Salih Muslim, Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) über das Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens
Der Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) Salih Muslim erläutert das Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens, mit dem die Bevölkerung der Region selbst über ihre Belange entscheiden kann, im Gegensatz zum Greater Middle East Project, bei dem die Interessen der äußeren Mächte im Vordergrund stehen. Die Zusammenfassung eines Gesprächs, dass Devriş Çimen mit ihm führte, geben wir in Auszügen wieder.
Die gegenwärtigen Aufstände in Nordafrika und im Mittleren Osten wurden von Abdullah Öcalan bereits im Jahr 2000 prophezeit. Er sprach damals schon davon, dass sich der Status quo in der Region nicht mehr lange werde halten können und dass uns ein Frühling der Völker bevorstehe.
Dieser Prozess ist in Tunesien, in Ägypten und Libyen ausgebrochen und hält in der gesamten Region weiterhin an. Aber, und diesen Punkt möchte ich unterstreichen, es gibt viele geheime Pläne und Verstrickungen im Hintergrund. Es werden Überlegungen angestellt, wie dieser Frühling aus den Händen der Völker gerissen und für die Zwecke Dritter verwendet werden kann. Eine der Symbolfiguren der Revolution in Tunesien war ein Freund des kurdischen Volkes. Später wurde er hinterrücks ermordet. Aber davor hatte er uns eine Botschaft zukommen lassen. »Schaut, unsere Revolution wurde uns genommen. Achtet darauf, dass Euch nicht dasselbe passieren wird«, waren seine Worte. Die Völker akzeptieren ihre autoritären Regime nicht mehr, fordern die Freiheit, erheben sich. Und dann kommen gewisse äußere Mächte und nutzen dies für ihre Interessen aus. Wir akzeptieren dies nicht. Deswegen stellen wir uns gegen ein Greater Middle East Project (GMEP), das uns diese Mächte aufzwingen wollen. Unser Gegenentwurf lautet »Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens«. Dieses Projekt wird von den Kurdinnen und Kurden angeführt und soll durch die Eigendynamik der Völker dem Mittleren Osten die Demokratie bringen. Das GMEP wurde zuvor in Tunesien, in Libyen und in Ägypten durchgesetzt. Doch in Syrien sind sie vorerst damit gescheitert.
Der Mittlere Osten bebt. Und er bebt heftiger, als er es infolge der Weltkriege getan hat. Damals haben die westlichen Mächte neue Grenzen in der Region gezogen. Das jetzige Beben steht in direkter Beziehung mit dieser Grenzziehung. Aus dem jetzigen Beben werden auch viel tiefer greifende Veränderungen hervorgehen als bei allen vorherigen Erschütterungen in der Region. Der Mittlere Osten wird abermals neugestaltet werden. Dieses Mal allerdings im Sinne demokratischer Prinzipien.
Wie sollen diese Veränderungen aussehen? Wir wollen eine Mentalität in der Gesellschaft erzeugen, die die Verleugnung auch nur der kleinsten Gruppe nicht akzeptiert. Mit dieser Mentalität wollen wir eine offene, pluralistische Gesellschaft aufbauen. Die Kurdinnen und Kurden spielen hierbei eine Vorreiterrolle, weil sie zu den größten Opfern der Verleugnung und Unterdrückung gehört haben. Aber nun haben sie nicht nur all die Regime, von denen sie verleugnet worden sind, aufgedeckt; sie haben gegen diese Regime auch bedeutende Errungenschaften erzielt. Nun wird der Kampf um die Anerkennung dieser Errungenschaften geführt.
Beim Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens geht es nicht darum, neue Grenzen zwischen den Völkern zu ziehen. Es geht darum, dass die Völker und alle anderen Gruppen gleichberechtigt und frei miteinander leben können. Differenzen zwischen den unterschiedlichen Gruppen werden nicht geleugnet, sie werden akzeptiert und ihnen wird die Aufgabe erteilt, ihre Interessen innerhalb dieses Systems selbst zu verwalten, ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Dieses System, das wir in Rojava (Westkurdistan) gegenwärtig umsetzen, nennen wir Demokratische Autonomie. Und wir schlagen allen Völkern in Syrien dieses System vor. Mit diesem System können all die Völker in Syrien, jedes Volk mit seinen eigenen Farben, ein demokratisches Land aufbauen. Und dieses System, die Demokratische Autonomie, ist als Konzept nicht allein auf Syrien zugeschnitten. Wenn die Völker aus der gesamten Region dieses System sich zu eigen machen und ihre Demokratische Autonomie aufbauen, und wenn wir all diese Demokratischen Autonomien vernetzen und miteinander in Verbindung bringen, dann ist unser Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens umgesetzt. Im Kern handelt es sich um dasselbe Konzept, das der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan als Demokratischen Konföderalismus bezeichnet.
