Die Neugestaltung des Mittleren Ostens

KCK-Exekutivratsmitglied Cemil Bayik zur Situation im Mittleren Osten

Cemil Bayik, Mitbegründer der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und seit Juli 2013 Kovorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), beantwortete, noch als KCK-Exekutivratsmitglied, im Juli im Kandil-Gebirge gegenüber ANF Fragen zu den aktuellen Entwicklungen im Mittleren Osten, insbesondere zum Krieg in Syrien (allerdings noch vor den koordinierten Angriffen der dschihadistischen Gruppen in Westkurdistan), und den Perspektiven der kurdischen Freiheitsbewegung unter Führung der PKK. Wir dokumentieren einen stark gekürzten Ausschnitt des bei ANF veröffentlichten Gesprächs.

 

Krisen und Konflikte im Mittleren Osten

Der Mittlere Osten erlebt eine Phase der Neustrukturierung. Wie ist im Rahmen dieser auch als „Dritter Weltkrieg“ bezeichneten Neustrukturierung die von den Hegemonialmächten insbesondere gegen Syrien angewandte Politik zu bewerten?

Der Mittlere Osten war immer ein wichtiger Raum in der internationalen politischen Historie. Er ist die Region, in der die Menschheit die gesellschaftliche Kultur erschaffen, in der sich die erste Zivilisation gebildet und in der Welt verbreitet hat. Diese Realität hat sich auch nach Tausenden Jahren nicht verändert. Der Mittlere Osten ist der Ort, wo die Kulturen aufeinandertreffen, wo sich die Wege des Welthandels kreuzen, der Ort der ersten Ideologien, der grundlegenden Kulturen, wo die ersten monotheistischen Religionen entstanden sind. Diesem Charakter des Mittleren Osten wurde in der kapitalistischen Moderne noch der wichtige Faktor der Erdölquellen hinzugefügt. Demnach ist der Mittlere Osten für uns heute das Zentrum des politischen Kampfes.

Er ist auch eine der zentralen Regionen, wo sich der Kampf zwischen dem Realsozialismus und dem System der kapitalistischen Moderne konzentrierte. Ebenso ist er Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Mächten des kapitalistischen Systems. Der Zerfall der politischen Ordnung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus erzeugte besonders im Mittleren Osten ein Machtvakuum, das Probleme aufwarf, die das System beunruhigten. In diesem Rahmen wurde der Mittlere Osten 1991 zur Bühne für den ersten Golfkrieg und 2003 für Kriege, die als zweiter Golfkrieg bezeichnet werden können. Sie wurden auf der Grundlage der Neustrukturierung des Mittleren Ostens geführt. Auf der anderen Seite bestanden vom Realsozialismus unterstützten Mächte weiter. Nachdem der politische Rahmen ihrer Entstehung sich aufgelöst hatte, waren diese Regime bestrebt, ihre Existenz zu bewahren. Dessen ungeachtet will der Iran – eine politische Kraft, die eine Revolution erlebt hat, ihre Kraft aus der historischen Kultur und Tradition schöpft und wo die Staatstradition stark verwurzelt ist – im Kampf um die politische Ordnung im Mittleren Osten eine einflussreiche Rolle spielen. Ebenso wie die Türkei mit ihrer imperialen Tradition, angelehnt an die Hegemonialmächte und die Spuren des Osmanischen Imperiums. Das alles hat im Mittleren Osten eine ernsthafte Krisen- und Konfliktsituation erzeugt.

