Die Zeit ist reif. Wirklich?

Reimar Heider, Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«, 08.11.2017

Seit dem 9. Oktober 2017, dem 19. Jahrestag der Abreise Öcalans aus Syrien, läuft offiziell die globale Kampagne »Die Zeit ist reif! Free Öcalan!«.

Die Kampagne wurde von einer Demonstration der kurdischen Frauenbewegung in Europa am Sitz des Europarats in Straßburg/Frankreich eröffnet. Im Gebäude des Europarats fand eine Pressekonferenz mit Ibrahim Bilmez, einem der AnwältInnen Öcalans, Havin Guneser von der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« und Simon Dubbins von der größten britischen Gewerkschaft Unite the Union statt. Gleichzeitig tourt momentan ein Bus durch Europa, der auf Öcalans Situation und seine Bücher aufmerksam macht. Warum jetzt diese Kampagne? Und worin besteht sie?

Kampagnen

Keine Aktion und keine Kampagne kann einen augenblicklichen, durchschlagenden Erfolg haben. Doch jede Kampagne seit 1998 hat uns dem Ziel einer politischen Lösung der kurdischen Frage und der Freiheit Öcalans näher gebracht.

Kurdinnen und Kurden haben seit 1998 die unterschiedlichsten Kampagnen durchgeführt. Erinnern wir uns: Seit Öcalans Verschleppung aus Kenia 1999, nein: schon seit seiner Ausreise aus Syrien im Oktober 1998 gab es Proteste, die sich gegen die Repression gegen Öcalan richteten. Vielleicht schon fast vergessen, aber auf jeden Fall erwähnenswert, sind die Kriegsdrohungen, welche die Türkei ab Sommer 1998 gegen Syrien richtete. Bereits damals drohte die türkische Armee (mit den USA im Rücken) den Einmarsch in Syrien an. Heute steht die türkische Armee zwischen dem Kanton Efrîn und dem Euphrat sowie in der Provinz Idlib. Insofern ist es sinnvoll, einen größeren historischen Bogen zu schlagen.

Die Kampagne »Ihr könnt unsere Sonne nicht verdunkeln« zeigte Freund und Feind bereits ab Herbst 1998, wie weit kurdische AktivistInnen zur Verteidigung Öcalans zu gehen bereit waren. Zahlreiche Menschen zündeten sich selbst an, aus Protest – und als Warnung. Öcalan gedenkt all dieser Menschen in seiner Widmung zum »Plädoyer für den freien Menschen«.

Die Unterschriftenkampagne 2005/2006, mit der 3,24 Millionen Unterschriften gesammelt wurden, bereitete den späteren Gesprächen zwischen Öcalan und dem Staat den Boden. Hier zeigten Millionen von Kurdinnen und Kurden, dass Öcalan ihr politischer Repräsentant ist – was ja später auch die türkische Regierung implizit anerkannte.

Sprung auf die internationale Bühne

Die längste und breiteste davon war mit Sicherheit die Unterschriftenkampagne 2012–2015, bei der 10,5 Millionen Unterschriften gesammelt wurden. Jetzt muss es darum gehen, diese breite Unterstützung in eine von vielen AkteurInnen getragene internationale Kampagne zu transformieren. Beispiele dafür sehen wir in Europa vor allem in Italien und Großbritannien.

Italien

In Italien haben mittlerweile zahlreiche Städte Abdullah Öcalan die Ehrenbürgerwürde verliehen. Darunter befinden sich Metropolen wie Palermo und die Millionenstadt Neapel, immerhin die drittgrößte Stadt Italiens. Öcalan hatte seinerzeit in Italien politisches Asyl beantragt und erst zugesprochen bekommen, als er bereits auf die Gefängnisinsel Imralı verschleppt worden war. Nun versuchen viele Kommunen dort, etwas zu einer späten Genugtuung beizutragen. Von kleineren Städten hat sich diese Bewegung mittlerweile ins ganze Land ausgebreitet.

Großbritannien

In Großbritannien wird die »Freiheit für Öcalan«-Kampagne vor allem von den Gewerkschaften getragen. Im September 2017 haben der größte Gewerkschaftskongress des Landes, der Trade Union Congress, und alle seine 50 Mitgliedsgewerkschaften einen Leitantrag angenommen und so beschlossen, die Kampagne für Öcalans Freiheit aktiv zu unterstützen. Diese Gewerkschaften vertreten rund 5,6 Millionen Mitglieder.

