Die kurdische Frage als grundlegende Frage der Demokratisierung

Abdullah Öcalan zur Situation der kurdischen Frage und Lösungsvorschläge, 04.03.2018

Den türkisch-kurdischen Beziehungen in der Türkei kommt in Hinblick einer Lösung der kurdischen Frage eine Schlüsselrolle zu. Das Potenzial der Kurden im Irak, im Iran und in Syrien für eine Lösung ist nur begrenzt und kann allenfalls eine unterstützende Wirkung hinsichtlich einer Gesamtlösung entfalten. Die kurdische Frage im Irak ist hierfür das beste Beispiel. Das semi-staatliche Gebilde der kurdischen Autonomiebehörde im Irak ist ein indirektes Ergebnis der weltweiten Bemühungen der türkischen Republik, den Vereinigten Staaten von Amerika und ihren Verbündeten, die PKK als ein „terroristische Organisation“ zu brandmarken. Ohne die Zustimmung der türkischen Republik wäre eine solche „Lösung“ nicht möglich gewesen. Es liegt auf der Hand, dass damit ein Chaos verbunden und unabsehbarem Ausgang geschaffen wurde. Auch ist nicht absehbar, wohin sich die feudal-bürgerlich ausgerichtete kurdische Autonomiebehörde im Irak langfristig entwickeln wird und welche Auswirkungen das auf den Iran, für Syrien und für die Türkei haben wird. Dabei besteht die Gefahr einer regionalen Ausweitung des Konflikts, dessen Konstellationen der des palästinensisch-israelischen Konfliktes nahekommen könnten. Ein Aufflammen des kurdischen Nationalismus würde den persischen, arabischen und türkischen Nationalismus noch weiter radikalisieren, was eine Lösung der Probleme weiter erschwert. Dem muss ein Lösungsmodell gegenübergestellt werden, das frei von nationalistischen Begehren ist und die bestehenden Landesgrenzen anerkennt, im Gegenzug aber den Status der Kurden in den jeweiligen Verfassungen gesetzlich regelt, auf deren Grundlage ihre kulturellen, sprachlichen und politischen Rechte garantiert werden. Ein solches Lösungsmodell entspräche am ehesten den historischen und gesellschaftlichen Realitäten der Region. So gesehen ist ein Frieden mit den Kurden unausweichlich. Es ist undenkbar, dass der derzeitige Krieg bzw. dass zukünftige Kriege etwas anderes als Pyrrhussiege hervorbringen können.

Daher muss dieser Krieg, der schon zu lange andauert, endlich beendet werden. Es liegt im Interesse aller Staaten der Region, dem Vorbild vieler zeitgenössischer Staaten zu folgen und entsprechende Schritte einzuleiten. Die Kurden fordern lediglich Respekt vor ihrer Existenz, Freiheit für ihre Kultur und ein vollständig demokratisches System. Eine humanere und bescheidenere Lösung ist nicht denkbar. Die Lösungsmodelle in Südafrika, Palästina-Israel, England-Wales, Nordirland, Schottland und Korsika zeigen nicht nur, wie verschiedene moderne Staaten ähnliche Probleme in ihrer Geschichte  gehandhabt  und  gelöst  haben.  Darüber  hinaus  helfen  uns Vergleiche mit den dortigen Erfahrungen, die eigenen Probleme objektiver zu betrachten. Die Abkehr von der Gewalt als Mittel zur Lösung der kurdischen Frage und die teilweise Überwindung der repressiven Politik der Verleugnung hängen eng mit der Aufrechterhaltung einer demokratischen Option zusammen. Das Lehr- und Sendeverbot für die kurdische Sprache und Kultur ist selbst eine Form von Terror und lädt gewissermaßen zur Gegengewalt ein. Gewalt ist von beiden Seiten unkontrolliert und in einem Maße angewandt worden, dass die legitime Selbstverteidigung bei Weitem übersteigt. Viele Bewegungen greifen heute zu noch extremeren Methoden. Wir hingegen haben mehrfach einseitige Waffenstillstände ausgerufen und den Großteil unserer Kräfte für mehrere Jahre auf Territorien außerhalb der Türkei zurückgezogen, wo sie defensiv ausgerichtet stationiert wurden, was den Vorwurf des Terrorismus widerlegt. Unsere langjährigen Friedensbemühungen wurden jedoch stets ignoriert. Keine unserer Initiativen fand Widerhall. Selbst eine Gruppe von kurdischen Politikern, die wir als Botschafter des Friedens entsandt hatten, wurde verhaftet und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Unsere Friedensbemühungen wurden uns stets, fälschlicher Weise, als Schwäche ausgelegt. Anders sind die Aussagen wie die PKK und Öcalan seien so gut wie am Ende oder solche Initiativen seien nur taktischer Natur nicht zu erklären. Es bräuchte nur noch ein härteres Vorgehen gegen die PKK, so der Tenor dieser Aussagen, dann werde sie zerfallen. Dementsprechend wurde vorgegangen, die Angriffe auf die kurdische Befreiungsbewegung wurden verstärkt. Niemand fragt sich jedoch, warum der gewünschte Erfolg ausbleibt. Denn es ist nicht möglich, die kurdische Frage mit Gewalt zu lösen. Die  oben  beschriebe  Haltung  hatte  auch  großen  Anteil  am Scheitern des Waffenstillstands, der am 1. Oktober 2006 in Kraft trat. Auch dieser Waffenstillstand, zu dem ich die PKK aufrief, nach dem Intellektuelle und einige Nichtregierungsorganisationen diesen einforderten, wurde nicht ernst genommen. Stattdessen wurde der Rassismus und Chauvinismus in der Gesellschaft weiter geschürt und ein Klima der Konfrontation erzeugt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die AKP von ihren eigenen Problemen mit der kemalistischen Machtelite abzulenken versucht, indem  sie  mit  der  Armee  Kompromisse  schließt  und  auf  eine Verschärfung des türkisch-kurdischen Konflikts spekuliert. Die Regierung beschränkt sich derzeit auf halbherzige Maßnahmen, um der EU Zugeständnisse abzuringen. Mit den im Zuge des EU-Beitrittsprozesses verabschiedeten Harmonisierungsgesetzen soll Zeit gewonnen werden. In der Praxis bleiben die vermeintlichen Reformen reine Makulatur. Der sich weiter  verschärfende Konflikt gibt  Anlass  zur  Sorge. Dennoch habe ich die Hoffnung auf  einen gerechten Frieden nicht verloren. Ein Friedensprozess ist jederzeit möglich.