Bestrebungen der USA und Europas zur Neugestaltung des Mittleren Ostens

Mit dem im vorletzten Jahr in Tunesien begonnenen und sich über Ägypten, Libyen und Jemen ausbreitenden Sturz alter Regime hat der Prozess des Aufbaus einer neuen Ordnung im Mittleren Osten Geschwindigkeit aufgenommen. Besonders die grundlegende globale Hegemonialmacht, die USA, will zusammen mit Europa in dieser Phase den Mittleren Osten umgestalten. In diesem Zusammenhang hat man nach dem Machtwechsel in Ägypten und Libyen die Hand nun nach Syrien ausgestreckt. Das syrische Regime wurde in der Phase des Kalten Krieges geformt. Daher konnte es sich im Hinblick auf die neuen globalen Bedingungen nicht selbst erneuern. Aus diesem Grund hat sich die seit Jahren unterdrückte innere Opposition in Syrien erhoben, und mit dem Sichtbarwerden der politischen Ohnmacht dort verlangte die im Mittleren Osten engagierte Türkei nach Einfluss. Insbesondere nach der Beteiligung an der US-Intervention in Libyen verfolgte sie mit dem frühen Drang nach einer Intervention in Syrien das Ziel, dort Vorsprung zu gewinnen und so ihren Einfluss auf den Mittleren Osten auszudehnen. Besonders Saudi-Arabien und Katar sowie weitere haben Kontakt zu den verschiedenen oppositionellen Kräften in Syrien. Das hat in Syrien zu einer ernstzunehmenden und unübersichtlichen Konfliktlage geführt.
Die besondere Bedeutung Syriens für die Politik im Mittleren Osten ist und war immer bekannt, doch mit dieser Phase des Konflikts wurde wieder offensichtlich, wie wichtig seine Rolle für die politische Ordnung im Mittleren Osten ist. Aus diesem Grund intervenieren dort so entschieden alle einflussreichen internationalen Mächte, einschließlich der Türkei und des Iran, sowie die regionalen Kräfte. Denn über Syrien wird ein neues System im Mittleren Osten errichtet, was die Kämpfe und Konflikte in Syrien noch weiter verkompliziert hat.

„Die Gestaltung Syriens wird maßgeblich sein für den zukünftigen politischen Charakter des gesamten Mittleren Ostens“

Am Anfang hatten die USA und Europa die Opposition in Syrien unterstützt, mit dem Wunsch, dass die sich erhebe und das Assad-Regime stürze. Doch in kürzester Zeit gewannen die islamistischen Kräfte an Einfluss, was dem Krieg andere Dimensionen verliehen hat. An diesem Punkt haben die in der Frage der Sicherheit Israels sensiblen Kräfte begonnen, die Opposition in Syrien näher zu betrachten. Auch eine Macht wie Frankreich, das intensiv mit dem Libanon und Syrien verbunden ist und sich als Vormund für die Christen im Libanon sieht, hat angesichts der Entwicklung der islamistischen Opposition in Syrien ihre Politik gegenüber den Oppositionsgruppen zu überdenken begonnen. Und die USA und Frankreich haben realisiert: Die Gestaltung eines neuen Staates in Syrien wird nicht nur Syrien verändern, sondern maßgeblich sein für den zukünftigen politischen Charakter des gesamten Mittleren Ostens. Nach dieser Erkenntnis hat man sich im Hinblick darauf, wie die neue Führung Syriens aussehen soll, auf die Suche nach Neuem begeben.

Russland, China und Iran

In Kenntnis dieser Rolle Syriens für die Ordnung des gesamten Mittleren Ostens richteten Russland und China ihre Aufmerksamkeit intensiver auf Syrien. Sie hatten zuvor sowieso schon enge Beziehungen unterhalten und gewährten Unterstützung. Der Iran hat Syrien grundsätzlich aus eigener Besorgnis unterstützt, und infolgedessen ist auch der Irak Teil dieses Konfliktes geworden. Diese Situation hat den politischen Kampf und die Krise in Syrien noch weiter verkompliziert. Sowohl weil sich über Syrien die Ordnung des Mittleren Ostens auf einer neuen Ebene konkretisieren wird, als auch weil internationale und regionale Kräfte in einer unübersichtlichen Auseinandersetzung involviert sind, wird der in Syrien geführte Krieg als der „Dritte Weltkrieg“ bezeichnet.

