Murat Çakır zum deutsch-türkischen Verhältnis; für den Kurdistan Report November/Dezember 2017
Die unselige »Waffenbrüderschaft« der herrschenden Klassen in der BRD und der Türkei scheint heute Risse bekommen zu haben. Während des Wahlkampfes deuteten Aussagen der Regierungs- und Oppositionsparteien darauf hin, dass ein Konfrontationskurs gegen die Türkei anstehen würde. Sowohl die Kanzlerin als auch deren Herausforderer Schulz waren einhellig der Meinung, dem Lieblingsfeindbild deutscher Politik, Erdoğan, eine »klare Kante« zu zeigen. Immerhin gab das AKP-Palast-Regime genügend Anlass für empörende Positionierungen aus der BRD und der EU. In seltener Eintracht stellten Regierungs- und Oppositionsparteien diverse Forderungen auf. Die Zollunion solle auf Eis gelegt und die Hermes-Bürgschaften sollten gekündigt werden, die EU solle Beitrittsverhandlungen abbrechen, die Vorbeitrittszahlungen einstellen.
Während der damalige Außenminister »für die Neuausrichtung der Türkei-Politik« warb und mit seinen »europäischen Kollegen sprechen« wollte, »wie man mit Vorbeitrittshilfen der EU für die Türkei umgehen soll«, wollten andere, z. T. auch linke, Politiker*innen die Türkei »aus der NATO werfen« – was gerade für linke Politik einen faden Beigeschmack hat, weil damit die NATO eine ungerechtfertigte Legitimierung erlangt. Auch bürgerliche Medien pflegten das Lieblingsfeindbild und betrieben lustvoll ihr »Erdoğan-Bashing«, forderten »verschärfte Reise- und Sicherheitshinweise«. Dennoch wurden Regierungssprecher*innen nicht müde, die Feststellung der Kanzlerin aus ihrer Regierungserklärung von Ende April 2017 bei jeder Gelegenheit zu wiederholen: »Die Türkei ist und bleibt NATO-Mitglied und in vielem ein wichtiger Partner. Eine völlige Abwendung der Türkei von Europa, aber auch Europas von der Türkei liegt weder im deutschen noch im europäischen Interesse.«
Merkel wies damit auf die 150 Jahre währende enge Kooperation hin, die vor, während und nach den beiden Weltkriegen eine Konstante der deutsch-türkischen Beziehungen war. In der Tat, diese enge Kooperation war für alle deutschen und bundesdeutschen Regierungen ein strategischer Imperativ, mit dem die »strategischen, wirtschaftlichen und nationalen Interessen Deutschlands« gewahrt werden sollten. Wie kam es dann dazu, dass nun die »Türkei-Politik neu ausgerichtet« und der türkischen Regierung »klare Kante« gezeigt werden soll? Es stellt sich die Frage, woher dieser Sinneswandel kommt. Sind die herrschenden Klassen und deren politische Vertretung in der BRD wirklich um die Demokratie in der Türkei besorgt? Geht es ihnen um die Menschenrechte, um Meinungsfreiheit, Minderheitenrechte, gar um die inhaftierten deutschen Journalist*innen? Sind sie gewillt, für die Wiederherstellung des parlamentarischen Systems und demokratischer Verhältnisse in der Türkei alle außenpolitischen Instrumente zu nutzen, von denen immer wieder die Rede ist? Oder war das alles nur Wahlkampfgetöse, nur Phrasen, deren Halbwertzeit am 24. September 2017 längst abgelaufen ist?
