Nationalismus und Borniertheit überwinden

verfassung -türkeiErwartungen an eine neue Verfassung im Rahmen des Prozesses für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage

Prof. Dr. Sevtap Yokus, Verfassungsrechtlerin an der Universität Kocaeli

Die Verfassung von 1982 mit ihrem autoritären Charakter hat in der Praxis zu einer nahezu vollkommen autoritären Herrschaftsform geführt, sodass die Ausdifferenzierung der pluralistischen Gesellschaft in der Türkei auf die Spitze getrieben worden ist. Diese Verfassung hat aufgrund der in ihr verankerten Restriktionen den Geist einer freiheitlich orientierten Gesellschaftsordnung zerstört und des Weiteren eben aufgrund dieser Verbote die aktuell debattierten Konflikte, die man zu lösen versucht, zugespitzt und vertieft. Der Geist dieser Verfassung ist zusammen mit dem Regime, das rechtswidrige Praktiken angewendet und sich stets extralegale Türen offen gelassen hat, Ursache für das rechtswidrige System.

Im Kern hat die Verfassung von 1982, vorgegeben durch die Präambel, Art. 2 Ns. 3 („… laizistischer und sozialer Rechtsstaat“ ) und Art. 3 Abs. 1 („Der Staat Türkei ist ein in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes.“) den Schutz des Staates zum Ziel, sodass so gut wie alle Verbote zu diesem Zweck entwickelt wurden.

Diese Verfassung wurde einzig und allein mit der Absicht verfasst, die Ziele des Militärputsches vom 12. September 1980 zu garantieren, sodass seit ihrer Einführung ihr offen freiheitsfeindlicher Charakter diskutiert wird und im Grunde genommen eine Fortführung des Militärputsches darstellt. Sie spiegelt den Willen des im Zuge des Putsches etablierten Regimes wider. Eben dieses Regime hatte in der Vorbereitungsphase der Verfassung auch seinen Einfluss geltend gemacht. Die letzte Fassung wurde dann vom „Nationalen Sicherheitsrat“ (Milli Güvenlik Konseyi) beschlossen, womit die anschließende Volksabstimmung einem Diktat gleichkam, da eine kritische Diskussion über die Verfassungsinhalte bereits zuvor verboten worden war.

Der türkische Staat als Institution wird in der Präambel von 1982 als unantastbar erklärt: „der heilige türkische Staat“. Obwohl mit der Verfassungsänderung von 1995 dieser Teil abgewandelt wurde („der große türkische Staat“), ändert sich an ihrem eigentlichen Charakter nichts. Denn die Präambel bestimmt den Geist einer Verfassung, ganz besonders in diesem Fall, da sich eben dieser Geist in Art. 1 bis 3 widerspiegelt, die laut Art. 4 absolut unveränderlich sind, nicht einmal ein Änderungsvorschlag ist zugelassen. Das heißt, trotz der Verfassungsänderung von 1995 ist der Kern dieser Verfassung unangetastet geblieben.

Die demokratische Verfassung muss frei von ideologischen Motiven sein und die Vielfalt in politischer wie auch gesellschaftlicher Hinsicht zulassen. Die Verfassung von 1982 ist bereits in ihrer Präambel durch die Ideologie der Putschisten geprägt, sodass sich das auf diese ideologische Weltsicht beziehende System in all ihren restlichen Artikeln widerspiegelt. Entsprechend sind die Grundprinzipien vorgegeben: Kemalismus, Nationalismus und der politische Staat. Diese politische Ausrichtung bedeutet dann auf das Individuum bezogen, dass das System bestrebt ist, den genormten Bürger zu schaffen.

Die Verfassung von 1982 wurde bewusst so konstruiert, als habe der Putsch vom 12. September 1980 einen Dauerzustand herbeigeführt. Sie sollte sein Gedankengut in die Zukunft tragen und ihm zu Dauerhaftigkeit verhelfen. Dazu wurden dann auch alle Vorkehrungen getroffen, denn vor Verabschiedung der eigentlichen Verfassung wurden sogenannte Übergangsgesetze wie „Ausnahmezustands-“, „Wahl-“, „Parteien-“, „Vereins-“ und „Versammlungs- und Demonstrationsgesetz“ erlassen. Diese sind dann direkt in die neue Verfassung eingeflossen, trotz ihres angeblichen Übergangscharakters. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde die ideologische Ausrichtung der Putschisten durch eben diese Verfassung institutionalisiert und als unveränderbares bzw. unantastbares System etabliert.