Genfer Konferenz

Wie am Ende aller Weltkriege auch praktiziert, wird mit bestimmten Konferenzen der Charakter der Region zu gestalten versucht. Mit der Genfer Konferenz soll im Grunde nach Krieg und politischem Kampf mit zahlreich involvierten Kräften eine bestimmte Einigung bzw. ein bestimmtes Abkommen über Syrien erzielt werden. Allein die Tatsache, dass die internationalen Mächte sich gemeinsam einer Einigung zuwenden, zeigt den Ernst der Lage. Zuvor hatte die Türkei die Genfer Konferenz gering geachtet, sich ablehnend geäußert und sogar mit den USA und Europa angelegt; doch nach dem Treffen mit Obama sprach sie von der Wichtigkeit der Zusammenkunft. Mit der Einsicht, auf eigene Faust mit Waffengewalt und eigener politischer Kraft nichts in Syrien ausrichten zu können, hat sie sich der Konferenz angeschlossen, um so ihren Einfluss und ihre Existenz zu wahren. Oder noch richtiger: Sie hat erkannt, dass Einfluss in Syrien auf andere Weise nicht möglich ist.

„Es wird nicht geduldet werden, dass die Türkei Einfluss auf Syrien gewinnt“

Die Überwindung des alten Syrien und der Aufbau des neuen werden auf der Grundlage bestimmter Übereinkommen geschehen, selbstverständlich keiner Übereinkommen gleichwertiger Mächte. Es wird eine Hegemonialmacht geben. Das sind sowieso die USA, daneben Europa. Auch wenn diese die eigentliche Macht besitzen werden, so sind in gewissem Maße auch die auf der Genfer Konferenz festzulegenden Profite Chinas und Russlands zu beachten. Es wird nicht geduldet werden, dass die Türkei großen politischen Einfluss auf Syrien gewinnt, doch werden ihr einige ökonomische Zugeständnisse gewährt. Der Iran, der wie Europa und die USA kein Syrien unter der Herrschaft des politischen Islam sehen will, wird geschwächt aus diesem Prozess hervorgehen und seine Existenz in Libanon und Syrien nur sehr eingeschränkt bewahren. Im Falle der Dominanz einer sunnitisch-islamischen Macht in Syrien wäre der Iran vollständig isoliert; dies würde seine vollständige Niederlage bedeuten.

Der politische Islam

Können im neustrukturierten Mittleren Osten Lösungsansätze wie der „politische Islam“ Antworten auf die vorhandenen Probleme geben? Und wie sieht ihre Zukunft im Zuge des Zusammenbruchs der bestehenden nationalistischen Staatengebilde aus?

Nach der Auflösung der Sowjetunion hat das US-geführte internationale System gesehen, dass es sich mit den alten kollaborierenden Machtblöcken im Mittleren Osten keinen Einfluss verschaffen kann. Mithilfe gesellschaftlicher Kreise und Strömungen, die sich selbst in den letzten zwei Jahrhunderten als modern und säkular bezeichneten und zum Teil Modelle des europäische Systems der kapitalistischen Moderne darstellten, hatte man den Mittleren Osten kontrollieren wollen. Doch insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges war das schwierig, und auch, auf dieser Grundlage die Dominanz zu bewahren. So, wie diese Mächte nicht mehr den Anforderungen des Systems genügen, verfügen sie auch nicht mehr über gesellschaftliche Legitimität. Mit einem von den kulturellen gesellschaftlichen Werten abgekoppelten Politikverständnis sind Lebensweise und Lebenskultur des Großteils der Gesellschaft zur Zielscheibe geworden. Mit diesen Mächten sind in der Region die Funktion einer Hegemonialmacht und die Kontrolle der Gesellschaft nicht mehr möglich. Daher wurde sich einer Politik mit neuen kollaborierenden Kräften, die gesellschaftliche Legitimität genießen, zugewandt, einer Politik des sogenannten „kollaborierenden moderaten Islam“. Ohnehin war zur Zeit des Kalten Krieges eine Politik der Einkreisung und Neutralisierung der Sowjetunion bzw. des Kommunismus („Grüner Gürtel“) betrieben worden. In diesem Zusammenhang waren Beziehungen zu verschiedenen islamistischen Kreisen im Mittleren Osten aufgebaut und deren Kollaboration in die eigene Politik integriert worden, dabei wurden innerhalb des politischen Islam Agentengruppen für die USA und Europa geschaffen. Deshalb wollten diese der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten über den kollaborierenden Islam zum Durchbruch verhelfen.

