Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 06.04.2017
Am 14. März erklärte der Gouverneur von Kirkuk, Necmeddin Kerim, die Fahne der KRG (Kurdistan Regional Government) in Kirkuk hissen zu wollen. Nur zwei Wochen später, am 28. März, beschloss der Provinzrat in Kirkuk, in offiziellen Einrichtungen neben der irakischen die KRG-Fahne aufzuhängen. Der Provinzrat besteht aus 41 Mitgliedern, davon 26 Kurden, 9 Turkmenen und 6 Arabern.
Am 1. April lehnte das irakische Parlament den Beschluss aus Kirkuk ab. Daraufhin wurde auf der Sitzung am 4. April im Provinzrat Kirkuk der Beschluss des irakischen Parlaments mit 26 Stimmen, d. h. mit den kurdischen Stimmen, weil die turkmenischen und arabischen Mitglieder die Sitzung boykottierten, abgelehnt. Diesem umstrittenen Fahnenbeschluss folgte jetzt ein Vorstoß, Kirkuk an die Regionalregierung anzubinden. Auf der letzten Sitzung wurde zudem ein weiterer Antrag mit 21 Stimmen angenommen, der ein Referendum vorsieht, in dem die Bevölkerung über die Anbindung Kirkuks an die KRG abstimmen soll.
Nach Artikel 140 der irakischen Verfassung von 2005 sollte der Status Kirkuks per Referendum bis 2007 geklärt werden. Obwohl inzwischen zehn weitere Jahre vergangen sind, wurde dieses Referendum nie durchgeführt.
Der Gouverneur von Kirkuk ließ unmittelbar nach dem Beschluss des irakischen Parlaments schriftlich verlautbaren: „Die kurdischen Parlamentarier haben ihre Haltung zum Beschluss des Parlaments von Irak dargelegt. Jeder sollte wissen, dass unsere Fahne immer wehen wird. (…) Wir erkennen den Beschluss des irakischen Parlaments nicht an. Es ist nicht befugt, den Beschluss des Provinzrats von Kirkuk für nichtig zu erklären. Das ist in der Verfassung nicht vorgesehen.“
Am 1. April um 20 Uhr Ortszeit ließ der Vorsitzende des Provinzrats Kirkuk, Rebwar Talabani, eine Pressekonferenz zum Beschluss des irakischen Parlaments abhalten: „Der Beschluss ist inakzeptabel. Dem Bundesgericht zufolge sind Regionen, die eigenständig Entscheidungen treffen dürfen, nicht verpflichtet, den Entscheidungen von höheren Gremien zu folgen.“ Talabani spielte damit auf den Artikel 115 an: „Diesem Artikel zufolge können Provinzen Entscheidungen fällen, die sie selbst betreffen. Davon abgesehen ist Kirkuk nach Artikel 140 eine strittige Region und kann beschließen, neben der irakischen auch die regionale Fahne zu hissen.“
Ein türkischer Klassiker: „Wir werden das nie akzeptieren!“
Heftige Reaktionen auf den Fahnenbeschluss des Rates von Kirkuk kamen von den Turkmenen, die in Kirkuk leben, und vom türkischen Staat. Der türkische Außenminister Cavusoglu sagte – als wäre er der irakische Außenminister – „Das werden wir niemals akzeptieren!“. Er fügte hinzu, dass diese Angelegenheit auch mit dem KRG-Ministerpräsidenten Necirvan Barzani besprochen werde und der ihm versichert habe, diesen Beschluss nicht umzusetzen, auch wenn er im Provinzrat gefasst werden sollte. Nach der Erklärung aus der Türkei gingen die Turkmenen auf die Straße, um gegen den Beschluss zu protestieren. Bei den Protesten fiel auf, dass Handzeichen der „Grauen Wölfe“ gezeigt und Parolen wie „Kirkuk ist türkisch und wird türkisch bleiben“ skandiert wurden. Es wird angenommen, dass diese Proteste von MHP/AKP in Zusammenarbeit mit dem MIT organisiert und gesteuert wurden.
Gab es eine solche Unterredung zwischen Vertretern der Türkei und Necirvan Barzani? Hat Barzani tatsächlich der Türkei versichert, diesen Beschluss, wenn es ihn geben würde, nicht umzusetzen? Diese Fragen warten auf eine Antwort. Obwohl sich Ministerpräsident Barzani in den Nachtstunden des 29. März nur wenige Stunden nach der Erklärung Cavusoglus zum Fahnenbeschluss äußerte, verlor er kein einziges Wort über dessen Behauptung.