Die Präambel einer Verfassung spiegelt die ideologische Ausrichtung ihrer Verfasser wider, so auch diese, da sie sie zu Beginn gleich hervorhebt: „Diese Verfassung, … wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, … verkündet hat …“, so dass hiermit der Nationalismus „Mustafa Kemals“ als Grundpfeiler der türkischen Verfassung seinen Eingang findet. Nach offizieller Auffassung bezieht er sich auf keine ethnische oder rassische Herkunft. Wenn dem so wäre, müsste es aber auch in der Definition des Staatsbürgers bzw. allgemein Bürgers festgehalten sein. Dagegen höhlt die Verfassung selbst diesen Umstand mit der Festschreibung unzähliger Straftatbestände in ihren Artikeln aus. Da wäre zum Beispiel gleich zu Beginn der fünfte Absatz mit seinen zweifellos ethnischen Bezügen: „… keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, … den historischen und ideellen Werten des Türkentums …“. Bis zur Verfassungsänderung von 2001 standen auch Art. 26 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 3 für das Verbot des Gebrauchs anderer Sprachen und besaßen somit nationalistischen Charakter. Art. 42 legt in Abs. 9 fest, dass die Bürger der Türkei ausschließlich in türkischer Sprache unterrichtet werden dürfen, und verbietet somit die Nutzung einer anderen Sprache im Bildungs- und öffentlichen Wesen. Dies wiederum ist ein weiterer klarer Beleg dafür, dass der ethnisch-türkische Bezug die Leitidee der Konstitution darstellt.

Art. 134 benennt offen seinen ethnischen Ursprung und nimmt hier direkt ethnisch-türkischen Bezug: „Zu dem Zweck, das kemalistische Denken, die Prinzipien und Reformen Atatürks, die türkische Kultur, die türkische Geschichte und die türkische Sprache auf wissenschaftlichem Wege zu erforschen, bekannt zu machen und zu verbreiten sowie Veröffentlichungen herauszugeben …“ Die Straftatbestände in der Verfassung, die Rechtsverordnungen, Gerichtsentscheidungen und die Rechtspraxis machen den ethnischen Bezug auf das „Türkentum“ mehr als nur sichtbar, sie sind allesamt Beleg dafür und für die Ablehnung anderer ethnischer Elemente. Am offensichtlichsten und direktesten bewies das Gesetz Nr. 2932, das außer dem Türkischen andere Sprachen verboten hatte. Auch wenn es modifiziert wurde, ändert das nichts an der Tatsache, dass die türkische Verfassung für ethnisch-türkische Bürger gedacht war und ist.

Als ein Ergebnis des Nationalismus wurde auch das Prinzip des Staates Türkei als „in seinem Staatsgebiet und Staatsvolk unteilbares Ganzes“ definiert und hat damit die Rolle übernommen, alle Freiheiten beschneiden bzw. aushebeln zu können. In diesem Artikel der Verfassung wird deutlich, dass das ihr zugrunde liegende Verständnis die gesellschaftliche Vielfalt ignoriert und alle Elemente der „türkischen Norm“ unterwirft. Ethnisch begründete Definitionen dieser Art finden sich auch im achten Absatz: „… die türkischen Staatsbürger insgesamt …“ Diese Auffassung zeigt sich vor allem auch bei der Schließung politischer Parteien.

Das Laizismusprinzip sieht in dieser Verfassung eine Synthese aus „Türkentum“ und Islam vor, sodass einige Artikel eine Synthese aus eben der offiziellen Ideologie und dem Islam zum Ziel haben. Das kann auch als eine offizielle Regelung und Fortführung der Religion verstanden werden. Zu diesem Zwecke bestimmt die Verfassung gleich zu Beginn in Art. 24 Abs. 4 den Religionsunterricht (islamisch) zur Pflicht in Grund- und Mittelschule. Ein weiterer Artikel zur oben beschriebenen Synthese ist der 136., demzufolge die Religionsbehörde in die allgemeine Verwaltung zu integrieren sei, d. h., sie ist staatlich organisiert und abhängig. Außerdem heißt es darin, die Behörde habe im Sinne der nationalen Solidarität und Integration zu handeln, sodass hier die Absicht einer Synthese aus „Türkentum“ und Islam offensichtlich wird.