Mit Beginn der Geschehnisse in Tunesien unterstützten sie gemäß ihrer neuen Herrschaftsstrategie den Einfluss des kollaborierenden politischen Islam in diesen Ländern, um diese zur dominanten Kraft des neu entstehenden Machtblocks zu machen. Folglich versuchten sie in Tunesien, Libyen, Ägypten und Jemen entsprechend dieses neuen Kollaborationsprofils, ihren Einfluss zu stärken und der Region eine neue Ordnung zu geben.

Doch im Falle Syriens zeigte sich diese Strategie nach kurzer Zeit als nicht förderlich für ihr Projekt, es wurde aufgrund der Befürchtung kontraproduktiver Resultate sogar eine andere Herangehensweise gewählt. Man will in Syrien keine Herrschaft des politischen Islam so wie in Ägypten und anderen Ländern – auch wenn er kollaboriert. Dabei spielt die gemeinsame Grenze mit Israel und dem Libanon und die Situation der Türkei eine Rolle. Mit der Überlegung, auf dem kollaborierenden Islam beruhende Regime würden mit der Zeit ihren Charakter verändern und ihnen Schwierigkeiten bereiten, sehen sie ihren Vorteil in einem Syrien mit anderer Machtkonstellation.

Der politische Islam soll zwar einbezogen werden, aber ohne Priorität; ein Syrien mit einer breiten Palette von Kurden, Drusen, Aleviten, Assyrern, Armeniern und in den letzten hundert Jahren mit der westlichen Kultur gewachsenen Kreisen sowie anderen politischen Ansätzen und linken Kräften wird bevorzugt. So wird über eine Pufferzone zwischen der Türkei und den islamistischen Kräften im Süden Syriens nachgedacht. Südkurdistan ist ohnehin ein solches Gebilde.

AKP und Fethullah Gülen

In den anderen Gebieten des Mittleren Ostens setzen die Hegemonialmächte zur Kontrolle der Region ohne Frage weiter auf den kollaborierenden politischen Islam. Schon die Realität der AKP und Fethullah Gülens zeigt: Dass in der Türkei entsprechende Kreise über eine gewisse Macht verfügen, entspricht den eigenen Interessen. Vielleicht wollen sie auch in der Türkei keine Dominanz des kollaborierenden politischen Islam; dabei halten sie ihn ebenso wie als Gegengewicht die Existenz anderer politischer Strömungen für notwendig. In diesem Rahmen muss ihre Agentenbeziehung mit Fethullah Gülen bewertet werden, desgleichen dessen Einfluss innerhalb der AKP.

