Eine demokratische Lösung der kurdischen Frage

Staat Gewalt und macht-Abdullah ÖcalanProf. Werner Ruf
Rezension: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt / von Abdullah Öcalan

(…) Gerade im kulturellen und konfessionellen Pluralismus des Nahen und Mittleren Ostens sieht Öcalan die Chance für eine lebendige, basisorientierte Demokratie. Sie ist nur durch ein Höchstmaß an Autonomie und Abbau zentralstaatlicher Gewalt zu erreichen. Die mittel- bis langfristige Perspektive für eine solche am Frieden in der Region orientierte Lösung ist ein föderales zusammengehen der Staaten, die dadurch nicht in ihrem derzeitigen territorialen Bestand gefährdet werden, wohl aber in ihren inneren Strukturen verändert werden müssen. (…)

Der Autor der Buches, Führer der PKK, wurde am 15. Februar 1999 mit Hilfe israelischer Agenten in Kenia entführt und in die Türkei verbracht. Seither sitzt er als einziger Gefangener auf der eigens geräumten Insel Imrali im Marmara-Meer in Isolationshaft. Bei der Erstellung des Manuskripts wurde ihm nicht einmal der Zugang zu seinen früheren Schriften erlaubt.

Das Buch erschien erstmals 2004 in türkischer Sprache, ist nun auch in deutscher Übersetzung zugänglich. Im Anhang finden sich verschiedene Chronologien und ein Index.

Öcalan präsentiert sich als hervorragender Kenner der europäischen Geistesgeschichte wie auch der Geschichte und Kultur des Nahen und Mittleren Ostens. Vor diesem Hintergrund reflektiert er den Stand des internationalen Systems und der Konfliktregion Nahost nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ebenso wie – sehr selbstkritisch – die Geschichte der PKK und sein eigenes politisches Handeln. Interessant und bedenkenswert ist dabei seine Auseinandersetzung mit dem klassischen Marxismus, dem er mechanisches Denken, das er selbst einmal geteilt habe, vorwirft: Das Konzept, wonach geschichtlicher Fortschritt darin bestünde, dass aus dem Zusammenbruch rückständiger Gesellschaften immer fortschrittlichere hervorgingen, führe zu einem falschen Verständnis von Staat, Revolution und Demokratie. Vielmehr sei der Hegelsche Dreischritt von These – Antithese – Synthese der bessere methodische Ansatz, um kreative innere Bewegungen zu erfassen und zu begreifen, dass in dualistischen Wechselbeziehungen zwischen Altem und Neuem Bewegung entsteht, die qualitativ Neues erst möglich macht, ohne dass dabei das Alte verschwindet oder abstirbt.

Diese Überlegungen führen ihn direkt zu der zentralen Thematik seiner Argumentation, der Demokratie. Deren Antipode ist der Etatismus. So fordert er die Schaffung eines neuen Systems, eine «demokratisch-ökologische Gesellschaft», die «grundsätzlich außerhalb von staatlicher Macht aufzubauen» ist (S. 89). Erst solche Demokratie ist das kreativste aller Regime, da sie – durch Abschaffung des (staatlichen) Militär-Macht-Komplexes – sowohl ökonomischen Wohlstand wie sozialen Frieden zu sichern vermag. Die Chance, eine wirkliche Demokratie in diesem Sinne zu entwickeln, resultiert aus Renaissance, Reformation und Aufklärung, da diese die Englische, die Französische und die Amerikanische Revolution möglich machten und den klassischen (absolutistischen) Staat zerschlugen. Einen zentralen Platz nehmen in diesem Demokratie-Modell die Frauen ein, deren Rolle er sowohl aus anthropologischer wie aus sozialwissenschaftlicher Sicht immer wieder große Aufmerksamkeit widmet.

Der eurozentrischen Weltsicht, zu der ja auch der orthodoxe Marxismus gehört, stellt Öcalan die Spezifik einer orientalischen Zivilisation entgehen, die für ihn im Neolithikum und in den frühen Hochzivilisationen der Region gründet. Eine neue Sicht auf die Zivilisationsgeschichte der Menschheit wird so eröffnet, die den Menschen der Region zu einer Identität voller Stolz und Selbstvertrauen verhelfen könne und von der – auch unter Rückgriff auf die Werte der griechischen Demokratie – weltweite Impulse für ein neues zivilisatorisches Projekt ausgehen können und sollen. Hier findet sich die Verbindung zu der von ihm immer wieder betonten zentralen Rolle der Frau in einer erneuerten, in ihrer Zielsetzung sozialistischen, jedoch nicht orthodox-marxistischen Gesellschaft: Die frühen Zivilisationen der Region waren oft matrizentristisch. Die herausragende Stellung der Frau wieder herzustellen, ist daher nicht nur eine demokratische und sozialistische Aufgabe, sie würde auch einen neuen Gesellschaftstyp im Nahen Osten schaffen, da sie auch den Mann aus den herrschenden patriarchalischen Strukturen befreien würde.

