Die Roadmap für Tall Abyad

fehim-tastekinFehim Taştekin , Radikal, 17.06.2015

Alle, die sich fragen, was nun in Tall Abyad geschehen wird, mögen einen Blick auf den Kanton Cizîrê werfen. Vor allem diejenigen, die die YPG der Verübung ethnischer Säuberungen beschuldigen, sollten ihren Blick wirklich nach Cizîrê werfen.

Hatte die türkische Regierung keinerlei Problem damit, dass die Türen des Islamischen Staates (IS) sich an den Grenztoren der Türkei der Welt eröffneten, trauert sie nun darum, dass Tall Abyad von dieser grausamen Organisation befreit wurde. Von der ethnischen Säuberung von Arabern und Turkmenen durch Unterstützung der US-Luftangriffe, über die Gründung eines kurdischen Staates und der Errichtung eines Energiekorridors hin zum Mittelmeer, bis hin zu einer vermeintlichen Spaltung Syriens und der Türkei ist keine “strategische Analyse” der neuen Lagesituation unerwähnt geblieben. Interessant ist, dass diese interessanten Analysen immer zum Ausdruck kommen, wenn das Thema die Kurden sind. Als der IS die Region kontrollierte und  selbst von der Türkei aufgebaute Gruppen, 2014 aus Tall Abyad vertrieb, haben dieselben Analysten keinen Mucks von sich gegeben. Nun rufen sie dazu auf, die Region von der YPG zu befreien.
Unzählige Male haben wir es bereits zu Wort gebracht. Aber wir können es ein weiteres Mal wiederholen: Die Verteidigungseinheiten Rojavas, die YPG, hat Tall Abyad nicht alleine befreit, sie hat gemeinsam mit ihren arabischen Verbündeten, dem Burkān al-Furāt Bündnis und Gruppen wie Liva el Tahrir und Suvar el Rakka den IS aus der Stadt vertrieben. Die Verbündeten der YPG sind Teil der Freien Syrischen Armee (FSA).

Natürlich müssen sich nun einige, nach der Vertreibung des IS aus Tall Abyad, Sorgen machen. Aber das sind nicht die arabischen und turkmenischen Zivilisten, die ihre Häuser mit Ausbruch der Kämpfe verlassen haben, sondern diejenigen, die auf Seiten des IS Blut vergossen haben. Und diese Leute werden vor Ort von ihren Nachbarn und Bekannten bestens gekannt.

Als ich den PYD Co-Vorsitzenden Salih Muslim nach der Roadmap für Tall Abyad gefragt habe, brachte er zunächst, wie so oft, zum Ausdruck, dass man mit der Türkei kein angespanntes Verhältnis haben wolle. Trotz aller Vorwürfe aus der Türkei wiederholte er die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Die Vorwürfe der ethnischen Säuberung wies er zurück.

“Niemand kann und darf die Rückkehr der Menschen in ihre Häuser und Wohnungen verhindern. Diese Vorwürfe sind haltlos. Alle Menschen werden in ihr zu Hause wieder zurückkehren. Keiner braucht irgendwelche Befürchtungen zu hegen, bis auf diejenigen, welche auf Seiten des IS gekämpft haben. Hier kennt jeder jeden. Jeder weiß auch, wer welche Verbrechen begangen hat. Diejenigen, die auf Seiten des IS das Blut anderer vergossen haben, werden der Justiz übergeben. Alle anderen können beruhig bleiben. Die Türkei kann auch beruhigt sein. Auf beiden Seiten der Grenzen sind die Menschen unsere gemeinsame Bevölkerung. Wir sollten wir gegen unsere eigene Bevölkerung Feindschaft hegen? Wir haben es oftmals zum Ausdruck gebracht. Wenn die Türkei sich sicher fühlt, tun wir das auch”, so Muslim.

