dafür nicht ausreichen. Anstelle der Einrichtung von Grenzen, in deren Schutz alle Energie investiert werden müsste, macht sie sich für die Aufhebung von Grenzen stark. Die kurdische Freiheitsbewegung hat beschlossen, stärker und größer zu werden, und anstatt sich ein Herrschaftsgebiet zu schaffen, sich mit den dortigen Hierarchien und Konflikten auseinanderzusetzen. Anstatt sich einem Nationalstaat unterzuordnen, hat das kurdische Volk beschlossen, zu einer globalen Hoffnung zu werden.

Ein Teil der Sozialwissenschaftler behauptet, dass eine großer historischer Abschnitt vor dem Ende steht. Im kulturellen wie auch ökonomischen Bereich endet die Vorherrschaft Europas. Die Regionen werden neu strukturiert. China-, Indien-, Amerika- und Nah-Ost- zentrierte Maßstäbe entstehen und suchen nach neuen politischen Formaten. Die kurdische Freiheitsbewegung ist ein Akteur dieses neuen Maßstabes. Heute wird nicht der Frieden zelebriert. Zwei Bewegungen, die für sich beanspruchen, in der neuen Phase den Nahen Osten, die Beziehungen der Menschen, die Wissenschaft und die Ethik in dieser Region zu gestalten, bereiten sich auf einen erbarmungslosen Kampf vor. Das Erstaunen und die Angst der MHP und CHP sind darauf zurückzuführen, dass sie spüren, dass dieser historische Abschnitt sich auch über ihnen schließen wird. Die AKP und die kurdische Bewegung konkurrieren in allen Bereichen und werden lernen, gemeinsam zu leben. Am 21. März wurde die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Lebensraum Politik ist, zelebriert.

Bei der Newroz-Veranstaltung in Amed flossen erneut die Tränen, die im Oktober und November im Rahmen des Hungerstreiks und im Januar nach dem Massaker von Paris geflossen sind. Die Menschen in den Gefängnissen fehlten, ebenso die Menschen aus Europa. Die Guerillas waren nicht dabei. Es war zugleich ein Tag der Trennung und des Zusammenkommens.
Die Lösung liegt in der Politik. Noch hat sie nicht stattgefunden. Gerechtigkeit ist historisch; zum Newroz-Tag am 21. März ist ein wenig Gerechtigkeit in Erscheinung getreten.

Am 21. März wurde an Newroz nicht der Frieden zelebriert. Noch nicht. Jedoch war es ein fröhlicher, ein hoffnungsvoller Tag.

* Dr. Nazan Üstündag ist Lehrbeauftragte des Lehrstuhls für Sozialwissenschaften an der Bogaziçi Universität. Bekannt durch ihre Arbeiten zu Frauenthemen, Menschenrechten, Minderheiten und Sozialwissenschaft, ist sie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Partei für Demokratie und Frieden (BDP)

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