Entweder Frieden oder Fanon: Die kurdische Freiheitsbewegung und politische Gewalt

özyönetimHarun Ercan, Journalist, Yeni Özgür Politika

Was war der Grund dafür, dass die PKK den bewaffneten Kampf mit der Unterstützung des Volkes fortsetzen konnte? Die Fähigkeit, die sich weltweit verändernden Makrodynamiken zu verstehen und entsprechend flexibel zu agieren, wurde parallel zur Neustrukturierung im ideologischen, militärischen und politischen Bereich entwickelt.

Auch wenn ein Großteil der Öffentlichkeit in der Türkei die Ernsthaftigkeit der Ereignisse noch immer nicht begriffen hat, durchleben wir eine Zeit, in der zwischen der Entstehung einer neuen Gewaltherrschaft und der Wahrscheinlichkeit, diese zu verhindern, gewählt wird. Ein Blick in die Geschichte kann dabei helfen, die Dimension der Lage zu verstehen.

I. Phase: 1959-1989

Auch wenn nicht viel darüber gesprochen wurde, hat die moderne kurdische Bewegung, die in der Türkei und Nordkurdistan entstanden ist, auch eine Geschichte vor ihrem bewaffneten Kampf. Von 1959, dem Jahr, in dem sie in Erscheinung getreten ist, bis 1984, also 25 Jahre lang, ist die dominierende Kampfform nicht der bewaffnete Kampf gewesen. Auch wenn seit Mitte der 1970er Jahre die Kolonialismus-Theorie befürwortet und im Hinblick auf den bewaffneten Kampf entsprechende Organisationen akzeptiert wurden, kann man sagen, dass die Umsetzung faktisch erst mit der Offensive der PKK 1984 erfolgte. Die Frage ist, warum sich die Kurden in einer Phase, welche von den politischen Erfolgen antikolonialistischer und nationaler Befreiungsbewegungen erschüttert wurde, erst nach dem Militärputsch von 1980 gänzlich der Waffe zugewandt haben? Che Guevara hat drei Faktoren benannt, die in einem Land den Erfolg des Guerillakampfes ermöglichen:  erstens, die fehlende Legitimation der das Land regierenden Elite; zweitens, die Existenz von Problemen, welche mit den bestehenden politischen Mechanismen nicht neustrukturiert werden können; drittens, dass sämtliche legalen Wege für eine Änderung des aktuellen Status versperrt sind.

Che zufolge ist unter diesen Bedingungen eine Erfolgsmöglichkeit für den Guerillakrieg gegeben. Diese sei von den militärischen und politischen Kompetenzen der Revolutionären abhängig. Der Hauptgrund, weswegen die kurdische politische Bewegung 25 Jahre lang eine taktische Herangehensweise an den bewaffneten Kampf hatte, ist die repressive Autorität des türkischen Staates und seine Fähigkeit – und des Großteils der Kurden –,mittels Wahlen seine politische Praxis vor den Massen zu legitimieren. Die Tatsache, dass der Staat mit dem 12. September die liberalen demokratischen Mechanismen gänzlich aufgehoben hat, war eine “politische Gelegenheit“ für den Beginn des Guerillakampfes; die praktische Umsetzung dessen erfolgte durch die PKK. Diejenigen kurdischen Organisationen, die dies nicht erkannt hatten oder unvorbereitet waren, verschwanden von der Geschichtsbühne mit dem Gefühl eines Verlierers. Eigentlich waren die auf Gewalt bezogenen Perspektiven der nationalen Befreiungsbewegungen in Zeiten des Kalten Krieges nicht komplex. Gewalt wurde als natürlicher Teil der Entkolonialisierungsphase und als notwendiges Mittel gesehen, welche es anzuwenden galt.

„Die nackte Dekolonisation lässt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen. Denn wenn die letzten die ersten sein sollen, so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammenstoßes der beiden Protagonisten geschehen. Die Entschlossenheit, das Ende zum Anfang zu machen und zu erreichen, dass die eine organisierte Gesellschaft definierenden berühmten Etappen erreicht werden können, kann nur Erfolg haben, wenn alle Möglichkeiten einschließlich Gewalt einbezogen werden“ (Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde).