Das sind die Worte eine Vaters, dessen Sohn 2013 in Tall Abyad im Kampf gegen die Organisationen, die von der Türkei unterstützt werden, sein Leben gelassen hat.

Zurück zu den Vorwürfen der ethnischen Säuberung: Die YPG hat in keinem der Gebiete, die sie seit Juli 2012 kontrolliert, irgendeine Volksgruppe ihrer Heimat verwiesen. Weshalb sollte sie es jetzt tun? Selbst in Serê Kaniyê (Ras el Ayn), wo das Syrische Regime 1963 im Rahmen der Politik des Arabischen Gürtels, die kurdische Bevölkerung mit einer arabischen Population ersetzt hatte, wurde kein Araber vertrieben.

Weshalb also diese Vorwürfe? Woher kommt die Aufruhe? Für einige Herrschaften im türkischen Staat ist es keine einfach zu verdauende Entwicklung, wenn diejenigen politischen Kräfte in Syrien, die den Ideen Öcalans folgen, selbstverwaltete Strukturen aufbauen und durch ihren erfolgreichen Kampf gegen den IS Anerkennung in der gesamten Welt ernten. Aus dieser staatlichen Sicht betrachtet, kann man vielleicht die Unruhe in Ankara ein wenig nachvollziehen. Aber darauf aufbauend die YPG mit dem IS gleichzusetzen, sogar Behauptungen aufzustellen wie, “zu Zeiten des IS mussten diese Menschen nicht ihre Häuser verlassen”, und sich so klar auf der Seite des Islamischen Staates zu positionieren, ist doch weitaus schwerer nachzuvollziehen. Und dabei ist es die von Ankara als “Terrororganisation” lancierte YPG, dank der die Türkei keine hunderte Kilometer lange gemeinsame Grenze mehr mit dem IS hat. Es darf nicht vergessen werden, dass die in das Dunstfeld der Al Kaida gehörenden Gruppen wie Al Nusra, Ahrar al Sham, Tevhid und Furkan Brigaden unter der Orchesterführung der Türkei 2012 die Stadt eingenommen hatten. Und der IS ist schließlich auch nicht vom Himmel auf Tall Abyad gefallen, sondern aus der Mitte dieser Organisationen entstanden.

Alle fragen sich nun, was wird von nun an geschehen. Die Antwort darauf lässt sich in den drei Kantonen Rojavas wiederfinden. Vielleicht passt der Vergleich mit dem Kanton Cizîrê am besten, weil die anderen beiden Kanton Afrin und Kobanê vor allem kurdische bevölkert sind. In Cizîrê hingegen leben Araber, Kurden, Suryoye, Chaldäer, Armenier und Tschetschenen; deswegen passt der Vergleich zu dem ebenfalls multiethnischen Tall Abyad besser.

Die Roadmap von Salih Muslim für Tall Abyad lautet wie folgt:

  • Zunächst wird das Stadtzentrum und die Dörfer von den Sprengfallen und Minen des IS gesäubert. Parallel dazu werden in den Außenbezirken der Stadt Verteidigungslinien für den Fall möglicher Gegenangriffe auf Tall Abyad gestellt.
  • Wenn die Sicherheit in der Stadt hergestellt ist, wird die Rückkehr der Flüchtlinge aus Tall Abyad organisiert.
  • Nach der Rückkehr der Menschen wird eine zivile Verwaltung der Stadt bestehend aus Vertretern aller in Tall Abyad lebende Volksgruppen aufgestellt.
  • Die YPG und die anderen bewaffneten Gruppen werden anschließend die Sicherheit der Stadt den unter der Kontrolle der zivilen Verwaltung stehenden Asayish-Einheiten (Sicherheitskräften) übergeben und sich in die Außengrenzen der Region zurückziehen.