Die Lösung, die ich der Gesellschaft der Türkei anbiete, ist einfach. Wir fordern eine demokratische Nation. Wir haben nichts gegen den unitären Staat und die Republik. Wir akzeptieren die Republik, ihre unitäre Staatsstruktur und den Laizismus. Aber wir glauben, dass der demokratische Staat neu definiert werden muss, in dem die Völker, Kulturen und bürgerlichen Rechte geachtet werden. Auf Grundlage dieser Rechte muss den Kurden eine demokratische Organisierung möglich sein, die den Raum für kulturelle, sprachliche, wirtschaftliche und ökologische Entfaltung bietet. Auf dieser Basis können sich Kurden, Türken und andere Kulturen unter dem Dach einer ‚Demokratischen Nation Türkei‘ versammeln. Dies ist jedoch nur möglich, wenn ihr ein demokratischer Nationenbegriff, eine demokratische Verfassung und eine fortschrittliche, multikulturelle Rechtsordnung zugrunde liegt. Für unser Verständnis einer demokratischen Nation stellen Flaggen und Grenzen kein Problem dar. Unsere Auffassung von einer demokratischen Nation beinhaltet das Modell einer Nation, die auf der Demokratie aufbaut, statt einer Nation, die sich allein über den Staat und eine Ethnie definiert. Die Nation Türkei muss als Nation definiert werden, die alle ethnischen Gruppen umfasst. Gemeint ist damit ein Nationenmodell, das nicht auf einen türkisch-ethnischen Bezug, auch nicht auf Religion oder Rasse, sondern auf den Menschenrechten beruht. Wir gehen vom Begriff einer demokratischen Nation aus, der alle Ethnien und Kulturen umfasst.

Vor diesem Hintergrund formuliere ich nochmals die Eckpunkte einer Lösung:

  • Die kurdische Frage muss als grundlegende Frage der Demokratisierung behandelt werden, die kurdische Identität muss gesetzlich und verfassungsmäßig garantiert werden. Ein Artikel in der neuen Verfassung mit dem Wortlaut „Die Verfassung der türkischen Republik erkennt die Existenz und den Ausdruck aller Kulturen auf demokratische Weise an“ würde diese Forderung bereits erfüllen.
  • Sprachliche und  kulturelle  Rechte  müssen  gesetzlichen Schutz. Es  darf  keine  Beschränkungen  für  Radio, Fernsehen und Presse geben. Kurdische und anderssprachige Sendungen sollten denselben Regeln und Institutionen unterliegen wie türkische Radio- und Fernsehsendungen. Auch für kulturelle Aktivitäten müssen die gleichen Gesetze und Prozeduren gelten.
  • Kurdisch sollte als Unterrichtsprache in Grundschulen Verwendung finden. Jeder, der dies möchte, sollte sein Kind auf solchen Schulen einschulen können. Auf Gymnasien sollten Unterrichtseinheiten über kurdische Kultur, Sprache und Literatur als Wahlfach angeboten werden. An Universitäten hingegen muss der Aufbau von Instituten für kurdische Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte gestattet werden.
  • Die Meinungs- und Organisationsfreiheit darf in keiner Form eingeschränkt. Eine freie politische Betätigung muss gewährleistet sein und darf nicht staatlicher Reglementierung unterliegen. Auch bei Themen, die die kurdische Frage berühren, müssen diese Freiheiten ohne Einschränkungen gelten.
  • Die Parteien- und Wahlgesetze müssen einer demokratischen Reform  unterzogen. Die  Partizipation des  kurdischen Volks und aller demokratischen Kräfte an der demokratischen Willensbildung muss gewährleistet sein.
  • Ein demokratisches Kommunalverwaltungsgesetz muss verabschiedet werden, das die Demokratie stärkt.
  • Das Dorfschützersystem und die   illegalen Netzwerke, die sich im Staat gebildet haben, müssen aufgelöst werden.
  • Die Rückkehr der im Krieg gewaltsam vertriebenen Bevölkerung darf nicht behindert werden. Hierfür sind die notwendigen administrativen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen zu treffen. Daneben muss ein Aufbauprogramm für die wirtschaftliche Entwicklung auf den Weg gebracht werden, um der kurdischen Bevölkerung ein Auskommen zu sichern und ihr Lebenshaltungsniveau zu verbessern.
  • Die Verabschiedung eines Gesetzes für den gesellschaftlichen Frieden und für eine demokratische Partizipation ist nötig, um den Mitgliedern der Guerilla, den Inhaftierten und allen, die ins Exil gehen mussten, ohne Vorbedingungen die Teilnahme am demokratischen, politischen Leben zu ermöglichen.