Die PKK hat sich entsprechend der Perspektive Fanons von 1984 bis in die Mitte der 1990er Jahre organisiert. Fanon definiert Gewalt nicht nur als taktisch-strategisch, sondern auch als existenziell. Wenn man eine Bewertung im Vergleich mit den Schriften der PKK und Öcalans zu dieser Zeit vornimmt, erkennt man, dass die PKK den Gewaltaspekt des Widerstandes als Notwendigkeit für den Wandel von Gesellschaft und Identität sieht. Diese Organisierungsphase ist an einen politischen Wandlungsprozess des Makrokosmos gestoßen, welcher größer ist als die PKK und die Türkei. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion haben zu Zeiten des Kalten Krieges (1945-1991) die Anerkennung von antikolonialistischen Bewegungen im Weltstaatensystem unter der Voraussetzung, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Grenzen erhalten bleiben, unterstützt. Nach Ende des Kalten Krieges hat sich alles geändert; zahlreiche unterdrückte Völker erlangten im Zuge des Kolonialtransfers Staaten. Doch in keinem Fall, bei dem im militärischen, politischen und gesellschaftlichen Bereich das Integrationsniveau zwischen der Kolonialmacht und dem Kolonialland hoch ist (z.B. Großbritannien – Irland), kann davon gesprochen werden, dass die USA und die Sowjetunion diese gleichermaßen unterstützen. Kurz, in der Türkei und in Kurdistan hat die nationale Befreiungsbewegung den Zeitgeist verpasst und in einer Phase, in der eine liberale reformistische politische Linie Erfolgsaussichten hatte, eine revolutionäre Bewegung geschaffen.

II. Phase: 1989-1996

Nach dem Kalten Krieg, bei dem revolutionäre Guerillabewegungen nach und nach von der Landkarte verschwanden, ist der wichtigste Faktor für den Fortbestand der kurdischen Freiheitsbewegung bis in die heutige Zeit ihre Fähigkeit, die sich verändernden Dynamiken in der Welt zu verstehen. Bis auf die FARC und die PKK gibt es keine Guerillakraft, die ihren bewaffneten Kampf mit Unterstützung des Volkes fortsetzen konnte. Wie wurde dies möglich? Es war die Fähigkeit, die Veränderungen des Makrokosmos zu verstehen und entsprechend zu handeln. Das bedeutet, dass die Umstrukturierung im ideologischen, militärischen und politischen Bereich parallel zur dauerhaften Etablierung eines Lern- und Umsetzungsprozesses erfolgte. Dies hat die von der kurdischen Freiheitsbewegung in diversen Bereichen, von der Selbstverteidigung bis hin zur Selbstverwaltung gemachten Schritte geprägt. Über die 1990er Jahre, die Hochzeiten des Krieges zu sprechen, liefert eine ideale historische Epoche, um dieses Argument zu testen, vor allem vor dem Hintergrund, dass die PKK ihre Gewaltpolitik in dieser Phase stets neu definiert hat.

Die kurdische Freiheitsbewegung hat nach wenigen Jahren Anfang der 1990er Jahre von der Gewaltpolitik im Sinne Fanons Abstand gewonnen. Es gibt zahlreiche Beispiele hierfür, angefangen mit den Gewaltaktionen der PKK in den 1990er Jahren, welche sich nicht wie mehrfach in Irland und Algerien geschehen, gegen Zivilisten, sondern in erster Linie gegen Soldaten und Polizisten, also gegen den Gewaltapparat des Staates richteten. Ausgenommen der als „kollaborierende Zivilisten“ bezeichneten gesellschaftlichen Gruppen gab es seitens der PKK keine systematischen Terrorakte; diese Tatsache bildete letztlich den ersten Indikator für den Lernprozess. Ein weiteres Beispiel ist der Fakt, dass die PKK mit zunehmender Unterstützung durch das Volk nicht mehr auf die Taktik, befreite Gebiete zu schaffen, beharrt hat. Es gab in einigen Bezirken wie Lice und Cizre, in denen die PKK den höchsten Zulauf verzeichnete, einige Bestrebungen nach der Schaffung eines befreiten Territoriums. Die Antwort des Staates hierauf war äußerst blutig. Die Entscheidung der PKK für die Selbstverteidigung kann zwar unter dem Aspekt von Rückzug und Schwäche diskutiert werden, ist aber eigentlich ein Schritt, um Massenermordungen zu verhindern. Die PKK hat diese Taktik aufgegeben. Letztes Beispiel ist ihre Haltung gegenüber der Strategie „den Sumpf ausrotten“, die der Staat in den Jahren 1991-95 im Rahmen seines Kriegskonzeptes gefahren ist. Die PKK hat keinerlei Verteidigungsstrategien gegen die Verbrennung der Lebensräume und Dörfer von 2 Millionen Menschen eingesetzt. Das wahrscheinlichste Resultat einer solchen Entscheidung wären Massaker gewesen, die ein Einschreiten der UN erforderlich gemacht hätten. Die Herangehensweise der PKK an die Linie „Gewalt für das Überleben“ ist, wenn auch die 90er Jahre stets als Jahre der Spaltung deklariert sind, die Beschreibung eines langen Kampfes.