Um die offizielle Ideologie [dieser Synthese] zu etablieren und einen genormten Bürger und damit eine ebensolche Gesellschaft zu schaffen, hat man mit dieser Verfassung alle Freiheiten aufgehoben und den Gedanken in die Artikel einfließen lassen, dass der Staat vor dem Individuum beschützt werden müsse. Aus dieser Perspektive ergibt sich das für Rechtsstaaten grundlegende Kernproblem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der persönlichen Freiheiten. Das in vielen Richtungen mehrfach durch Verbote bzw. Straftatbestände eingrenzende Regime hat die Inanspruchnahme von Rechten und Freiheiten unmöglich gemacht.

Obwohl Freiheitsrechte Eingang gefunden haben in die Verfassung von 1982, werden sie, wie auch der Europäische Gerichtshof (EUGH) per Urteil festgestellt hat, in der Praxis durch andere Verfassungsartikel derart beschnitten, dass sie de facto gar nicht existieren. So ist auch nicht verwunderlich, dass die in letzter Zeit unternommenen minimalen Verbesserungen auf dem Gebiet der Freiheitsrechte eher auf internationalen Druck zurückzuführen sind.

In rechtsstaatlicher Hinsicht hat es keine grundlegende Besserung gegeben, obwohl die Verfassung umfangreicheren Änderungen unterzogen wurde, die zur Umsetzung der Gesetze im Zuge des EU-Beitrittsprozesses verabschiedet worden waren. Am wichtigsten dabei ist, dass dieser Ansatz keine Lösung für die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Türkei hat herbeiführen können und sich somit auch kein gesellschaftlicher Neuanfang hat einleiten lassen. Obwohl die Verfassungsänderungen die Freiheitsrechte stärken und so zu einer Demokratisierung führen sollten, haben sie die kriegerischen Auseinandersetzungen nicht beenden und auch nicht verhindern können, dass sich der Konflikt abrupt zuspitzte. Im Wesentlichen lag der ausbleibende Erfolg daran, dass die rechtlichen „Verbesserungen“ auf Druck der Europäischen Union geschehen waren. Das war vor allem bei den Anpassungsgesetzen im Zuge des EU-Beitrittsprozesses zu beobachten. Es ist durchaus angebracht zu behaupten, dass ein Schritt vor gemacht wurde und zwei wieder zurück. Daher haben sich die meisten Änderungen praktisch nicht entfalten können, weil allzu oft auch ihre Umsetzung unterblieb. Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zum Beitrittsprozess hat ebenfalls ganz klar festgestellt, dass sich keine grundlegende Verbesserung auf dem Gebiet der Demokratisierung und der Menschenrechte ergeben habe. Wir müssen leider festhalten, dass viele der Bestimmungen, die antidemokratische Prinzipien enthalten, bis heute ihre Gültigkeit haben.

Die festgefahrene Situation im EU-Beitrittsprozess hat aufgrund der Taktik der türkischen Regierung, „einen Schritt vor und zwei wieder zurück“ zu machen, einen antidemokratischen Charakter angenommen, da sie nun eben selbst die Demokratisierung hemmt. Daher hat sich der Beitrittsprozess, der eine Demokratisierung nach sich ziehen sollte, auch nicht positiv auf den kriegerischen Konflikt in der kurdischen Frage auswirken können. Die Verfassung von 1982 ist auch in ihrer jüngsten Ausprägung, die an den Bedürfnissen und Ansprüchen der Zeit scheitert, derart primitiv, dass sie einer Demokratisierung ebenfalls im Wege steht. Die Verbotstradition der Verfassung hat bei den Individuen zu schablonenhaftem Verständnis und damit zu Stereotypen geführt.

