Die Revolution in Westkurdistan – Teil 1

von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Mit der folgenden Serie sollen Einblicke in die gegenwärtigen historischen Entwicklungen in Westkurdistan gegeben werden. Wie ist es zu dem revolutionären Prozess in Westkurdistan gekommen? Wie verläuft die Revolution in Westkurdistan? Wie wirkt sich die Revolution auf das gesellschaftliche Leben der Kurdinnen und Kurden aus? Und was sind die Perspektiven dieser Revolution? Auf diese und weitere Fragen werden wir versuchen mit dieser Serie Antworten zu geben. Die wiedergegeben Informationen basieren auf der Berichterstattung der Journalistin Hazal Peker, die sich für die Frauennachrichtenagentur JINHA in Westkurdistan befindet. Die vollständige Serie wird in der türkischsprachigen Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlicht.

In Syrien tobt gegenwärtig ein blutiger Bürgerkrieg. Jeden Tag erscheinen Meldungen von bewaffneten Auseinandersetzungen und Massakern in den Medien. Doch in Syrien findet gegenwärtig auch eine Revolution statt. Es ist die Revolution von Westkurdistan. Bevor wir uns näher anschauen, um was für eine Revolution es sich genau handelt, wollen wir noch ein paar Hintergrundinfos zu den Kurdinnen und Kurden aus Syrien und Westkurdistan vorweg geben.

Situation der KurdInnen vor der Revolution

In Syrien und Westkurdistan leben rund 3 Mio. KurdInnen. Der größte Teil von ihnen lebt in den westkurdischen Städten wie Qamislo, Kobanî, Efrîn, Amudê oder Dêrik. Aber ein nicht unbedeutender Teil der Kurdinnen und Kurden musste, zumeist aus ökonomischen oder politischen Gründen, ihre Heimat verlassen und in syrische Städte wie Aleppo (Heleb) oder Damaskus ziehen. Heute gibt es in Aleppo, wo rund 600 000 KurdInnen leben, oder in Damaskus, wo es auch annähernd 500 000 KurdInnen sind, ganze kurdische Stadtbezirke. Die politische Situation des kurdischen Volkes in Syrien unterschied sich nicht bedeutsam von den anderen Teilen Kurdistan. Auch hier wurde die Sprache des kurdischen Volkes nicht anerkannt, auch hier führten die Machthaber aus Damaskus eine rigorose Assimilations- und Verleugnungspolitik gegenüber der Bevölkerung Westkurdistans. In Syrien gab es vor der Revolution ganze 16 kurdische Parteien, deren politischer Spielraum war jedoch stets äußerst begrenzt. Aufgrund der systematischen Repressionen wurden viele politische AktivistInnen festgenommen und verschwanden zum Teil hinter den Mauern der Gefängnisse des Baath-Regimes. Viele zogen es aufgrund der Repressionen vor, ins Ausland zu flüchten und verloren dadurch ihre Verbindung zur Basis in Westkurdistan.

Die Revolution beginnt …

In Westkurdistan ist die Revolution nicht von heute auf morgen vom Himmel gefallen. Ein ganzes Jahr haben sich die Kurdinnen und Kurden auf die passende Situation vorbereitet. Die erste Stadt, in der sich die Bevölkerung angefangen hat zu organisieren, war Dêrik. Von Dêrik aus verbreitete sich die Organisierung der Bevölkerung über ganz Westkurdistan und weit darüber hinaus. Denn auch in den kurdischen Stadtteilen im Rest von Syrien erreichte die Bevölkerung Westkurdistan einen hohen Organisierungsgrad. Organisierung der Bevölkerung – das ist die größte Waffe der KurdInnen gegenwärtig in Syrien. Nur dadurch kann die eigene Sicherheit inmitten eines Bürgerkrieges gewährleistet werden. So gelingt es der kurdischen Bevölkerung gegenwärtig in der umkämpften Stadt Aleppo die Gefechte aus ihren Stadtteilen herauszuhalten. Die Organisierung der Bevölkerung ist aber zugleich auch ein Garant für die Errungenschaften der KurdInnen in dieser revolutionären Phase.

Was die Bevölkerung erreichen kann, wenn sie organisiert auftritt und handelt, wurde bereits vor der Revolution in der westkurdischen Stadt Kobanî ersichtlich. Dort hatte das Assad-Regime vor langer Zeit schon die Ländereien der Bevölkerung beschlagnahmt. Doch vor drei Monaten entschied sich die Bevölkerung in einer organisierten Aktion die Länder wieder unter ihre eigene Kontrolle zu bringen. Und sie setzten ihre kollektive Entscheidung kurzerhand um und beschlagnahmten sozusagen ihr eigenes Land zurück. Zum Schutz des Landes wurden zudem bewaffnete Einheiten aus der Mitte der Bevölkerung organisiert. Diese Selbstverteidigungseinheiten, die sich später während der Revolution in allen kurdischen Orten unter dem Namen YPG organisieren sollten, beschützten die Ländereien erfolgreich, und die Regierung Assads beschloss lieber freiwillig die Länder aufzugeben, anstatt eine Eskalation der Situation zu riskieren. Diese Aktion in Kobanî kann gerne als die gelungene Generalprobe vor der Revolution verstanden werden.

Ausgangspunkt der Revolution waren die Moscheen

„Zu Zeiten des Propheten Mohameds waren die Moscheen immer auch Zentren, in denen soziale Probleme diskutiert und gelöst worden sind. Nach seinem Tod verloren die Moscheen diese Funktion. Wir wollen die ursprüngliche Funktion der Moscheen wiederbeleben.“ Das sind die Worte eines religiösen Geistlichen aus Kobanî. Und auch in seiner Moschee beschloss das Volk, dass in der Nacht vom 18. auf dem 19. Juli die Revolution losgehen soll. Um ein Uhr nachts Ortszeit nahmen die Volksverteidigungskräfte der YPG die Straßen, die in die Stadt hinein- und hinausführen unter ihre Kontrolle. Die Bevölkerung setzte zeitgleich die Belagerung und Einnahme aller staatlichen Institutionen der Stadt ein. Schließlich versammelte sich die Bevölkerung vor dem Militärstützpunkt der Assad-Armee in Kobanî. Eine Delegation aus der Bevölkerung wurde hineingeschickt, um mit dem Militär zu verhandeln. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, das war das Angebot der kurdischen Seite. Und angesichts der Ausweglosigkeit gegenüber den Volksmassen willigten die Soldaten ein. Später kehrte ein Teil der ehemaligen Soldaten zu ihren Familien in die arabischen Städte zurück, während ein anderer Teil es aufgrund der Bedrohung durch die Freie Syrische Armee vorzog, in Kobanî zu bleiben.

Kobanî wird im kollektiven Gedächtnis der kurdischen Bevölkerung stets seinen Platz als Ausgangsort der westkurdischen Revolution behalten. Von Kobanî aus weitete sich die Revolution in den darauffolgenden Tagen auf weitere Städte Westkurdistans aus. Wie die Revolution weitergeht, denn sie ist noch im vollen Gange, und wie sie sich auf das Leben der Bevölkerung auswirkt, soll in den kommenden Teilen dieser Serie beschrieben werden.

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