Gezi-Park

In der sich aus dem Istanbuler Gezi-Park entwickelnden Widerstandsphase hat sich gezeigt, dass die USA und Europa in der Türkei ein politisches Gleichgewicht, ohne islamistische Hegemonie, für wichtig erachten. Folglich haben sie während des Gezi-Park-Aufstands die AKP-Regierung scharf kritisiert. Diese Kritik hat im Grunde offenbart, was für eine Türkei sie wollen. Ginge es nach ihnen, sollten die politischen Islamisten in der Türkei eine bei Bedarf benutzbare Kraft bilden, allerdings nicht als Hegemonialmacht. Die Haltung der USA zu den von Istanbul aus sich in der ganzen Türkei verbreitenden Protesten in dieser Weise zu bewerten, wird nicht falsch sein. Zweifellos schmälert dies nicht den demokratischen und emanzipatorischen Charakter des Gezi-Park-Aufstands. Es lässt sich lediglich behaupten, dass sie daraus ihren Nutzen ziehen konnten. Ansonsten wissen sie um die Gefahr der aus dem Gezi-Park-Widerstand erwachsenden Emotionen und Ideen für sich selbst. Diese Ereignisse zeigen wieder einmal, dass jedes Problem der Länder des Mittleren Ostens von äußeren Kräften gegen sie benutzt werden kann, wenn sie ihre eigenen Angelegenheiten nicht demokratisch lösen.

Die Hegemonialpolitik der internationalen Mächte im Mittleren Osten, gestützt auf den kollaborierenden politischen Islam und andere Kräfte, basiert auf dem Nationalstaat. Ohne Zweifel werden einige extreme Charakteristika des Nationalstaats aufgeweicht, die im 20. Jahrhundert die gesellschaftliche Unzufriedenheit wachsen ließen und die kollaborationsgestützte Herrschaftssicherungsmethode der internationalen Mächte in Schwierigkeiten brachten. Andererseits verursachen die klassische nationalstaatliche Mentalität und ihre Rechtsform einige Hindernisse für den freien und sicheren Kapitalfluss. Die internationalen Monopole halten sich nun selbst für einflussreicher und stärker als Nationalstaaten und sind daher an der Überwindung der alten Mentalitäten und der Öffnung der Staaten zum Zwecke ihrer völligen Ausbeutung interessiert, um so die als störend empfundenen Aspekte des Nationalstaats loszuwerden. Gleichwohl handelt es sich wieder um die etatistische Nationalstaatsmentalität, mit einer Verlagerung der nationalistischen Tendenz in Richtung Islamismus. Ebenso tritt die Realität eines Nationalstaats mit einflussreicher kollaborierender islamischer Färbung in Erscheinung. Dabei geht es um nichts anderes als eine Kontinuität der seit 200 Jahren in den Mittleren Osten gepressten modernistischen Mentalität und Gebilde. Der Modernismus wird im Grunde mit islamistischer Identität etabliert. Der Kapitalismus erobert den Mittleren Osten mit diesem kollaborierenden politischen Islam, die Beziehung zwischen Letzterem und dem Nationalstaat wird in neuer Form fortgeführt.

Die alten Nationalstaaten waren lokale Ableger der globalen modernistischen kapitalistischen Zivilisation. Das mit den klassischen nationalstaatlichen Machtblöcken nicht zu realisierende Agententum soll nun mithilfe des kollaborierenden Islam effektiver durchgesetzt, der nicht vollständig eroberte Mittlere Osten nun unter dem Deckmantel des gemäßigten kollaborierenden Islam ausgebeutet werden. So wie in der Realität der Türkei müssen die damit einhergehenden Erfolge und Ergebnisse erkannt werden, eben jetzt in Tunesien, Ägypten und Libyen. Der kollaborierende gemäßigten Islam spielt im Mittleren Osten die Rolle des Trojanischen Pferdes für die kapitalistische Moderne.