Darüber hinaus müssen wir über sofortige Maßnahmen auf dem Weg zu einer Lösung sprechen. Ein demokratischer Aktionsplan muss formuliert und auf den Weg gebracht werden. Die Einrichtung von Wahrheits- und Gerechtigkeitskommissionen ist für den gesellschaftlichen Ausgleich von zentraler Bedeutung. Die Fehler beider Seiten müssen offen und die Wahrheit herausgefunden werden. Nur so lässt sich eine gesellschaftliche Verständigung erreichen. In Momenten, wo Staaten und Organisationen nicht weiterkommen, können Intellektuelle eine Mittlerrolle übernehmen. Vergleichbare  Erfahrungen  gibt  es  auch  in  anderen  Ländern wie in Südafrika, Nordirland und Sierra Leone. Sie können eine Schiedsfunktion übernehmen, mit deren Hilfe sich beide Seiten zu einem gerechten Frieden bewegen lassen. In solchen Kommissionen können Intellektuelle, Experten von Anwalts- und Ärztekammern und Wissenschaftler vertreten sein. Wenn wir eines Tages zum Punkt der Waffenniederlegung gelangen, werden wir die Waffen nur einer solchen Kommission übergeben. Voraussetzung ist jedoch, dass eine solche Kommission für Gerechtigkeit sorgt. Denn warum sollten wir die Waffen abgeben, wenn es keine Gerechtigkeit gibt? Der Beginn eines solchen Prozesses hängt auch vom guten Willen und vom Dialog ab. Sollte es einen Dialog geben, können wir einen Prozess einleiten, der dem vorherigen unbefristeten Waffenstillstand ähnlich ist. In diesem Zusammenhang bin ich weiterhin bereit, das Meinige zu tun. Die Regierung steht dagegen vor der Aufgabe, ihren Willen zum Frieden unter Beweis zu stellen und die Initiative zu ergreifen. Sollte sie nicht das Ihrige tun, wird sie allein für die Konsequenzen verantwortlich zu machen sein. Sollten die Bemühungen um eine friedliche Lösung scheitern und die Friedensbemühungen der Tagespolitik, den Machtkämpfen und dem Profitstreben geopfert werden, wird sich der jetzige Konflikt weiter verschärfen, dessen Ausgang nicht mehr absehbar ist. In dem daraus erwachsenden Chaos wird es keine Gewinner geben. Die Türkei muss endlich die Fähigkeit aufbringen, ihre eigene Realität, die kurdische Realität und die globalen Dynamiken anzuerkennen. Jeder Staat, der sich der Realität verweigert, wird unweigerlich in eine existenzielle Krise geraten. Entscheidend ist letztlich, ob die Schritte unternommen werden, die dieses Land erfolgreich in einen dauerhaften Frieden führen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Broschüre “Krieg und Frieden in Kurdistan” von Abdullah Öcalan.


Seit vielen Jahren versucht Abdullah Öcalan, günstigere Bedingungen für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts in der Türkei herbeizuführen. Jahrelang führte er mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lösung. 2009 legte er seine »Roadmap für den Frieden« vor. 2013 stoppte sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla effektiv den bewaffneten Konflikt in der Türkei. Öcalan ist seit seiner Entführung 1999 auf der türkischen Insel Imrali völlig von der Außenwelt abgeschnitten. 11 Jahre lang war er der einzige Häftling auf der Insel – bewacht von mehr als 1000 Soldaten. Seit Ende Juli 2011 hat Öcalan mit keinem Anwalt sprechen können. Öcalan hält so den »Europa-Rekord« für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Seit April 2015 befindet er sich faktisch in Totalisolation. Diese Zustände machen Imrali zum schlimmsten der ohnehin berüchtigten türkischen Gefängnisse. Die weltweite Kampagne für Öcalans Freiheit hat 10,3 Millionen Unterschriften gesammelt. Das Time-Magazine kürte ihn 2013 zu einer der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten. Er ist Autor zahlreicher Bücher.