Die Realität und die ökonomischen Sachzwänge
… sprechen für sich: Über 6.800 bundesdeutsche Unternehmen sind in der Türkei aktiv, die zudem ein wichtiger Absatzmarkt für den deutschen Export ist. So betrug z. B. allein in 2016 das Exportvolumen in die Türkei rund 22 Milliarden Euro, während der türkische Export in die BRD 14 Milliarden Euro nicht überstieg. Für die Automobilkonzerne ist die Türkei einer der Schlüsselmärkte, die auf einer Stufe mit Russland und Italien steht. VW lieferte in 2016 rund 174.000 Fahrzeuge in die Türkei. MAN produziert seit 1966 Stadtbusse in der Nähe von Ankara. Siemens beschäftigt ca. 3.000 Mitarbeiter*innen in seinen türkischen Niederlassungen und konnte Anfang August 2017 einen Milliardenauftrag an Land ziehen. Gemeinsam mit seinem türkischen Partner wird Siemens Anlagen für Windenergie bauen. Die Traditionsfirma Bosch hat 16.500 Mitarbeiter*innen in der Türkei und investiert seit 1910 kräftig im Land. Das Textilunternehmen Hugo Boss unterhält sein größtes Werk mit 3.777 Beschäftigten in Izmir. Daimler produziert seit 30 Jahren in Aksaray LKWs und Busse für das Auslandsgeschäft. Während Medienunternehmen wie Axel Springer Unternehmensbeteiligungen haben, baut die Allianz ihre Geschäfte aus – laut Handelsblatt ist die Türkei durch das Unfall- und Lebensversicherungsgeschäft ein »Milliarden-Anker«. E.ON ist mit der Sabancı Holding jeweils zur Hälfte an einem Energieunternehmen beteiligt, das 2016 rund 3,4 Milliarden Euro erzielt hat. Fraport gehören 51 Prozent des drittgrößten Flughafens der Türkei in Antalya. Lufthansa und Turkish Airlines gehört je zur Hälfte der Urlaubsflieger SunExpress. BASF und Bayer sind mit verschiedenen Unternehmensbeteiligungen im Land vertreten. In allen Schlüsselbereichen der türkischen Wirtschaft dominieren deutsche Konzerne und halten einen großen Teil des türkischen Exports in die BRD in ihren Händen. Es sind vor allem deutsche Konzerne, die von den Hermes-Bürgschaften und weiteren Kreditabsicherungen profitieren.
Auch die Rüstungszusammenarbeit gedeiht prächtig. Rheinmetall liefert die 120-mm-Glattrohrkanone für den Altay-Panzer, welcher unter koreanischer Lizenz gebaut wird, lässt sein türkisches Tochterunternehmen gemeinsam mit dem staatlichen Rüstungskonzern MKEK Munition produzieren und wird in Kooperation mit der türkischen BMC sowie dem malaysischen Rüstungskonzern Etika gepanzerte Fahrzeuge für Katar bauen. MTU Friedrichshafen liefert den Dieselmotor für den Altay-Panzer. Allein in diesem Jahr hat die Bundesregierung 99 Genehmigungen für Rüstungsexporte erteilt (2016 waren es 158 Genehmigungen). Hauptsächlich werden Bomben, Torpedos, Flugkörper, Raketenabwehrsysteme für Marineschiffe, Marinespezialausrüstung, militärische Elektronik, militärische Luftfahrzeuge sowie ABC-Schutzausrüstung geliefert. Das Wichtigste dabei: Die deutschen Rüstungskonzerne können über den türkischen militärisch-industriellen Komplex, den sie selbst mit aufgebaut haben, die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung umgehen.
Warum dieses Getöse?
Die o. g. Auflistung allein reicht aus, um zu zeigen, dass eine Änderung der bundesdeutschen Türkei-Politik zuallererst dem deutschen Kapital schaden würde. Insofern kann konstatiert werden, dass die angekündigte »Neuausrichtung der Türkei-Politik« nur eine graduelle Kurskorrektur sein kann. Diese Feststellung schließt jedoch nicht aus, dass es Reibungen zwischen den herrschenden Klassen und Regierungen der beiden Länder geben kann. Reibungen aufgrund von Interessenskonflikten, denen die kapitalistische Konkurrenz unterliegt und die immer mit politischen Mitteln ausgetragen werden, sind Normalfall im Kapitalismus. Das ändert aber überhaupt nichts an der Tatsache, dass die langfristigen Interessen des deutschen Imperialismus und des AKP-Palast-Regimes als Interessenvertreterin der türkischen Bourgeoisie sich überlappen.
Daher unterliegen jene Kräfte, die auf den »Westen« bzw. auf »Deutschland« bauen, weil dort vermeintlich eine echte Demokratie existiert, einem liberalen Trugschluss. Es steht außer Frage: Für den deutschen Imperialismus, der unter dem Dach der EU eine Weltordnungsmacht werden will, spielt die Türkei aufgrund ihrer strategisch wertvollen Lage für den freien Zugang zu den Märkten und Energieressourcen des Nahen und Mittleren Ostens, die Kontrolle der Transportwege und die langfristigen strategischen Interessen des deutschen Kapitals eine Schlüsselrolle. Das AKP-Palast-Regime unter Erdoğan baut auf diese Schlüsselrolle und ist sich der Unterstützung der herrschenden Klassen in der BRD sicher. Die Kriminalisierung kurdischer und linker Aktivist*innen, Betätigungs- und Organisationsverbote in der BRD sowie die weiterhin enge Zusammenarbeit der Geheimdienste sind nur einige der Tatsachen, die das beweisen.
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