Die Gesellschaft ist in der Türkei aufgrund der oft auch mit Gewalt ausgetragenen kurdischen Frage zersplittert und nach Ethnie oder Religion in viele stereotype Gruppen differenziert. Daher können wir sagen, dass wir uns dort an sich schon extrem polarisierten und konträren Forderungen gegenübersehen. Wir stehen vor der besonderen Herausforderung, einer Gesellschaft mit äußerst konträren Ansichten eine gemeinsame Verfassung geben zu müssen. Also müssen zu Beginn die antidemokratischen Bestimmungen aufgehoben werden, denn sie sind der Grund für die Konfliktsituation und behindern dadurch eine Demokratisierung der Türkei. Auf juristischer Ebene lässt sich trotz der Vielschichtigkeit des Problems ein Großteil des Konfliktpotenzials entschärfen. Daher führt kein Weg an einer demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassung vorbei, mit deren Hilfe die kriegerischen Auseinandersetzungen langfristig beendet werden können, die als Grundlage für einen solchen Prozess durch politische Entscheidungen ihr Ende finden müssen.

In der heutigen Zeit orientieren sich demokratische Verfassungen am gesellschaftlichen Konsens und den Menschenrechten. Die Gleichgewichte haben sich verschoben und die Menschheit hat eine andere Auffassung von Freiheit als früher. Daher muss eine demokratische Verfassung nicht nur mit den kriegerischen Auseinandersetzungen Schluss machen, sondern auch all das im Namen der Verfassung geschehene Unrecht wiedergutmachen können. Das heißt, eine neue Verfassung muss das Verbotsverständnis, den Verleumdungs- und Zersplitterungscharakter überwinden und mit Freiheit und Toleranz füllen, sodass sie die Gesellschaft zusammenführt, statt zu spalten. Daher gilt es, vorab zu klären, was für eine Verfassung wir überhaupt brauchen. Für den gesellschaftlichen Frieden ist es nötig, eine Verfassung zu verabschieden, die der gesellschaftlichen und politischen Vielschichtigkeit gerecht wird.

Alle bis dato in Angriff genommenen Verfassungsprojekte waren in ihrem Kern freiheitsfeindlich, da sie stets lediglich den Versuch unternommen haben, die Verfassung von 1982 durch einige demokratische Umformulierungen zu modifizieren. Es ist von außerordentlicher Bedeutung, in den Verfassungsentwürfen hervorzuheben, was als Neues thematisiert werden soll. Daher ist es unerlässlich, sich im Rahmen des aktuellen Vorhabens dem wirklich Neuen zu verschreiben.

Wir stoßen im Zuge der Arbeiten für eine neue Verfassung auf das grundlegende Problem, dass sich die Parteien in Bezug auf Neuerungen nicht leicht oder schnell werden einigen können, da hierbei Themen wie Identität, Kultur, Laizismus und Dezentralismus als die Frage eines wahrhaft demokratischen Systems angegangen werden müssen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten fällt es auch schwer, eine Leitlinie für die Vorgehensweise zu bestimmen.

Eine neue Verfassung ist immer dann aufgesetzt worden, wenn es nötig war, sich den politischen Entwicklungen bzw. Realitäten der Zeit anzupassen, sodass jede neue Verfassung eben die aktuelle politische Realität ihrer Zeit widerspiegelt. Die politische Agenda der Türkei wird vom Streben nach einem gesellschaftlichen Frieden bestimmt, infolgedessen kann zu diesem Zweck die Lage in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht als vorteilhaft für rechtliche Korrekturen interpretiert werden. Außer im politisch-gesellschaftlichen Bereich sind die nötigen Veränderungen auch auf juristischem Gebiet unausweichlich. Nähern wir uns dem Thema auf dieser Ebene, können wir die folgenden Punkte anführen:

Eine Verfassung, die sich den Freiheits- und Menschenrechten widmet, um so alle Teile der Gesellschaft zu berücksichtigen und im Gegensatz zur aktuell gültigen Konstitution zu einem großen Ganzen zusammenzuführen, bedarf umfangreicherer rechtlicher Reformen wie z. B. des Rechts auf muttersprachlichen Unterricht. Dafür gilt es die rechtlichen Grundlagen zu legen und umzusetzen und keine unzeitgemäße Diskussion über die Legitimität einer solchen Forderung zu führen.

Der ethnische Bezug bei der Staatsbürgerschaft muss korrigiert werden.