Das Bündnis zwischen AKP und KDP ist nicht zu verheimlichen
Es scheint, als würde die AKP bzw. der türkische Staat auch in Irak und Südkurdistan über die KDP versuchen, die Kurden zu spalten und zu kontrollieren, wie sie es bereits in Rojava und Nordkurdistan mit der KDP versuchten.
Weil auch die KDP ähnliche Überlegungen anstellt, ist ihr Kalkül in Bezug auf Kirkuk ein anderes als das der anderen politischen Kräfte in Südkurdistan. In Kirkuk ist die PUK politisch stark, sodass diese Beschlüsse auf ihre Initiative zurückgehen. Die KDP fürchtet ihren Einfluss in der KRG einzubüßen, sollte Kirkuk an die kurdische Region angebunden werden.
Aufgrund ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei scheut die KDP eine klare Haltung in der Kirkuk-Frage, um die eigene Zukunft nicht zu riskieren. Folglich ist sie bemüht, nicht in Widerspruch zur Türkei zu geraten. Ihre bisherige Politik hat sie in diese Abhängigkeit manövriert, aus der sie jetzt nicht so einfach rauskommt. Folglich bedeutet das für sie, dass die Diskussionen um Kirkuk mit ihren eigenen Interessen unvereinbar sind. Die Erklärungen des Präsidenten und des Ministerpräsidenten der KRG sind nur verbaler Art, um die Initiative nicht allein der PUK zu überlassen und um sich in der Kirkuk-Frage nicht vollkommen auszuschließen.
Der Versuch, die Ölfelder zu kontrollieren
Die jüngsten Entwicklungen um Kirkuk wurden entfacht, nachdem am 6. März das Unternehmen Bakur, welches der PUK gehört, die Hähne der Ölfelder zudrehen ließ. Die PUK machte für diesen Schritt die irakische Zentralregierung verantwortlich, weil diese die versprochenen Ölraffinerien in Kirkuk nicht eröffnete. Später wurden die Erdölhähne erneut geöffnet. Aber die Tatsache, dass die PUK mit zusätzlichen militärischen Kräften die Region umringte, machte deutlich, dass die Zeichen noch nicht auf Entspannung stehen.
Die KDP hatte zuvor ihre militärische Präsenz um die Ölfelder in dem von ihr kontrollierten Gebiet um Bayhesen herum erhöht. Die PUK befürchtete, die KDP könne auch die unter PUK-Kontrolle stehenden Ölfelder unter ihre Kontrolle bringen, und verstärkte den Sicherheitsring um die vom ihrem Unternehmen BAKUR betriebenen Ölfelder. Das führte zu Spannungen.
Nachdem nach den gegenseitigen Offensiven um die Ölfeldern die allgemeine Anspannung nachgelassen hat, sind die Kalkulationen und Diskussionen um Kirkuk keineswegs zu Ende. Die aufflammende Diskussion um die Fahnenkrise ist konkreter Beleg dafür. Auf der einen Seite eine KDP, die aufgrund ihrer Machtposition in Südkurdistan und ihrer Beziehungen zur Türkei Kirkuk nicht der PUK überlassen will, auf der anderen Seite eine PUK, die Iran nahesteht und bemüht ist, Südkurdistan nicht vollkommen der KDP zu überlassen, und Kirkuk in der Hand zu behalten versucht.
Kirkuk gehört gegenwärtig zum Einflussgebiet der PUK. Würde die KDP ihren Einfluss auf Kirkuk ausweiten, dann würde das einen großen Einbruch für die PUK-Position in Südkurdistan bedeuten. Sollte das vom Provinzrat Kirkuk vorgesehe Referendum abgehalten und Kirkuk an Südkurdistan angebunden werden, sowie die PUK weiterhin ihren gegenwärtigen Einfluss behalten, so wäre das ein erheblicher politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor gegenüber der KDP. Die iranisch-schiitische Front bevorzugt die PUK gegenüber einer KDP-Türkei-Politik. Auch wenn der Kampf um Kirkuk ein Machtkampf zwischen PUK und KDP ist, so geht es zugleich auch um einen Widerspruch zwischen Iran und Türkei.
