Der Journalist Fehim Taştekin über die globalen und regionalen Hintergründe der Kämpfe in Ost-Ghouta; 02.03.2018
Humanitäre Waffenruhe!
Der UN-Sicherheitsrat – bis heute nicht dafür bekannt Kriege verhindert zu haben – hat sein Urteil über Syrien gesprochen. Vorübergehende Stille der Kriegsbarone, die unsere Zeit, unser Leben, unsere Zukunft und unser Hab und Gut rauben. Wären sie doch Still für die Ewigkeit. Die Erwartungen beruhen auf „Humanismus“ doch was kann Naivität wirklich bewirken?
Der Sicherheitsrat hat mit Blick auf Ost-Ghouta zu einer 30-tägigen Waffenruhe für ganz Syrien aufgerufen. Doch die Türkei fühlte sich im Zusammenhang mit Afrîn nicht angesprochen. Begründung: Die Resolution beinhalte nicht das Wort „Afrîn“! Die Aufrufe des französischen Präsidenten Macron und diverser anderer EU-Vertreter zeigen, dass ein Teil der internationalen Gemeinschaft sehr wohl der Meinung ist, dass die Türkei sich daran halten müsse. Afrîn bedarf einer eigenen Diskussion. Ich möchte mich in dieser Kolumne hauptsächlich mit Ost-Ghouta befassen.
Ost- und West-Ghouta ist ein großes Territorium im Osten von Damaskus. Selbst wenn es ländlich ist, ist es kein meilenweiter und isolierter Ort. Wenn man sich an die Mauern von Alt-Damaskus lehnt ist dieser 370 Quadratkilometer große Ort keinen Steinwurf entfernt. Ost-Ghouta beläuft sich auf ca. 100 Quadratkilometer und lässt sowohl aufgrund der Größe als auch der Population Damaskus in seinem Schatten. Es ist der Vorort für Flüchtlinge mit dem Ziel Damaskus und bildet dementsprechend einen Fokuspunkt. Seit den 2000’er Jahren tritt Ost-Ghouta eher im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und Armut in Erscheinung, obwohl es über eine reiche landwirtschaftliche Fläche verfügt, welche die Hauptstadt versorgte. Die Migration wurde neben der liberalen Politik ab 2008 auch durch Dürre befördert. Ost-Ghouta nahm im Rahmen dieser Entwicklungen die meisten Flüchtlinge auf. Die grundlenden Probleme machten sich hier am meisten bemerkbar, wodurch die Oppositionellen hier schnell Fuß fassen konnten. Dazu zählten auch durch Golfstaaten finanzierte Islamisten. Nicht ohne Grund ist Duma als Zentrum der Region während den Aufständen von 2011 in den Vordergrund getreten. Seit den bewaffneten Aufständen ab 2012 bildete sie eher den „weichen Kern“ der Hauptstadt. Die Zentrale der „islamischen Front“, die der Ansprechpartner des CIA-nahen saudischen Geheimdienstchefs ist, befindet sich auch hier. Die islamische Front hat dies auch mit 120.000 Tonnen Sprengstoff in die Tat umgesetzt und Damaskus unter Beschuss genommen. Der Berg Dschabal Qasiyun, von dem aus die gesamte Stadt zu sehen ist und der durch die syrische Armee genutzt wird, war zeitweise durch diesen Beschuss ebenfalls gefährdet. Die Armee hatte vergangenes Jahr bereits West-Ghouta befreit und dieses Jahr einige Ort von Ost-Ghouta eingenommen. Ungefähr ein Zehntel der Population der Vorkriegszeit befindet sich derzeit in Not. Laut UN beläuft sich die Zahl der Menschen, die unter Belagerung stehen, auf ca. 393.000. Unabhängige Quellen schätzen die Zahl der Bewaffneten auf ca. 10.000.
Ost-Ghouta ist seit ca. Anfang Februar in den Fokus geraten und verdeutlicht die Haltung der Sponsoren des Krieges. In Rakka oder Deyr-el-Zor, wo zivile Opfer kein großes Problem waren, wurde keine Waffenruhe gefordert. Für Ost-Ghouta sind zivile Opfer „plötzlich“ ein Problem. Ist dies lediglich mit der schlechten humanitären Lage zu erklären?
Das große Interesse an Ost-Ghouta liegt neben der schweren Belagerung auch an den noch immer festen Beziehungen zu den Sponsorenstaaten der Organisationen, die diese Region halten. Zivile Opfer sind den Hauptakteuren nicht wichtig. Wenn dies so wäre, könnte die Krise mit einer Übereinkunft beendet werden. Das würde aber dem syrischen Regime einen Vorteil verschaffen, was den Akteuren nicht recht wäre.
Ost-Ghouta hat symbolischen Wert in Bezug auf den Eingriff in Syrien. Die islamische Front, die das Zentrum um Duma herum hält, steht unter der Kontrolle des saudischen Geheimdienstes. Diese salafistische Organisation hat mehrmals bewiesen, dass sie dem Islamischen Staat (IS) in nichts nachsteht. „Regierungsnahe“ wurden in Käfigen durch die Stadt geführt, der Begriff „Demokratie“ öffentlich verunglimpft, die komplette „Säuberung“ von Aleviten und Schiiten versprochen und Zivilisten als Geisel bzw. lebendige Schutzschilde gehalten. Trotz dessen war der Anführer dieser Gruppe unter saudisch-amerikanischer Obhut in Genf an Gesprächen beteiligt. Und jeder weiß, dass die islamische Front nicht aufhören wird, wenn nicht Amerika und Saudi-Arabien zustimmen.