Um die antidemokratischen zentralistischen Strukturen zu überwinden, gilt es, dezentrale lokale oder regionale Verwaltungsstrukturen aufzubauen und so zu einem im Kern äußerst demokratischen System überzugehen. In diesem Zusammenhang muss die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Organisierung auf allen Ebenen geschaffen werden, sodass alle Rechtsvorschriften und eben auch die Verfassung neu aufgesetzt werden müssen.

Kann eine neue Verfassung, deren Inhalt wir grob angerissen haben, die kriegerischen Auseinandersetzungen beenden? Auf diese Frage gibt es bloß eine Antwort: nur dann, wenn es ihr gelingt, alle gesellschaftlichen Gruppen in den Prozess einzubinden. Unter den aktuellen Voraussetzungen erscheint diese Aufgabe äußerst schwierig. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung ist auch die Regie dieses Prozesses von großer Bedeutung. Für die Verabschiedung einer neuen Verfassung braucht es eine Einigung auf höherer Ebene und die demokratische Teilhabe der Gesellschaft am Prozess.

Die sogenannte „Säuberung“ auf dem Weg zu einer neuen Verfassung spielt dabei eine gewichtige Rolle, sodass hier die Hindernisse für die Ausübung der Freiheits- und Menschenrechte beseitigt werden müssen. In diesem Zusammenhang muss das Meinungsfreiheits- und Versammlungsrecht neu gestaltet werden und die rechtlichen Hindernisse für die Meinungsfreiheit müssen ausgeräumt werden, um so eine freie Diskussion im Verfassungsbildungsprozess ermöglichen zu können. Auch das Parteien- und Wahlgesetz gilt es auf das Dringlichste zu reformieren. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass das geltende Parteiengesetz der aktuellen Verfassung widerspricht, da sich das Parlament aufgrund strafrechtlicher Bestimmungen nicht vollständig versammeln kann. Deren Entfernen ist recht einfach, vor allem für eine Regierung, die gewillt ist, die Verfassung komplett neu zu gestalten. Das könnte sogar zu vertrauensbildenden Maßnahmen im Rahmen der Bemühungen um die Lösung der kurdischen Frage führen.

Bevor wir Leitlinien für die neue Verfassung aufstellen, gilt es, sich die Erfahrungen in anderen Ländern anzuschauen und von ihnen eben auch zu profitieren. Selbstverständlich handelt es sich bei den einzelnen Fällen für sich gesehen immer um individuelle, sodass vor allem darauf geachtet werden sollte, welche Fehler in anderen Ländern begangen wurden, um wenigstens sie zu vermeiden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass eine neue demokratische Verfassung den Weg zu gesellschaftlichem Frieden beschreibt, sodass im Zuge dieses Prozesses, bei gegenseitigem Vertrauen und ausbleibenden kriegerischen Auseinandersetzungen, der Diskurs in einer friedlichen Atmosphäre verlaufen kann.

Vorhandene Beispiele für die Verabschiedung einer neuen Verfassung in Ländern, in denen wie auch im Falle der Türkei kriegerische Auseinandersetzungen geherrscht hatten, sind genauer zu betrachten. Dies kann für die Türkei nur von Vorteil sein. Da sich die Erfahrungen aufgrund der jeweils unterschiedlich gearteten Konflikte und historischen, kulturellen und politischen Aspekte unterscheiden, gilt es, das Handeln in der Vorgehensweise und nicht bei der Lösungsformel möglichst anzugleichen. Bei der Vorgehensweise können wissenschaftlich fundierte Techniken hilfreich sein und den Weg zu einer Lösung vereinfachen.

Die Lösungsprozesse in Großbritannien und Südafrika ähneln in einigen Aspekten wie z. B. den Bedürfnissen dem Fall der Türkei am ehesten. Diese Tatsache kann, je nach Perspektive, eben auch genau andersherum dargestellt und die geringste Übereinstimmung suggeriert werden. Das Wichtigste ist hier, sich Gedanken zu machen über die Methoden zur Lösung des kriegerischen Konflikts, um so unter Berücksichtigung der historischen, kulturellen und politischen Bedingungen in der Türkei die bestmögliche Vorgehensweise festzulegen. Bereits in der ersten Etappe ist durch eine geduldige und systematische Herangehensweise das Vertrauen in ein Ende des Konflikts zu wecken. Allein das kann einen lebenswichtigen Beitrag zum Prozess leisten.