So wie das Nationalstaatsverständnis der kapitalistischen Moderne wird auch diese neue Kollaborationspolitik keine Antwort für die Probleme der Region haben. Denn es trägt in seinem Wesen keinen demokratischen Charakter. Es wird kein System aufgebaut, das auf dem demokratischen Leben und der Freiheit aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften basiert, mit Kollaboration soll die Gesellschaft am Zügel gehalten werden. Insofern sich nicht von der Politik abgewendet wird, die Widersprüche immer wieder auszunutzen und so die Kontrolle zu behalten, ist kein Mittlerer Osten gewollt, der auf einer demokratischen Gesellschaft beruht, in dem Widersprüche aufgehoben sind und alle ethnischen und religiösen Gruppen und andere soziale Gemeinschaften sich frei organisieren und partizipieren. Denn eine demokratische Gesellschaft ist eine willensstarke und gestärkte Gesellschaft, die sich folglich den Forderungen und Zumutungen der Kräfte von außerhalb nicht beugt. Demokratie und Demokratisierung schaffen im Grunde eine Situation, in der der Einfluss der herrschenden und ausländischen Kräfte reduziert oder sogar gänzlich abgebaut ist. In dieser Hinsicht werden eine Politik und eine Praxis, die eine Demokratisierung und Befreiung des gesamten Mittleren Ostens mit sich bringen, die internationalen Mächte natürlich beunruhigen. Die werden nicht begeistert sein von einer freien, auf demokratischer Organisierung beruhenden Gesellschaft. Insofern wird, weil die US- und europäische Intervention im Mittleren Osten und die damit verbundene Neuordnung der Region die Gesellschaft nicht befrieden und keine Antwort für deren Bedürfnisse haben werden, die Position der Gesellschaft zu Organisierung und Widerstand weiter Gültigkeit haben. Weder werden die Probleme im Mittleren Osten verschwinden, noch wird der Widerstand gegen die Quelle dieser Probleme, nämlich die internationalen Mächte und deren Kollaborateure, enden. Dementsprechend wird die neue Ordnung in der Region keine Problemlösung bieten. Im Gegenteil sollen die vorhandenen Probleme der Sicherung der hegemonialen Existenz dienen und die Kollaboration der Vorherrschaft in der Region; während der Widerstand der Gesellschaft gegen die Herrschenden im politischen Kampf anhalten und sich noch verstärken wird.

Wie die als sogenannter „Arabischer Frühling“ zusammengefasste Dynamik sind nach dem Sturz alter despotischer Regime neue Machtblöcke, neue politische Kräfte auf der Bühne der Geschichte erschienen. Die Büchse der Pandora wurde geöffnet. Auch wenn sich auf der Grundlage neuer Machtblöcke die Herrschaft in den Ländern der Region bilden wird, werden fortan die aus dem Chaos entstandenen neuen politischen Kräfte ihren Kampf für den Aufbau eines freiheitlichen und demokratischen Systems im Mittleren Osten fortsetzen. Demzufolge wird der Mittlere Osten im 21. Jahrhundert im Vergleich zu dem Widerstand, den Krisen und Konflikten im 20. Jahrhundert ein noch reicheres, dynamischeres politisches und gesellschaftliches Leben hervorbringen.

Das von Öcalan entwickelte Paradigma

Der Vorsitzende ihrer Partei [Abdullah Öcalan] hat Kurdistan und dem gesamten Mittleren Osten eine demokratische Friedensinitiative vorgelegt. Die Geographie des Mittleren Ostens, hat seit der 200-jährigen Hegemonie, solch ein Projekt und solche Anläufe nicht erlebt. Was denken sie, was für eine Rolle dieses Projekt für die Zukunft der Türkei und die Demokratisierung des Mittleren Ostens spielen wird?

