Entnommen aus der Broschüre: Demokratische Autonomie in Nordkurdistan: Rätebewegung, Geschlechterbefreiung und Ökologie in der Praxis
Im Folgenden soll ein schlaglichtartiger Blick auf die Idee des Demokratischen Konföderalismus geworfen werden. Viele Aspekte werden sich in den Interviews und Artikeln wiederfinden und dort teilweise noch vertieft. Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine theoriekritische Auseinandersetzung mit dem Konzept, sondern darum, die ideologische Ausrichtung zu beschreiben, in deren Rahmen die autonomen Strukturen aufgebaut werden.
Ausgangspunkt für die politische Neuausrichtung war das Scheitern des Realsozialismus und der nationalen Freiheitsbewegungen in Bezug auf das Ziel, eine befreite Gesellschaft zu schaffen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der mit seinem Entwurf zum Demokratischen Konföderalismus die Neuausrichtung der Kurdischen Bewegung maßgeblich mitgestaltete, das Modell einer „demokratischen, ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft“ als Alternative zur Revolution, die auf Umsturz und Machtübernahme abzielt. Die Ansätze des US-amerikanischen Ökoanarchisten Murray Bookchin zur gesellschaftlichen Umgestaltung spielen hierbei eine große Rolle.
Der Paradigmenwechsel beinhaltet eine Abkehr von der Errichtung eines sozialistischen Nationalstaates hin zu einer Gesellschaft, in der ein Zusammenleben jenseits von Verwertbarkeitsdenken, Patriarchat und Rassismus möglich gemacht werden soll – einer „ethischen und politischen Gesellschaft“ mit einer basisdemokratisch selbstverwalteten Struktur, die sich zur entmündigten, homogenisierten Konsumgesellschaft des Kapitalismus abgrenzt. Der Prozess hin zu einer freien Gesellschaft soll von den gesellschaftlichen Gruppen und Individuen selbst gestaltet werden.
Von der nationalen Freiheitsbewegung zum radikalen Antinationalismus
Die kurdische Freiheitsbewegung begann in den 1970er und 1980er Jahren mit einem an die antikolonialen Freiheitsbewegungen angelehnten, marxistisch-leninistisch geprägten Modell eines befreiten sozialistischen kurdischen Nationalstaates als Alternative zum Kapitalismus. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus änderten sich die Perspektiven, dies führte innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung zu einer intensiven Reflexion über die Rolle des Nationalstaates und staatlicher Autorität im Allgemeinen. Die Bewegung begann, den Nationalstaat als ein Konstrukt bürgerlicher Macht im Kontext kapitalistischer Entwicklung abzulehnen und politisch anzugreifen. Der Staat wurde als Ausgangspunkt von Unterdrückungsmechanismen wie Religion, Sexismus, Rassismus und Nationalismus analysiert, welche der Staat benötigt, um sich zu reproduzieren.
Den drei Grundelementen der kapitalistischen Moderne – Kapitalismus, Nationalstaat und Industrialismus – stehen die der demokratischen Moderne gegenüber: die demokratische Nation, die kommunale Ökonomie und die ökologische Industrie. Das Gesellschaftssystem dieser Moderne ist der Demokratische Konföderalismus in Form einer „nichtstaatlichen, politischen Verwaltung“ oder als „Demokratie ohne Staat“, ausgehend davon, dass Demokratie nur dort gedeihen kann, wo der Staat an Einfluss verliert.
Den ersten Schritt beim Aufbau dieser Alternative stellte die Ausrufung der Demokratischen Autonomie1 in Kurdistan am 14. Juli 2011 dar. Im Kern geht es in dieser Phase darum, den Staat dazu zu bewegen, den demokratischen Willen der Bevölkerung, ihr Bedürfnis nach Selbstverwaltung zu respektieren.
Kurdistan ist ein Mosaik bestehend aus armenischen, assyrischen, arabischen, kurdischen, türkischen, tscherkessischen, yezidischen, alevitischen, sunnitisch-muslimischen, jüdischen und christlichen Kulturen. Die Demokratische Autonomie soll den Schutz und die Entfaltung dieser Kulturen gewährleisten. Vorrangiges Ziel der Demokratischen Autonomie ist es, allen gesellschaftlichen Gruppen und Identitäten basisdemokratische Organisierung zu ermöglichen, z. B. in Form von Rätestrukturen in den Stadtteilen oder zivilgesellschaftlicher Organisierung der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen.