Deutschland

In Deutschland war und ist die kurdische Frage genauso wie Öcalan in der Öffentlichkeit viel präsenter als anderswo. Das Verhältnis zum türkischen Staat und zu Menschen aus der Türkei und Nordkurdistan in Deutschland spielt eine viel größere Rolle als in den meisten Nachbarländern. Die aktuell zur Schau getragene Erdoğan-kritische Haltung der Bundesregierung hat allerdings bisher nicht zu einer grundlegenden Neubewertung des Verhältnisses zu den KurdInnen geführt. Institutionelle Unterstützung durch Kommunen wie in Italien oder ganze Gewerkschaften oder gar Gewerkschaftsverbände wie in Großbritannien sind einstweilen nicht in Sicht. Dabei sind die Rahmenbedingungen besser als seit langem.

Völlig neue Ausgangslage

Die Welt ist nicht mehr die Welt von vor 10 oder 15 Jahren, als der Mittlere Osten zwar schon destabilisiert wurde, der »Westen« dagegen noch einigermaßen stabil erschien. Heute schockiert der Vormarsch der Rechten auch Europa und die USA. Diese Rechte ist konservativ, nationalistisch, religiös. Allen gemeinsam sind reaktionäre Frauenbilder – da fällt der Unterschied zur kurdischen Bewegung, die nicht nur in Rojava ein weibliches Gesicht trägt, besonders ins Auge.

Äußerst wichtig für die neue Kampagne ist auch die völlig veränderte Ausgangslage des Konflikts zwischen der kurdischen Bewegung, die Öcalan symbolisiert, und der AKP-Regierung, die ihn gefangen hält, vertreten durch Präsident Recep Tay­yip Erdoğan. War die AKP noch vor wenigen Jahren das ach so demokratische Lieblingskind des »Westens«, so waren die offensichtliche Verwicklung in islamistischen Terror und der erfolgreiche Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung in Kobanê der Wendepunkt. Die demokratische Maske Erdoğans und der AKP fiel endgültig, und sie sind bei demokratisch gesinnten Menschen genauso wie bei ehemals befreundeten Staaten so unbeliebt wie noch nie.

All dies erinnert mich an die letzten Jahre des Apartheid-Regimes in Südafrika: Präsident P. W. Botha führte im In- und Ausland einen grausamen Kampf gegen die schwarze Befreiungsbewegung und trieb sein Land immer weiter in die internationale Isolation. Während die Zivilgesellschaft weltweit auf Seiten des Anti-Apartheid-Kampfes stand, unterstützten die damaligen Regierungschefs Reagan (USA), Thatcher (GB) und Kohl (BRD) das Regime in Südafrika bis zuletzt und rüsteten es auf.

Die kurdische Befreiungsbewegung hingegen zog in den letzten Jahren durch den erfolgreichen Widerstand in Kobanê und Şengal nicht nur alle Aufmerksamkeit auf sich, sondern konnte auch das Bild verändern, das die Propaganda so viele Jahre von ihr gezeichnet hatte. Seither wird sie in viel breiteren Kreisen als fortschrittliche Kraft wahrgenommen.

Auch Öcalan selbst wird dank seiner Bücher zunehmend anders gesehen. Nach fast 20 Jahren im Gefängnis ist er nicht mehr ein Guerilla-Anführer, sondern ein schreibender Politiker und Denker, dessen überragende Bedeutung für eine friedliche Lösung auf allen Seiten des Konflikts anerkannt ist.

Was tun?

Deutschland hinkt hinterher, wie nicht zuletzt die aktuellen, absurden Bilderverbote zeigen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist auch hier jenseits von HDP-Solidarität, Kobanê-Solidarität, Rojava-Solidarität, Kurdistan-Solidarität und Frauen-Solidarität ein besonderes Eintreten für die Freiheit von Abdullah Öcalan gefragt. Wir rufen alle dazu auf, örtliche »Freiheit für Abdullah Öcalan«-Komitees zu gründen oder zumindest die Freiheitskampagne zu einem zentralen Baustein jeglicher Solidaritätsarbeit zu machen. Als Internationale Initiative möchten wir dabei mit lokalen Gruppen zusammenarbeiten.

Mittlerweile gibt es bereits mehrere Lesekreise in Deutschland, die gemeinsam Öcalans Schriften lesen und diskutieren. Das ist überaus erfreulich und eine hervorragende Grundlage für den nächsten Schritt: den Aufbau lokaler »Freiheit für Öcalan«-Komitees.

Die AKP weiß, was sie tut, wenn sie Imralı Island so sehr isoliert, dass keine einzige Silbe von Öcalan nach außen dringt. Diese Isolation müssen wir jetzt durchbrechen, um der stärksten Stimme der Demokratie in der Türkei noch mehr Gehör zu verschaffen. Wer wirksam gegen Erdoğan vorgehen will, muss die Aufmerksamkeit auf diese Insel und ihren bekanntesten Insassen richten: Abdullah Öcalan.

Der Text erschien zuerst im Kurdistan Report 194 | November/Dezember 2017.