Das neue Paradigma, welches der Vorsitzende Apo heute darlegt und das in diesem Zusammenhang von ihm vorgesehene politische und gesellschaftliche Projekt, basiert auf dem historischen Hintergrund und den historischen Erfahrungen des Mittleren Ostens. Natürlich hat er bei der Entwicklung des neuen Paradigmas auch die Hintergründe und Erfahrungen der Menschen aus anderen Regionen der Welt, insbesondere Europas, bewertet. Das im neuen Paradigma vorgesehene freiheitliche demokratische System beruht natürlich auf den Werten der gesamten Menschheit. Dabei hat er seine Haltung und Verteidigung grundsätzlich als Verteidigung der Werte des Mittleren Ostens bewertet. Es wäre eine beschränkte Herangehensweise dieses Paradigma nur als Verteidigung eines Landes oder einer Region gegen äußere Kräfte wahrzunehmen. Die richtige Analyse und Bewertung dieser Geographie, die die schönsten Werte und Kulturen der Menschheit erschuf, die die Stammzelle der Menschheit und Zivilisationen darstellt, ist nicht nur im Hinblick auf den Mittleren Osten, sondern im Hinblick auf das freie und demokratische Leben der Menschheit als wichtig zu erachten. Insofern hat er ein neues Menschheitsprojekt entwickelt, dass den Werten der gesamten Menschheit Bedeutung beimisst und auf der Geographie basiert, die die erste Gesellschaftlichkeit und Zivilisation erschuf, sowie der Natur der Menschen und seiner Stammzelle entspricht. In dieser Hinsicht ist der Anteil der Werte und Kulturen des Mittleren Ostens für das Entstehen des neuen Paradigmas sehr groß. Ohne Zweifel wird dieses Paradigma die Eigenschaft tragen, antworten auf alle Probleme der Menschheit zu geben, insbesondere denen des Mittleren Ostens. Da es ohnehin die Realität des Mittleren Ostens beachtet und eine Mentalität und ein Paradigma darstellt die den Mittleren Osten sehr gut analysiert, stellt es eine exakte Lösung für dessen Probleme dar.

Er [Abdullah Öcalan] hat gegen die kapitalistische Moderne, welche im Mittleren Osten alle gesellschaftlichen Strukturen und Mentalitäten zerstören und von außen eine neue Gesellschaft aufdrücken will, ein Projekt der freien und demokratischen Gesellschaft, die auf der Realität des Mittleren Osten beruht, vorgelegt. Er hatte ohnehin immer gegen politische, gesellschaftliche und kulturelle Lebensprojekte, die von außerhalb des Mittleren Ostens aufgezwungen werden und das äußere zur Grundlage machen, gekämpft, hart dagegen gehalten und diese nicht akzeptiert. Folglich sind viele Projekte und politische Auffassungen im Mittleren Osten nicht erfolgreich gewesen, da sie nicht die Schablonen der kapitalistischen Moderne überwinden konnten. Ohnehin sind viele in jüngster Zeit entwickelte Projekte und die darauf bauenden Ideologien, die nicht auf den Wurzeln und der Realität des Mittleren Ostens basieren, wirkungslos geblieben. Viele derjenigen Kreise, die sich gegen diese von außen aufgezwungenen Projekte gewehrt haben, hatten vermutlich auch selbst kein eigenes Projekt, wie sich die Gesellschaft organisieren lässt. Aber ihr emotionaler Widerstand basiert nichts desto trotz auf der historischen Kultur der Gesellschaft, welche sie gegen Projekte von außen schützen wollen.

Auch wenn die Kräfte, die sich auf den kollaborierenden gemäßigten Islam stützen, sich selbst als islamisch, nah- bzw. mittelöstlichen Ursprungs und ortsgebunden bezeichnen, sind sie nichts anderes als Bewegungen, die nicht über den Horizont der kapitalistischen Moderne blicken können und als Agenten des Systems zu definieren sind. Sie versuchen – anstatt das Ziel zu verfolgen die Probleme der Menschen und der Gesellschaft auf Basis der Werte der Menschheit und des Mittleren Ostens zu lösen – diese Kultur auszubeuten, auszunutzen und die vom Westen kommende etatistisch-machtzentrierte Mentalität in einer anderen Form auf die Gesellschaften des Mittleren Ostens zu übertragen. Es wird nicht versucht die eigene Existenz mit einer Mentalität und Herangehensweise die die Probleme lösen würde, aufrechtzuerhalten, sondern, mithilfe eines Machtverständnisses, welches erst für die Probleme im Mittleren Osten und der ganzen Welt verantwortlich ist – unter dem Deckmantel des Islam. Projekte des Westens wie der herrschende Islam, mit seinem ausbeuterischen Charakter werden seitens der Gesellschaft abgelehnt werden. Denn auch dieser ist wie seine Vorgänger durch seinen Kollaborationscharakter gekennzeichnet.