In Südafrika stand ganz klar der verfassungsrechtliche Aspekt im Vordergrund des Lösungsprozesses, sodass ihm eine enorme Bedeutung zukommt und der hohe Anspruch an die demokratische Leitlinie im Verfahrenskodex [in der Türkei] nachzuahmen ist. In Südafrika wurde der Prozess im Hinblick auf eine Lösung zugleich auch ein Weg zu Demokratisierung und Frieden, also bietet dessen erfolgreicher Abschluss auch weltweit ein nachahmenswertes Beispiel.

Der Prozess in Südafrika wurde durch diverse Veränderungen, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Gründung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission mit weitreichenden Befugnissen erfolgreich abgeschlossen. Die Ausarbeitung der Verfassung wurde in Südafrika durch die Teilhabe der Gesellschaft und den klaren Bezug auf Demokratie und Menschenrechte zu einem umfassenden Demokratisierungsprozess ausgebaut.

Die Konfliktsituation in der Türkei und deren antidemokratischer Charakter erlauben nicht, das Problem lediglich mit einer Verfassungsänderung zu bewältigen. Für einen erfolgreichen Abschluss des Prozesses ist ein gesellschaftlicher und politischer Umbruch unabdingbar. Damit könnte eine Demokratisierung der Türkei einhergehen, sodass der Frieden eine enorme Bedeutung als Demokratisierungsgrundlage hat. Die Verfassung muss von ihren Unterdrückungsmomenten bereinigt werden, da die Gesellschaft sonst zersplittert. Sonst wäre es eine missglückte Verfassung. Die Verfassung der Türkei ist Ursache für die gesellschaftliche Zersplitterung, da sie mit ihrem Charakter im Widerspruch zur multikulturellen Gesellschaft von heute steht und somit auch ein Hindernis für die Demokratisierung darstellt. Es ist eine unverzichtbare Eigenschaft einer demokratischen Verfassung, die Heterogenität einer Gesellschaft zu achten und zu schützen.

Dieser Aspekt gilt gleichermaßen auch für die politische Partizipation und Repräsentanz durch politische Parteien. Hierbei sind die verfassungsrechtlichen und systemeigenen Hürden für eine demokratische Repräsentation zu beseitigen. Die Zentralmacht ist zur politischen Repräsentation weitestgehend auf die lokalen oder regionalen Verwaltungsstrukturen umzuverteilen. Dieser Aspekt kann einen zentralen Beitrag zur friedlichen Lösung leisten. Eine Stärkung der lokalen Repräsentanz bedeutet auch zugleich eine Bündelung in regionalen Strukturen zwecks Koordination. In diesem Zusammenhang müssen existierende Beispiele und Vorschläge für lokale Selbstverwaltung analysiert und ihre Auswirkungen auf die aktuellen Verwaltungsstrukturen genauer bestimmt werden.

Trotz des gemeinsamen Wunsches nach einer neuen Verfassung stagniert der Prozess aufgrund unterschiedlicher Auffassungen von Arbeitsmethoden und -techniken. Der Grund für die Stagnation in der parlamentarischen „Kommission für einen Verfassungskonsens“ ist die geringe Bereitschaft zu einem solchen Konsens.

Die Prinzipien für eine demokratische Verfassung liegen offen und sind im Detail auch klar. Zahlreiche Beispiele aus anderen Ländern haben gezeigt, zu welchen erstrebenswerten Ergebnissen die Anwendung eben dieser Prinzipien führen kann. Es erscheint außerdem notwendig, die Gründe für das Scheitern einer Konsensfindung bei der Suche nach einer neuen Verfassung einer unabhängigen Untersuchung zu unterziehen. Wenn Sie fragen, warum, dann erscheint nur eine Antwort sinnvoll auf der Grundlage einer interdisziplinären Analyse mit politischen, soziologischen und psychologischen Parametern. Daneben kann auf den Militärputsch vom 12. September 1980 verwiesen werden, dessen Geist durch die aktuell noch in Kraft befindliche Verfassung, durch rechtliche Bestimmungen und ihre Umsetzung bis heute bewahrt worden ist, sodass aufgrund dieser Tatsache stereotype Charaktere mit der Mentalität von früher geschaffen worden sind. Der von der antidemokratischen Verfassung vorgegebene Rahmen und die damit einhergehende Borniertheit sind das größte Problem vor der Einführung einer demokratischen Verfassung.