Wenden wir uns vor diesem Hintergrund erneut dem angeblichen Versprechen Barzanis an die Türkei zu. Erstens: Necirvan Barzani hat keinerlei rechtliche Mittel, den Beschluss des Provinzrats von Kirkuk rückgängig zu machen.
Zweitens: Wenn die KDP verhindern sollte, dass dieser Beschluss umgesetzt wird, würde sie innerhalb der Kurden an Unterstützung einbüßen. Sie, die bei jeder Gelegenheit die Unabhängigkeit Südkurdistans postuliert, würde unglaubhaft wirken, wenn sie die Anbindung Kirkuks an Südkurdistan verhinderte. Aber aufgrund ihrer Beziehungen zur Türkei ist sie auch immer wieder gezwungen, in der Kirkukfrage Zugeständnisse an Ankara zu machen. Die widersprüchliche Haltung des Necirvan Barzanis resultiert aus diesem Dilemma.
Kirkuk ist, neben seinem multiethnischen Charakter, eine ölreiche Stadt. Das ist der Grund, warum viele ihre Ansprüche auf Kirkuk anmelden. Nach Angaben der internationalen Energieagentur für das Jahr 2014 stammen 40 % der irakischen Ölproduktion aus Kirkuk. Derselben Quelle zufolge liegen 6 % der Ölreserven Iraks in Kirkuk.
Nach Artikel 140 der nach dem Sturz des Saddam-Regimes ausgearbeiteten neuen irakischen Verfassung sollte die Frage, ob Kirkuk an die irakische Zentralregierung oder an die KRG angebunden wird, mit einem Referendum geklärt werden. Auch wurde festgelegt, dass die zu Saddams Zeiten aus Kirkuk Zwangsvertriebenen zurückkehren dürften. Nach einer erneuten Volkszählung sollte dann bis 2007 das Referendum stattfinden. Aber weil niemand seinen Anspruch auf Kirkuk zurückzieht, konnte es bis heute nicht stattfinden.
IS verändert die Lage
Während der Spannungen zwischen Zentralregierung und KRG um die umstrittenen Gebiete hatte die Al-Maliki-Regierung 2013 in den von Kurden beanspruchten Gebieten Militär stationiert, die Dicle-Operationskräfte. Das führte zu noch mehr Spannung. Die Dicle-Operationskräfte rückten damals bis nach Tuzxarmatu vor.
Bei der irakischen Parlamentswahl am 30. April 2014 gingen die 12 Sitze in Kirkuk an die PUK (6 Sitze), an die KDP (2), die Turkmenen (2) und die Araber (2). Mit der absoluten Mehrheit in Kirkuk für die Kurden wurde das Gouvernement ebenfalls von der PUK besetzt. Das führte dazu, dass die Erwartungen an ein Referendum für Kirkuk stiegen. Aber dann fiel im Juni 2014 der IS in Mossul ein und die politische Tagesordnung änderte sich radikal.
Als 2014 der Islamische Staat (IS) Mossul eingenommen und in vielen Orten Iraks Terror verbreitet hatte, zogen sich die irakischen Streitkräfte auch in Kirkuk zurück. Das ließ Kirkuk administrativ und militärisch de facto unter kurdische Kontrolle geraten. Dort haben die Kurden, PKK-Guerilla und Peschmerga, gegen den IS gemeinsam bedeutenden Widerstand geleistet.
Während die Krise zwischen der Zentralregierung und der Provinzrat Kirkuk noch nicht abgeklungen ist, schleicht sich schon ein weiterer Konflikt an. Der türkische Staat unter der AKP kündigt an, ihre in Nordsyrien für beendet erklärte Offensive Eurphrat-Shield unter neuem Namen nach Heseke, Afrin und Shengal verlagern zu wollen. Die Tageszeitung Sabah zitierte den türkischen Ministerpräsidenten mit dem Satz „Wir werden der neuen Operation einen neuen Namen geben“. Als möglicher Name wurde „Schwert Eurphrats“ benannt. Schon seit längerem ist zu beobachten, dass die türkische Armee ihre Kräfte an ihre Grenzgebiete verlagert. Eine solche Offensive würde die ohnehin komplizierte Situation in der gesamten Region nur noch weiter verkomplizieren. Wie sich das Ganze auf die Diskussion um Kirkuk auswirken wird, bleibt abzuwarten. Einfacher wird es jedenfalls nicht.