Die vom Vorsitzenden Apo an der Newroz-Feier am 21. März in Amed verkündete politische Mentalität ist ein Projekt und ein Paradigma, welches auf allen unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und ethnischen Gruppen im Mittleren Osten basiert, die die vollständige demokratische Organisierung der Gesellschaft als Grundlage nimmt und die Kraft besitzt, Antworten auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zu geben und dessen Probleme zu lösen. Weil es sich um solch ein Paradigma und Projekt handelt, dass gegen die kapitalistische Moderne – welche seit 400 Jahren eine Entfremdung und Zerstörung des sozialen und kulturellen Gefüges gegen den Mittleren Osten aufzwingt – auf den eigenen Wurzeln basiert, im Einklang mit der Gesellschaft steht und die kommunal-demokratischen und ethischen Werte der Gesellschaft aus dessen historischen Erfahrung zur Grundlage des Projekts macht; hat im Mittleren Osten, der Türkei und in Kurdistan eine Ära der Befreiung begonnen. Mit der Anerkennung und der Aneignung des auf der demokratischen Gesellschaft basierenden Paradigmas einer geschlechterbefreiten, ökologischen und demokratischen Gesellschaft, durch die Gesellschaften wird sowohl für die demokratische und freie Zukunft im Mittleren Osten als auch in der Türkei ein wichtiger Schritt getan. Insbesondere der Einfluss auf die Türkei durch die Aneignung dieses Projekts durch das kurdische Volk in Nordkurdistan wird dort noch mehr Ergebnisse hervorbringen. So wie der Vorsitzende Apo hervorhebt, wird die Türkei ein freiheitliches und demokratisches Land werden, wenn die demokratischen Kräfte der Türkei mit der Freiheitsbewegung Kurdistans einen gemeinsamen Kampf führen und ihre Kräfte vereinen. Und Freiheit und Demokratie werden anziehend sein. Natürlich wird dies die Gesellschaften des Mittleren Ostens beeinflussen. Doch dies wird keine hegemoniale Wirkung haben. Es wird keine Türkei sein, die hinter einer Hegemonie im Mittleren Osten her rennt und auf der Suche nach einem neuen Osmanentum ist. Ganz im Gegenteil wird es mit ihrer freiheitlichen und demokratischen Haltung, in allen Ländern des Mittleren Ostens die freiheitliche und demokratische Haltung auf Grundlage der historischen Werte in Bewegung bringen. Dadurch wird jedes Land zu einer Kraft, der gesamte Mittlere Osten wird zu einer Kraft werden, es wird aufsteigen zu einem freiheitlichen und demokratischen System, basierend auf den eigenen Werten.

Wir denken, dass die Wirkung des Paradigmas von unserem Vorsitzenden Apo auf den Mittleren Osten und die Türkei so sein wird. Auf diese Weise wird die Herrschaft der kapitalistischen Moderne im Mittleren Osten gebrochen werden. Die vom Modernismus und Orientalismus gegen die Gesellschaften des Mittleren Ostens aufgezwungenen politischen, sozialen und kulturellen Projekte werden ins Leere laufen gelassen. Das aufgezwungene Gewand wird zerrissen, das Modell wird zerbrechen. Stattdessen werden die demokratischen Gesellschaftswerte des Mittleren Ostens, die Erfahrungen des jahrtausendelangen friedlichen Miteinanderlebens auf Grundlage von Demokratie und Freiheit wiederbelebt werden.

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