Für den gemeinsamen Grenzübergang Akçakale schlägt Muslim eine Zusammenarbeit mit der Türkei vor. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Türkei im Falle von Akçakale eine ähnliche Grenzpolitik fährt wie zu den anderen Grenzübergängen zu Rojava. Dort kommt mit tausendundeiner Bitte humanitäre Hilfe durch, alle anderen Durchgänge werden aber verwehrt. Der Vorschlag Muslims lautet hingegen wie folgt: „Wir können mit der Freien Syrischen Armee gemeinsam den Grenzposten kontrollieren. Wir wünschen uns, dass die Türkei bei diesem Thema beruhigt ist und fordern deshalb nicht, dass die YPG alleine die Grenze kontrolliert. Die Grenzkontrolle kann gemeinsam mit dem Burkān al-Furāt Bündnis und den Gruppen Liva el Tahrir und Suvar el Rakka laufen.“

Auf die Frage, ob mit der Befreiung Tall Abyads ein neuer Kanton im Entstehen ist, habe ich eine Antwort von Idris Nassan, dem Sprecher für die Außenbeziehungen im Kanton Kobanê, erhalten: „Unsere Priorität ist zunächst einmal, die Sicherheit in Tall Abyad zu gewährleisten. Die Gefahrensituation ist noch nicht aus der Welt geschafft. Danach wir die Bevölkerung von Tall Abyad ihre Entscheidung selbst wählen. Der zivile Verwaltungsrat wird aus Arabern, Kurden, Turkmenen und weiteren Gruppen bestehen. Diese werden über die Zukunft der Stadt entscheiden und nicht die YPG.“

Probleme könnte es allerdings bei der Rückkehr der Zivilisten geben. Denn der syrische Journalist Barzan Iso, der tagelang mit der YPG die Dörfer im Umland von Tall Abyad besichtigt hat, berichtete mir folgendes: „In den Dörfer leben derzeit nur noch vereinzelt Menschen. Die meisten von ihnen sind Frauen, alte Menschen und Kinder. Wenn sie die YPG Einheiten sehen, kommen sie vor ihre Türen und winken. Manche fragen auch, ob die Verteidigungseinheiten etwas bräuchten. Es kann natürlich auch sein, dass viele der Menschen Angst haben. Sie kennen die YPG nicht und wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen wird. Viele Araber, die geflohen sind, werden wohl erst die Haltung der YPG von draußen abwarten, bevor sie entscheiden, ob sie zurückkehren oder nicht. Einige Familien haben vielleicht auch Ängste, weil sie in der eineinhalb jährigen Herrschaftszeit mit dem IS zu einer Kooperation mit den Islamisten gezwungen waren, und nun nicht wissen, ob das irgendwelche Konsequenzen für sie mit sich bringen wird.“

Aufgrund dieser Ängste kann es sein, dass die Rückkehr der Menschen einige Zeit in Anspruch nehmen wird. In der Region gibt es rund zehn turkmenische Dörfer, von denen diejenigen an der Grenze noch bevölkert sind. Viele Turkmenen sind aber während der Kämpfe entweder in Richtung Rakka oder in Richtung der Türkei geflohen. Für ihre Rückkehr gibt es, bis auf die Minen, keine Hindernisse. Zudem gibt es auch noch das Thema der Rückkehr der rund 10.000 bis 12.000 Kurden, die 2012 mit der Machübernahme der Islamisten Tall Abyad verlassen mussten. Viele ihrer Häuser wurden später vom IS genutzt.

Zum Schluss sei noch festgehalten: Wie im Falle von Kobanê ist es auch im Falle von Tall Abyad der türkischen Regierung wieder gelungen, dass gemeinsame Fotos von IS-Kämpfern und türkischen Soldaten über die Welt gingen. Die anschließende PR-Show, die mit der Festnahme von vier oder fünf IS-Kämpfern durch das türkische Militär, betrieben wurde, wird kaum ausreichen, um die internationale Wahrnehmung der Türkei als Unterstützerin des Islamischen Staates aus der Welt zu schaffen.