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Vorschlag eines Verfassungsentwurfs für die Republik Türkei, dem Parlamentsvorsitzenden von der BDP vorgelegt

PRÄAMBEL

Wir, das Volk der Türkei, tragen in uns den Glauben daran, dass alle Individuen und Völker universelle Menschenrechte und Freiheiten haben. Wir erkennen an, dass jeder, unabhängig von ethnischer Herkunft, Sprache, Konfession, Geschlecht, sexueller Orientierung usw. ohne jeglichen Unterschied gleichberechtigt ist. Wir erkennen unsere Unterschiede als Segmente unserer gesellschaftlichen Gesamtheit. Die Aufsicht über das Recht bei allen Handlungen und über den Schutz der Rechte und Freiheiten der Menschen in jeglicher Lage betrachten wir als Grundaufgabe des Staates. Als ewig das Friedensideal hochhaltende Individuen und Gemeinschaften lehnen wir, außer im Falle der Selbstverteidigung, Krieg und den Gebrauch von Gewalt gegen die Freiheiten anderer Völker ab. Unsere Vision ist der Aufbau einer demokratischen Ordnung, die die Würde des Menschen, die Unabhängigkeit der Justiz, eine freiheitliche, gleichberechtigte, gemeinsam die Natur schützende und mit ihr in Einklang stehende und glückliche Gesellschaft zum Ziel hat. Mit dieser Verfassung bekunden und bekräftigen wir unsere Verbundenheit mit diesen Werten und unseren Willen zum gemeinsamen Leben.

DER ERSTE TEIL BESTIMMT DIE GRUNDLAGEN DER ORDNUNG DES DEMOKRATISCHEN STAATES.
BESCHAFFENHEIT DES STAATES DER REPUBLIK TÜRKEI

Artikel 1
Die Republik Türkei ist ein auf Menschenrechten basierender, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.
Der Staat erkennt den Pluralismus von Ideologien, Religionen und Lebensweisen an und ist diesem Pluralismus der Gesellschaft gegenüber neutral. Keine Ideologie, Religion und Lebensweise darf vom Staat bevorzugt oder bevormundet werden.
Die Administration des Staates wird entsprechend den Grundlagen der dezentralen Ordnung organisiert. Das Staatsterritorium ist unantastbar.

SYMBOLE DES STAATES

Artikel 2
Die Fahne des Staates ist rot mit weißem Halbmond und Stern. Die Nationalhymne ist der „Istiklal Marsi“ [Unabhängigkeitshymne]. Die Hauptstadt ist Ankara.

OFFIZIELLE STAATSSPRACHE

Artikel 3
Die offizielle Staatssprache ist Türkisch. Alle Staatsbürger haben die Pflicht und das Recht, die offizielle Sprache zu lernen. Andere gesprochene Muttersprachen der Bevölkerung der Türkei können nach Entscheidung der regionalen Parlamente als offizielle zweite Sprache gesprochen werden.
Jeder hat das Recht, privat und an öffentlichen Stätten neben der offiziellen Sprache seine eigene Muttersprache zu sprechen.
Der Staat ist dazu verpflichtet, alle Sprachen, die das gemeinsame kulturelle Erbe bilden, zu respektieren, zu schützen und das Sprechen und die Entwicklung der Sprachen zu gewährleisten.
HAUPTZIELE UND AUFGABEN DES STAATES

Artikel 4
Hauptziele und Aufgaben des Staates sind der Schutz der Würde des Menschen, die Beseitigung aller Hürden, die der Ausübung der Rechte und Freiheiten der Menschen im Wege stehen, die Schaffung notwendiger Voraussetzungen, um den Menschen die Bildung materieller und immaterieller Besitztümer zu ermöglichen.
Der Staat ist dazu verpflichtet, den Frieden, die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung zu gewährleisten, den durch politische und kulturelle Unterschiede bedingten pluralistischen Aufbau [der Gesellschaft] anzuerkennen und zu unterstützen.

Kurdistan Report Nr. 169 September/Oktober 2013

 

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