Nach diesen rückblickenden Erörterungen, die die Hälfte des Bandes füllen, wendet sich Öcalan der aktuellen Politik im Nahen und Mittleren Osten zu. Auch hier blickt er zuweilen weit in die Geschichte zurück, um die identitäre Spezifik des kurdischen Volkes zu herauszuarbeiten. Für die Aktualität verweist er auf das von ihm entwickelte Demokratiekonzept und stellt fest, dass die Entwicklung in diesem Raum das genaue Gegenteil der Entwicklungen im Westen darstellt: «Der Staat wurde zunehmend despotischer und entwickelte sich für die Gesellschaft zu einem blutsaugenden Parasiten. Das ist die Tragik dieser Geschichte seit dem 15. Jahrhundert» (S. 227f). Der derzeit existente mittelöstliche Staat ist gekennzeichnet durch Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Form autoritärer Repression und Verschwendung der natürlichen Ressourcen der Länder. Gerade weil sie so despotisch sind, produzieren die bestehenden Systeme andauernd Krisen. Dieser Despotismus wird derzeit vom Westen unterstützt, damit die Ausbeutung der Ressourcen sicher und kostengünstig gewährleistet werden kann. Aufgrund der Verarmung der Massen gerät der despotische Staat jedoch zunehmend auch unter inneren Druck, reagiert mit erhöhter Repression und wird so für das globale System zum Hindernis. Diese Situation lieferte der Politik der Bush-Administration gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten – einschließlich des vorgeblichen Demokratisierungswillens – die legitimatorischen Argumentationsmuster, sie bildet «die materielle Grundlage für das Greater Middle East Project» (S.269). Unklar bleibt bei diesen Betrachtungen, ob Öcalan das Konzept des Greater Middle East als imperialistisches Projekt rundweg ablehnt oder ob er in ihm doch auch Elemente zu sehen glaubt, die letztlich fortschrittliche Perspektiven enthalten könnten.

Demokratisierung wird nicht als formal-institutionelles Projekt verstanden, sondern als dynamisches Konzept, das auf der basisdemokratischen Organisation der Bevölkerung ruht und sich in kommunalen, vor allem in nicht-etatistischen Strukturen artikuliert: «Demokratie nimmt in dem Maße zu, in dem der Staat abnimmt (S. 289).» Verbunden mit einem solchen Demokratie-Konzept sind dann Spielräume politischer, vor allem kultureller Autonomie. Solche Autonomien könnten, so der Autor, die Probleme des Nahen Ostens lösen: Weg vom autoritär-despotischen Staat, der sich (zu Lasten der Minderheiten) nationalistisch legitimiert – einschließlich der damit verbundenen despotischen, ja faschistischen Tendenzen. Gerade im kulturellen und konfessionellen Pluralismus des Nahen und Mittleren Ostens sieht Öcalan die Chance für eine lebendige, basisorientierte Demokratie. Sie ist nur durch ein Höchstmaß an Autonomie und Abbau zentralstaatlicher Gewalt zu erreichen. Die mittel- bis langfristige Perspektive für eine solche am Frieden in der Region orientierte Lösung ist ein föderales zusammengehen der Staaten, die dadurch nicht in ihrem derzeitigen territorialen Bestand gefährdet werden, wohl aber in ihren inneren Strukturen verändert werden müssen. Genau aus dieser Analyse folgt auch eine radikale Selbstkritik gegenüber der bisher von der PKK betriebenen Politik: Der nationale Befreiungskrieg war ein Fehler: «… dass wir ihn als einzigen Weg dachten und praktizierten, brachte viele sinnlose Verluste und das Scheitern andersartiger Bemühungen mit sich» (S.447).