III. Phase: 1996-2014

Seit 1996, dem Höhepunkt der militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK, hat sich der Gewaltbegriff der kurdischen Freiheitsbewegung von der Fanon‘schen Linie zu einem instrumentellen Punkt gewandelt. Die Ausweitung ihres Kampfrepertoires und die Einsicht, dass in den sich verändernden globalen Bedingungen die durch Gewalt zu generierenden Errungenschaften eingeschränkt sind, sind primärer Grund hierfür. Ein weiterer Aspekt sind die fehlenden Bedingungen für eine Separierung im Sinne Fanons, und die Einschränkung des Wirkungsradius der kurdischen Bewegung durch die Repressionsmechanismen des türkischen Staates. Insofern basiert das Verhältnis der PKK zu Gewalt in den Jahren 2004 bis 2012 auf einem taktischen Niveau; um den türkischen Staat an den Verhandlungstisch zu holen und die legalen politischen Errungenschaften zu schützen, hat die PKK auf Gewalt verzichtet.

Wie die Phase der Waffenruhe und der 7. Juni gezeigt haben, benötigt die PKK – solange kein Druck von Seiten des türkischen Staates besteht – primär keine Waffen für Errungenschaften. Sie beherrscht die Fähigkeit, auch über legale Kanäle ihre Existenz politisch neu zu produzieren und auszuweiten. Wenn wir die heutigen politischen Entwicklungen vor dem Hintergrund der zuvor gemachten historischen Analyse interpretieren, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, ob es zur Entwicklung einer neuen Herangehensweise an Gewalt als Ausdruck einer vierten Phase kommt. Die Schritte der kurdischen Bewegung in Silvan, Cizre, Varto und Semdinli im Sinne der Selbstverteidigung ähneln denen der Black Panther in den USA-  „zum Schutze der Lebensräume vor der rassistischen Polizei“. Die Black Panthers haben zum Schutz der schwarzen Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen, ausgehend von dem in der Verfassung verankerten Recht „auf persönlichen Waffenbesitz zum Schutze des Besitzes“, die Bewaffnung präferiert und sind bis zu ihrer Extinktion durch den FBI damit eine erfolgreiche Linie gefahren. Die kurdische Bewegung setzt zurzeit auf Selbstverteidigung. In Anlehnung an die Organisierung des Volkes und der Jugend beantwortet sie so die staatliche Gewalt, versucht Festnahmen zu verhindern und zeitweise die staatlichen Sicherheitskräfte in ihren Garnisonen und Stützpunkten zu isolieren. Wenn der Krieg sich mittelfristig ausdehnt, wird es auf einen Bürgerkrieg wie in Syrien und im Irak hinauslaufen. Wenn die politischen Forderungen einer gesellschaftlichen Bewegung, die aktuell von einem Großteil der Kurden unterstützt wird und eine weitere Ausdehnung nicht mehr benötigt, vom Staat keine Berücksichtigung finden, kann dies, besonders vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung der Revolution von Rojava für die Kurden, zum Auslöser für eine Rückkehr zu Fanon werden. Zumal die neue revolutionäre Subjektivität der kurdischen Bewegung sich der Bedeutung des bekannten Satzes von Fanon „die Entkolonialisierung beinhaltet stets Gewalt“, bewusst ist. Einen Krieg, dessen Ausmaß vor dem Hintergrund der Konsequenzen für die Menschen nicht absehbar ist, zu verhindern, kann nur gelingen, wenn auch die türkische Bevölkerung sich dem von Erdogan geführten und sich jeglicher Legitimität entziehenden Krieg entgegenstellt.