„Die Schaffung einer Plattform, auf der alle Arten von sozialen und politischen Gruppen, religiöse Gemeinschaften oder intellektuelle Tendenzen sich selbst direkt in allen lokalen Entscheidungsprozessen ausdrücken können, kann auch als partizipative Demokratie bezeichnet werden.“2
Rätestrukturen beinhalten sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Organisierung. Sie bedeuten eine Abkehr vom staatlichen Zentralismus, da Entscheidungen von der Basis aus getroffen werden. Diese Partizipation führt zu einer Politisierung der Gesellschaft, da jede und jeder zu einem autonomen politischen Akteur bzw. einer politischen Akteurin werden kann. Ziel der Selbstverwaltung ist der kontinuierliche Aufbau von Strukturen jenseits des Kapitalismus, von Strukturen, die sich aktiv gegen Patriarchat, Feudalismus und jede Form von Unterdrückung richten.
„Ökologie und Feminismus sind die zentralen Säulen. Im Rahmen des Aufbaus einer solchen Selbstverwaltung wird auch der Aufbau einer alternativen Ökonomie nötig sein, eine Ökonomie welche die Ressourcen der Gesellschaft vergrößert, statt sie auszubeuten und die den vielfältigen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht.“3
Selbstverteidigung im Demokratischen Konföderalismus
Ein weiteres grundlegendes Element beim Demokratischen Konföderalismus ist die legitime Selbstverteidigung. Sie geht weit über das herkömmliche Verständnis von militärischer Verteidigung hinaus. Aufklärung und Bildung stellen beispielbeispielsweise ein Mittel dar in der Verteidigung gegen mediale und psychologische Kriegsführung oder gegen Angriffe auf die Errungenschaften des Freiheitskampfes und die eigenständige Organisierung der Bevölkerung.
„Gesellschaften ohne Selbstverteidigungsmechanismen verlieren ihre Identität, ihre Fähigkeit demokratische Entscheidungen zu treffen und ihre politische Natur. Daher ist die Selbstverteidigung einer Gesellschaft nicht auf die militärische Dimension alleine zu begrenzen. Sie bedingt auch die Bewahrung ihrer Identität, ihres politischen Bewusstseins und eines Prozesses der Demokratisierung. Nur dann können wir von Selbstverteidigung sprechen.“4
Umsetzung des konföderalen Modells
Der Ansatz des Demokratischen Konföderalismus ist eine permanente soziale Revolution, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen widerspiegelt. Die Überwindung des Nationalstaates ist als langfristige Perspektive vorgesehen. Der Staat wird dadurch überwunden, dass auf allen Ebenen Strukturen zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung geschaffen werden. Weder staatliche noch territoriale Grenzen sollen dabei eine einschränkende Rolle spielen. Dies ist insbesondere für die Lage in Kurdistan entscheidend, da die kurdischen Gebiete zwischen den Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien aufgeteilt sind. Der Demokratische Konföderalismus versteht sich jedoch nicht nur als ein Modell für Kurdistan.
„Obwohl der Fokus des Demokratischen Konföderalismus auf der lokalen Ebene liegt, ist eine globale konföderale Organisierung nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, wir müssen eine Plattform der jeweiligen Zivilgesellschaft der Nationen aufbauen, das heißt eine konföderale Versammlung in Opposition zu den Vereinten Nationen, die nichts weiter als einen Zusammenschluss von Nationalstaaten unter der Führung der Supermächte darstellt. Auf diese Weise ist es möglich bessere Entscheidungen bezüglich Frieden, Ökologie, Gerechtigkeit und Produktivität auf der Welt zu treffen.“5
Die vollständige Broschüre kann hier als pdf heruntergeladen werden oder bei uns gegen 5€ (+Porto) Druckkostenbeitrag als Broschüre bestellt werden. Hierzu einfach per Mail (info@civaka-azad.org) bei uns melden.
Fußnoten
1:Abdullah Öcalan: Democratic Confederalism, London 2011, S. 26 [↩]
2:Ebd.
3:Ebd., S. 28
4:Ebd., S. 31