Feylaq-al-Rahman, die Organisation die südlich und südwestlich der Region stark ist, steht den Muslimbrüdern und somit Qatar nahe. Die Al-Nusra-Front, die von der Al-Quaida gegründet wurde, hält den Nordwesten der Region, inklusive Harasta. Der nördliche Flügel dieser Organisation steht im engen Kontakt mit der Türkei. Die Hayat Tahrir Al Sham, die unter der Führung der Nusra-Front steht, ist ebenfalls in diesem Gebiet aktiv. Obwohl sie der Al-Quaida nahesteht, profitiert diese Organisation stark von „Spenden“ aus Qatar.
Jede dieser Organisationen ist in ihrem eigenen Gebieten despotisch organisiert. In ihrem Besitz befinden sich Panzer und schwere Waffen. Der Kampf zwischen diesen Organisationen ist ein weiteres Drama der Region. Hayat Tahrir Al Sham und Feylaq Al Rahman agieren gemeinsam gegen die islamische Front. Zwischen Feylaq Al Rahman und der Nusra-Front fanden von Zeit zu Zeit auch Gefechte statt. Und das, obwohl sie die gleichen Bosse haben!
Diese Organisationen haben Eines gemeinsam: Ihnen wird vorgeworfen Zivilisten für ihre Zwecke zu missbrauchen. Zu diesem Schluss kommt u.a. eine durch die UN-geförderte Organisation für humanitäre Hilfe, die REACH. Demnach wird es Frauen und Kindern sowie Männern, die alt genug sind eine Waffe in der Hand zu halten, nicht erlaubt die belagerten Regionen zu verlassen.
Alle Parteien machen sich gegenseitig für das humanitäre Drama verantwortlich. Ab 2013 wurde jegliche Art von Unterstützung inklusive Waffen, Sprengstoff und Brennstoff durch unterirdische Tunnel nach Ost-Ghouta gebracht. Nachdem die Armee diese Tunnel entdeckt und unter Kontrolle genommen hat, blieb nur noch ein Tunnel in Rafidin, von dem die eine Seite unter der Kontrolle des Regimes und die andere unter der Kontrolle der islamischen Front steht. Seit ca. einem Jahr werden Handel und humanitäre Hilfe unter strenger Kontrolle über diesen Weg abgewickelt. Dies bedeutet für die Menschen in der Region nichts Weiteres als Not und Überteuerung.
Rafidin ist zeitgleich auch eine Quelle zur Ausbeutung. Der Kleinkrieg unter den Salafisten rührt daher, dass diese Gegend unter Kontrolle der islamischen Front steht. Die islamische Front wird beschuldigt humanitäre Hilfe zu beschlagnahmen und an die eigenen Kämpfer zu verteilen. Dies bedeutet aber nicht, dass das syrische Regime versucht diese Organisationen zur Kapitulation zu zwingen. Internationale Hilfsorganisationen beklagen das willkürliche Stoppen bzw. Verbieten humanitärer Hilfe. Obwohl die Region unter Belagerung steht, wurde von beiden Seiten vereinbart, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und gewisse Kreise in und aus der Region reisen zu lassen. Oppositionelle behaupten, dass die Ereignisse in Ost-Ghouta dem Massaker von Srebenica ähneln. Das syrische Regime wiederum behauptet, dass innerhalb von fünf Jahren 10.000 Menschen durch Raketen und Mörser gestorben sind und argumentiert, dass kein Staat in der Nähe seiner Hauptstadt ein solches Bombardement zulassen würde.
Die letzten militärischen Operationen sind das Resultat gescheiterter Verhandlungen. Ägyptische Militärs dienten bei den Verhandlungen als Unterhändler. Russland sicherte im Rahmen seines Astana-Prozesses den Gruppen zu nach Idlib gelangen zu können, wenn sie ihre schweren Waffen abgeben. Doch trotz unzähliger Verhandlungen wurde keine Übereinkunft getroffen. 2016 lehnten bewaffnete Gruppen in Ost-Aleppo die Kapitulation ab. Erst nach einer russisch-türkischen Übereinkunft mussten sie einlenken, nachdem erste Gruppenmitglieder in Richtung des vom Regime kontrollierten Gebiets flohen. In Ost-Ghouta wird ein ähnliches Szenario angestrebt. In West-Ghouta und Kabun waren ähnliche Verhandlungen erfolgreich.
Der UN-Beschluss garantiert keine langfristige Waffenruhe. Al-Quaida und verbündete Gruppen sind von der Waffenruhe ausgeschlossen. Russland lehnt den Beschluss zwar nicht ab, weist aber von Anfang an auf die Anwesenheit dieser Gruppen hin und hält die Waffenruhe für unrealistisch.
Wenn das „Ost-Ghouta-Problem“ gelöst ist, wird Damaskus nicht mehr bedroht sein. Weiterhin wird die Anbindung von Damaskus nach Westen und Osten einfacher. Da die internationale Autobahn M5 nicht genutzt werden kann, müssen Reisende mit dem Ziel Humus, Hama und Aleppo über Damaskus fahren. Gleiches gilt für die Route Damaskus-Bagdat. Ferner kann sich die syrische Armee nach Ost-Ghouta auf Idlib, Dera und Kuneytra konzentrieren. Ohnehin sind an diesen Orten größere Kämpfe zu erwarten: Die syrische Armee wird in Idlib auf die Türkei, in Dera in Form Jordaniens auf die USA und in Kuneytra auf Israel stoßen. Afrîn und der Osten des Euphrats stehen auf einem anderen Blatt.
Im Original erschien der Artikel am 27.02.2018 unter dem Titel “Ateşkesin sınırları” auf der Homepage des Nachrichtenportals Gazete Duvar.