Die entscheidende Bedeutung der Wählerstimmen für die HDP

Ahmet İnsel über die aktuellen Umfragen zu den Wahlen in der Türkei und ihre Implikationen für die Opposition, 21.05.2017

Es sind nur noch fünf Wochen bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Zum ersten Mal finden die beiden Wahlen zeitgleich statt. Es ist nicht mehr nur eine theoretische Möglichkeit, dass am 24. Juni die Präsidentschaftswahl in einer Stichwahl entschieden wird und die Koalition der AKP, MHP und BBP im Parlament eine Minderheit darstellt. Die aktuellen Umfragen zeigen, dass die Volksallianz (türkisch: Cumhur İttifakı) die für die parlamentarische Mehrheit nötigen 301 Sitze sehr wahrscheinlich nicht erreichen wird. Es besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass das Regierungsbündnis seine parlamentarische Mehrheit verliert, als dass Erdogan die Präsidentschaftswahlen verlieren wird.

Es ist auch möglich, dass die Volksallianz die parlamentarische Mehrheit verliert, aber Erdogan in der ersten Runde gewählt wird. Auch wenn Erdogan angesichts dieser Situation mit Neuwahlen droht, wird er es nicht mehr so leicht haben wie zuvor. Die Drohung Erdogans zeigt sehr gut, dass der Verlust der Parlamentsmehrheit nicht so unbedeutend ist. Wenn er jedoch das Parlament auflöst, ist auch die Wiederholung seiner eigenen Wahl damit verbunden. Die Verfassungsänderung, die mit dem Amtseintritt des Präsidenten in Kraft tritt, verbindet die Wahl des Präsidenten und des Parlaments untrennbar miteinander.

Wenn die Wahl des Präsidenten am 24. Juni in einer Stichwahl entschieden werden muss und die Volksallianz im Parlament die Mehrheit verliert, wird sich auch die Wahl Erdogans bei der Stichwahl komplizierter gestalten. Doch es nicht eine Frage von heute die Stichwahl zu diskutieren, sondern in den zwei Wochen nach dem 24. Juni. Wie wir sehen, ist die Wahl der Abgeordneten so wichtig wie die Präsidentschaftswahl. Der wichtigste Umstand, der die Parlamentsmehrheit der AKP und ihrer Verbündeter entscheiden wird, werden die Stimmen der HDP sein. Deshalb ist die Überwindung der 10-Prozenz-Hürde der HDP sehr viel wichtiger als die Stimmanzahl der Volksallianz und des ‚Bündnisses der Nation‘ (türkisch: Millet İttifakı).

Der Grund ist einfach: Wenn die HDP bei den Wahlen 9,5 Prozent der Stimmen bekommt und unter der 10-Prozen-Hürde bleibt, werden die circa 54-55 Abgeordneten (im Parlament gibt es 600 Sitze) zu ca. 90 Prozent der AKP angerechnet, also 48-50 Abgeordnete. Die restlichen fünf bis sechs Abgeordneten werden auf den anderen vier Parteien angerechnet. Selbst wenn das ‚Bündnis der Nation‘ mit ein paar Punkten vor dem anderen Wahlbündnis liegt, wird die AKP die Parlamentsmehrheit gewinnen. Wenn dagegen die HDP das Ergebnis aus den Wahlen vom November 2015 erhält (10,5 Prozent), wird sie im Parlament mit 65-67 Abgeordneten repräsentiert sein. Wenn in solch einer Situation die beiden konkurrierenden Bündnisse auf dasselbe Ergebnis kommen, also beispielsweise beide 43-45 Prozent erhalten, wird keiner der beiden Blöcke über die Mehrheit im Parlament verfügen.

Ob der Stimmanteil der HDP 9,5 Prozent oder 10,5 Prozent beträgt, macht einen entscheidenden Unterschied. Weniger entscheidend ist, ob die Republikanische Volkspartei (CHP), die Gute Partei (İYİ) oder die Partei der Glückseligkeit (SP) eine Stimme mehr oder weniger erhält.
Natürlich ist sich jeder dieser Situation bewusst. Die Wirkung des ‚Bündnisses der Nation‘ im Parlament hängt davon ab, ob die HDP die Hürde überwindet. Somit ist ähnlich wie am 7. Juni 2015 zu erwarten, dass die HDP bedeutende Unterstützung von linken und sozialdemokratischen Wählern bekommen wird.

Im Original erschien der Artikel am 19.05.2018 unter dem Titel “HDP’nin alacağı oyun önemi” auf der Homepage der Zeitung “Cumhuriyet”.