Wir glauben nicht, dass dieses Konzept nur eine Traumvorstellung ist. Ganz im Gegenteil, die Situation im Mittleren Osten macht die Umsetzung solch eines Systems unumgänglich. Wir sehen gegenwärtig auch keine anderen Konzepte, die ein friedliches Miteinander der Völker gewährleisten könnten. Die einzige Lösung lautet Demokratie. Nicht die autoritären Herrscher aus künstlich erschaffenen Staaten, die zudem keinerlei demokratische Legitimität genießen, sondern die Menschen aus den Dörfern oder den Stadtteilen selbst müssen die Möglichkeit erhalten, über sich selbst zu entscheiden.
Die Umsetzung eines solchen Systems ist gleichbedeutend mit einer Demokratisierung der Gesellschaft. Wir wollen dieses System im gesamten Mittleren Osten umsetzen, deshalb auch »Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens«.
Mit der Umsetzung dieses Projektes wird sich die Region von Grund auf verändern. Der Mittlere Osten wird kein Gebiet mehr sein, das sich ausschließlich um die Interessen des Mannes dreht. Der Mittlere Osten wird auch kein Gebiet mehr sein, in den autoritäre Staaten das Sagen haben. Das Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens bedeutet eine radikale und vollständige Demokratie. In solch einem Mittleren Osten werden sich ökologische Gruppen frei organisieren und entfalten können. In solch einem Mittleren Osten wird sich die Frauenorganisierung weiterentwickeln, und im selben Atemzug werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern abgebaut. In solch einem Mittleren Osten werden die unterschiedlichen Sprachen, die Kunst, die Musik, die Tänze, kurz der gesamte Reichtum der Region aus der Versenkung erneut an das Tageslicht und zum Blühen gebracht. Zudem wird eine demokratische Kultur aufgebaut und gepflegt. Volkshäuser, in denen die Bevölkerung zusammenkommen und debattieren kann, Bildungshäuser, in denen die Bevölkerung lernen und lehren kann, unterschiedlichste Vereine, in denen die Bevölkerung sich im Sinne ihrer Interessen organisieren kann, Stiftungen, durch welche die Bevölkerung materielle Unterstützung für die unterschiedlichsten Projekte erhalten kann, all diese Institutionen und viele weitere sind Teil unserer Vorstellung eines Demokratischen Mittleren Ostens.
Die Reichtümer der Natur, die Bodenschätze unserer Region sollen, ohne die Bevölkerung oder die Natur auszubeuten, im Gleichgewicht von Natur und Mensch abgebaut werden. Die Verwaltungsstrukturen sollen nicht zentralistisch, sondern lokal, durch demokratische Partizipation der Bevölkerung in Rätestrukturen in Stadt und Dorf aufgebaut werden.
Mit diesem System soll vorgebeugt werden, dass nicht die Zentralregierung die Gesellschaft nach ihren Interessen formt. Stattdessen sollen Strukturen geschaffen werden, die im Sinne der Bevölkerung sind. Und was im Sinne der Bevölkerung ist, das weiß eben nur die Bevölkerung selbst. Deswegen wollen wir, dass die Entscheidungsbefugnisse im Lokalen, in der Bevölkerung selbst verortet werden.
Mit dem Projekt des Demokratischen Mittleren Ostens wird sich in der Bevölkerung ein Bewusstsein gegen die neoliberale Politik, gegen eine ausartende Industrialisierung und einen unbegrenzten Monopolkapitalismus entwickeln. Die Bevölkerung wird sich gegen die kapitalistische Ausbeutung in Kooperativen organisieren, die nicht nach dem Gesetz der Profitmaximierung agieren.
Mit diesem Projekt wird sich der Mittlere Osten aus den Fängen der internationalen Mächte, die die Region weiter ausbeuten wollen, befreien. Die Befreiung des Mittleren Ostens liegt also nicht im sogenannten Greater Middle East Project, das außerhalb der Region für fremde Interessen entwickelt wurde, sondern schlichtweg in einer umfassenden Demokratisierung, die sich aus der Region heraus selbst entwickelt.
Aus dem Kurdistan Report Nr. 168 entnommen