Ein Widerstand für alle Frauen dieser Welt

hevi ibrahimDie Vorsitzende der demokratisch-autonomen Verwaltung im Bezirk Afrîn, Hêvi Ibrahim, im Gespräch mit der Tageszeitung Radikal, 01.02.2014

(…) Wir wollen, dass alle Frauen in ihrem Leben erfolgreich sind. Heute leistet die kurdische Frau in Rojava einen wichtigen Widerstand für alle Frauen dieser Welt. Aber auch hier hat sie noch viel Arbeit zu erledigen. Sie muss noch mehr arbeiten, gerade weil sie bis heute überhaupt keine Stellung im öffentlichen Leben haben durfte. Die Frau in Rojava hatte am meisten zu gewinnen und insbesondere sie war bei dieser Revolution immer ganz vorn mit dabei. Damit sie nun die Rolle einnehmen kann, die ihr gebührt, muss sie nun auch in der demokratisch-autonomen Verwaltung ihren Platz einnehmen. (…)

Frau Ibrahim, am Mittwoch wurde die Demokratische Autonomie auch in Afrîn ausgerufen. Zunächst wollen wir etwas über Ihre Gefühle und Gedanken erfahren. Was bedeutet die Deklaration?

Ja, auch im Bezirk Afrîn wurde die Autonomie ausgerufen. Wir hoffen, dass wir den Bedürfnissen und Forderungen unserer Bevölkerung gerecht werden. Das wird in der kommenden Zeit auch unser vorrangiges Ziel sein. Diese Verwaltung ist durch den Willen unserer Bevölkerung entstanden, sie ist ihre eigene Selbstverwaltung. Das Gebiet des “Berges der Kurden”, also um Afrîn herum, wurde bereits vor der Ausrufung der Demokratischen Autonomie von uns selbst verwaltet und verteidigt.
Aber die internationale Öffentlichkeit wollte und will das nicht sehen. Die Ausrufung der Demokratischen Autonomie war in dieser Hinsicht auch eine Antwort auf diese Ignoranz. Es gibt uns und hier sind wir. Die Deklaration war gewissermaßen auch eine Antwort auf die Genf-II-Konferenz. Weil sie uns nicht bei den Friedensverhandlungen dabeihaben wollen, werden ihre Beschlüsse für uns auch nicht bindend sein.

Was bedeutet es, dass Sie als eine Frau zur Vorsitzenden des Bezirks gewählt wurden?

Ja, für den Mittleren Osten mag das ungewöhnlich sein, aber für die Kurden ist es das nicht. Denn in deren Reihen kommt es nicht selten vor, dass Frauen in der Gesellschaft eine Vorreiterrolle einnehmen. Es gibt viele Beispiele von Frauen, die das bereits vor mir gemeistert haben. Ich laufe praktisch in ihren Fußstapfen. In Afrîn und in Rojava insgesamt haben Frauen bei dieser Revolution eine Vorreiterrolle eingenommen.

Außer dass Sie eine Frau und eine Kurdin sind, verfügen Sie über eine weitere Identität, die unterdrückt wird. Sie sind Alevitin …

Ja, das stimmt. Ich bin in Mabada geboren. Das ist eine kleine Stadt, in der kurdische Aleviten leben. Auch die Aleviten haben in ihrer Geschichte viel Leid erfahren. Und gerade deshalb ist diese Geschichte auch von viel Widerstand geprägt. Das hat natürlich auch mich geprägt und dazu beigetragen, dass ich heute meinen Platz im Freiheitskampf eingenommen habe. Aber das bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir nun selber auch anfangen, Unterschiede zwischen Religions- und Volkszugehörigkeiten zu machen.

Sind andere religiöse Gemeinschaften und Volksgruppen in Ihrer Selbstverwaltung auch vertreten?

Selbstverständlich. Neben alevitischen Kurden sind auch yezidische Kurden darin vertreten. Zwei arabische Clans haben sich der Selbstverwaltung ebenfalls angeschlossen. Mein Vertreter Mustafa Abdulhamid ist beispielsweise Araber. Unser Sprecher für die Diplomatie, Suleyman Cafer, ist Yezide.

Sie sprechen von einer demokratischen und pluralistischen Struktur. Auf der anderen Seite haben Sie erwähnt, dass die internationalen Mächte diese Strukturen schlichtweg übersehen. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Die Interessen einiger dieser Mächte kollidieren mit den Errungenschaften der Kurden. Sie befürchten, dass diese Errungenschaften, die Erlangung ihrer Freiheit, große Veränderungen und Einschnitte für sie mit sich bringen wird. Es passt also nicht in ihre Interessen.

Was wollen Sie in nächster Zukunft für die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft tun?

Jetzt feiern wir erst einmal mit unserer Bevölkerung die Ausrufung der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung. Natürlich werden wir uns in Zukunft auch darüber beraten, wie wir mit der internatonalen Gemeinschaft in Verbindung treten wollen und werden. Wir wollen mit der internationalen Zivilgesellschaft und den Regierungen selbstverständlich auch Kontakte pflegen.

Das Gebiet Afrîn ist seit Langem umzingelt. Wie ist die Situation jetzt?

Das stimmt. Das ganze Gebiet des “Berges der Kurden” ist seit fünf bis sechs Monaten umzingelt. Die Bevölkerung bringt dennoch große Mühen auf, das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten. Sie teilen ihre Freude, ihr Leid, ihr Eigentum alles miteinander und versuchen trotz der Umstände, ein gutes Leben zu führen. So leisten sie Widerstand gegen das bestehende Embargo. Wir hoffen, dass es bald ein Ende finden wird.

Vor allem die Rolle der Frau in Rojava macht Eindruck auf Journalisten aus Europa und den USA. Haben Sie als Frau eine Botschaft, die Sie den Frauen dieser Welt mitteilen wollen?

Wir wollen, dass alle Frauen in ihrem Leben erfolgreich sind. Heute leistet die kurdische Frau in Rojava einen wichtigen Widerstand für alle Frauen dieser Welt. Aber auch hier hat sie noch viel Arbeit zu erledigen. Sie muss noch mehr arbeiten, gerade weil sie bis heute überhaupt keine Stellung im öffentlichen Leben haben durfte. Die Frau in Rojava hatte am meisten zu gewinnen und insbesondere sie war bei dieser Revolution immer ganz vorn mit dabei. Damit sie nun die Rolle einnehmen kann, die ihr gebührt, muss sie nun auch in der demokratisch-autonomen Verwaltung ihren Platz einnehmen.
Ich möchte über Sie einen Appell an die kurdische und die demokratische Öffentlichkeit richten. Damit die ausgerufene Demokratische Autonomie auf einem stabilen Fundament weiter ausgebaut werden kann, hoffen wir auch auf Eure Unterstützung. Sowohl humanitäre Hilfe als auch politische Unterstützung sind für uns von großer Bedeutung.

Radikal, 01.02.2014, ISKU

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