Die schon zuvor hergeleitete Absage an jeden Nationalismus, der scharf von einem kulturell begründeten Patriotismus unterschieden wird, ist zugleich Voraussetzung für die von ihm vorgeschlagene föderative Lösung, die sich nicht auf Türkisch-Kurdistan beschränken kann, sondern die ganz Region umfassen muss, damit überhaupt demokratische Verhältnisse entstehen können. Solche auf Autonomien und wechselseitige Toleranz gegründete Strukturen aber wollen weder der zeitgenössische Imperialismus noch die despotischen Staatführungen, im Gegenteil: Die imperialistische Strategie zielt derzeit auf das Aufhetzen der Völker der Region gegeneinander ab. Sichtbar ist dies im zerfallenen Jugoslawien über den Kaukasus bis nach Afghanistan. Und der kurdische Föderalstaat in Nordirak ist hierfür ein Paradebeispiel, dient er doch nicht einer demokratischen Lösung, sondern ist Teil der Parzellierung der Region unter der Schirmherrschaft des Imperialismus und der von diesem abhängigen Führung durch die kompradorbourgeoisen Clans der Barzani und Talabani.

Öcalan geht in seiner Argumentation so weit, dass er sich auf Mustafa Kemal, genannt Atatürk (Vater der Türken) beruft, der «einen Patriotismus (propagierte und) für eine freiheitliche Entwicklung offen war» (S. 523). Diese Berufung auf den Gründer der modernen Türkei ist nicht ohne Pikanterie, versucht sie doch, das herrschende Staatsverständnis der Türkei, den Kemalismus in einem neuen Licht zu zeigen – und gleichzeitig seine herrschende, staatstragende nationalistische Variante zu delegitimieren.

Zugleich nutzt er diesen Hinweis, um darzulegen, dass der innertürkische Konflikt um den Status der Kurden im Kern kein Problem der beiden Völker sei, sondern stets von außen beeinflusst wurde: Die Einstufung der PKK als «terroristische Vereinigung» sei eben nicht aus Liebe des Westens zur Türkei entstanden sondern mit dem Ziel, den Konflikt zu vertiefen und so die Türkei als regionale Macht zu schwächen, ja sie an den «Rand des Untergangs» zu bringen. Andrerseits brauchten und benutzten die USA, die EU, aber auch Israel den kurdischen Nationalismus in allen nahöstlichen Staaten mit kurdischen Minderheiten, um die dortigen Staaten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Ziel dieser Politik ist es, beide Seiten, nämlich die Staaten der Region wie die kurdischen Bewegungen zu schwächen.

Großen Wert legt Öcalan auf die Feststellung, die PKK habe niemals einen eigenen Staat gefordert, allerdings habe sie sich genauso wenig vom Projekt der Demokratie und Freiheit sowohl für Kurdistan wie die Kurden im Allgemeinen verabschiedet. Daher die Schlussfolgerung aus der auf über 500 Seiten facettenreich entfalteten Argumentation: «Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass demokratischer Dialog die konstruktivste und lösungsorientierteste Form der Beziehungen ist» (S. 524), und, mahnend an die türkische Führung: «Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Türkei durch eine demokratische Lösung für die kurdische Frage gemeinsam mit den Kurden eine Rührungsrolle im Mittleren Osten übernehmen kann» (S. 526).

Diesen Appell an das (gesamt-)türkische (?) Nationalgefühl mag man durchaus deuten als den Versuch des inhaftierten Widerstandsführers, der mit diesen Vorschlägen seine Freiheit erhalten will und deshalb Läuterung demonstriert. Doch selbst wenn dem so wäre, muss dieses Buch gesehen werden als eine bemerkenswerte staatsmännische Leistung und als eine ernstzunehmende Blaupause nicht nur für eigenständige und konstruktive Politik der Türkei im Nahen und Mittleren Osten sondern auch für eine Umgestaltung der politischen Landkarte im ganzen nahöstlichen Raum, die einer der krisenhaftesten Regionen der Welt zumindest mittelfristig Frieden und Stabilität bringen könnte. Dass diese Vision, die ja schon 2004 in türkischer Sprache erschien, in der Türkei nicht gehört werden will, sollte ein Grund mehr sein, sie aufgrund der nun vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe in der EU ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.

Erschienen in INAMO Heft Nr. 65, Frühjahr 2011

JENSEITS VON STAAT, MACHT UND GEWALT
Verteidigungsschriften
Abdullah Öcalan
Originaltitel: Bir Halki Savunmak
MESOPOTAMIEN VERLAG, Neuss
ISBN 9783941012202 Paperback
ISBN 9783941012554 Hardcover
Preis: 15,00 € Paperback / 25,00 € Hardcover
Erscheinungsdatum: September 2010

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MEHR ZUM THEMA:

DAS MITTELÖSTLICHE DENKEN – Leseprobe aus: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt

PROBLEME DER VÖLKER DES MITTLEREN OSTENS UND MÖGLICHE LÖSUNGSANSÄHZE

Öcalan-Books.com

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