Für alle, die eine andere Welt für möglich halten

sebahat tuncelDemokratische Autonomie als antikapitalistische Perspektive
Sebahat Tuncel, BDP-Abgeordnete im türkischen Parlament, Istanbul

Wie Sie wissen, hat die kurdische Frage eine beinahe 200-jährige Geschichte im Nahen/Mittleren Osten. Die KurdInnen spielten im sogenannten „Befreiungskampf“ der Türkei eine wichtige Rolle, weswegen die Verfassung von 1921 diesen Umstand entsprechend mit Vorsicht behandelte. Diese „Vorsicht“ hielt jedoch nicht lange an: Mit der neuen türkischen Verfassung von 1924 wurden alle nicht-türkischen Kulturen, Identitäten, allen voran die KurdInnen, verleugnet. Durch die verfassungsmäßige Legitimation konnte die offizielle türkische Staatsdoktrin, die die Assimilation beinhaltet, widergespiegelt werden; und wenn Assimilation nicht verwirklicht werden konnte, drohte die Vernichtung. Die Praxis einer solchen Doktrin führte in der Türkei zu großen Tragödien und viel Leid.

Die Massaker von Dersim, Zilan, Maras, um nur einige zu nennen, die die ersichtliche physische Vernichtung der Aleviten bezweckten, lassen sich heute offiziell auf die aktive Initiative des Staates zurückführen und sind hinreichend bekannt geworden. Die Türkei, die im Namen der türkischen Nation die ganze Vielfältigkeit und die Identitäten verleugnete, hat schon drei Militärputsche hinter sich gebracht und anschließend eine Verfassung etabliert, die unter dem Schutz der Militärdiktatur die Freiheits-, Menschen- und Demokratierechte entwertete. Natürlich haben die KurdInnen gegen dieses diktatorische Prinzip immer wieder protestiert und Widerstand geleistet, was auf blutigste Weise bekämpft wurde.

Als aufschlussreichstes Beispiel dient hier Dersim. Nach offiziellen staatlichen Angaben gab es 28 kurdische Aufstände, die alle niedergeschlagen wurden.
Mit der PKK haben die KurdInnen sich einmal mehr gegen die Assimilationspolitik der Türkei gewandt. Weil der Staat versucht, sie stets als terroristisch abzustempeln, da sie sich für die Freiheit des kurdischen Volkes einsetzt, sich für dessen Gleichberechtigung, Demokratie, Friedensvorschläge einbringt, musste das ca. 50?000 Menschen das Leben kosten. Dieses große Trugbild [der Terrorgefahr] wird auf der ganzen Welt als Waffe gegen die Menschen gerichtet, die sich für Gleichberechtigung und Freiheit einsetzen. So kann auch die Türkei gern Termini, wie z.?B. terroristisch, nach Belieben nutzen. Schließlich sind die USA und die EU dabei federführend. Es muss aber hinzugefügt werden, dass diese Bündnisse miterlebt haben, wie Widerstand auch zum Sieg führen kann. Das kurdische Volk wird auch entsprechend seinen berechtigten und legitimen Kampf für Demokratie und eine friedliche Lösung bestehen.

Die Gründung der türkischen Republik zog durch die häufigen Vernichtungs- und Unterdrückungspraktiken immer mehr Widerstand, immer mehr Aufstände nach sich.
Solange die Forderungen des kurdischen Volkes nicht beachtet werden, so lange wird es Widerstand geben. Die Verleugnungspolitik der Türkei sowie ihre Umsetzung durch Vernichtung und Assimilation blieben erfolglos. Daran hatte, nicht zuletzt, der 30-jährige Kampf der Bewegung großen Anteil. Heutzutage thematisieren die türkischen Medien die Gleichberechtigungs- und Freiheitsforderungen der KurdInnen viel offener und nehmen sie entsprechend ernst. Die Änderung der Verfassung durch das Referendum am 12.09.2010 beweist dies. Die Türkei hat lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder entspricht sie den Forderungen der KurdInnen mit ihrer Verankerung in der Verfassung und geht somit einen weiteren Schritt in Richtung friedlicher Lösung ODER die Kriegssituation bleibt bestehen, was wiederum zu sich ausweitenden Gefechten und Chaos führen wird. Für eine Entscheidung bedarf es politischer Entschlossenheit. Jedoch hat die AKP bis jetzt keine Lösungsansätze wagen wollen; im Gegenteil, sie hat die Forderungen nach einer demokratischen Verfassung beiseitegewischt und dadurch die Hoffnungen auf Änderung erstickt. Die KurdInnen haben einen starken Willen. Sie nutzen die Zeit bis zu den kommenden Wahlen und nehmen den damit einhergehenden einseitigen Waffenstillstand wahr.

In den letzten 30 Jahren hat die Welt viele Veränderungen erlebt. Sie wandelte sich von einem bipolaren zu einem multipolaren System. So kam der Demokratie, aufgrund verschiedenster Kulturen, eine wachsende Bedeutung zu.
Außerdem grübeln die Staaten der Welt über eine mögliche Lösung der aktuellen Finanzkrise wie auch der Klimaveränderung. Die veränderten Verhältnisse regen einen neuen Diskurs an, der die europäischen Demokratien hinterfragt und ihre Widersprüche wie auch Probleme analysiert. Die kurdische Bewegung, die sich zum 21. Jahrhundert neu formierte, hat eine geeignete ideologische Perspektive für die Lösung der kurdischen Frage als auch zur Überwindung der kapitalistischen Modernität vorlegen können. Sie versteht den Staat als einen eklatanten Widerspruch zu Gleichberechtigung und Freiheit, die sie zu ihren Grundprinzipien zählt. Mit Hilfe seiner Bürokratie bringt der Staat nämlich überall, wo er besteht, Unterdrückung, Herrschaft und Unterwerfung mit sich, die die jeweilige Gesellschaft niederzuringen suchen. Die neue Linie der kurdischen Bewegung beinhaltet die Erkenntnis, dass durch einen Staat keine Lösungen erzielt werden können und dass dieser durch die Gesellschaft, die das Leben dann gestalten wird, ersetzt werden muss.
Zwar hatte die Bewegung ehemals das Ziel eines unabhängigen und vereinten kurdischen Staates, erkannte aber nach ihrer politischen Neuausrichtung den Staat, als Konstruktion der kapitalistischen Modernität, als Kern allen Übels, der alles Demokratische bekämpft und Konflikte unter den Menschen schafft. Stattdessen fordert die Bewegung eine demokratische Gesellschaft, die nach Lösungsansätzen sucht. Dieses Modell soll jedoch nicht nur für KurdInnen oder Kurdistan gelten, sondern bietet eine Perspektive für die ganze Menschheit. In diesem Sinne ist die Lösung der kurdischen Frage nicht lediglich mit der Überwindung des bewaffneten Konflikts gewährleistet. Parallel dazu muss als Antwort gegen kapitalistische Modernität und Staatsdenken eine demokratische Modernität entwickelt werden können. Zusammengefasst: Die Lösung der kurdischen Freiheitsfrage im Einheitsstaat Türkei ist nur durch die verfassungsmäßige Etablierung der Forderungen des kurdischen Volkes gewährleistet, die auch der religiösen, kulturellen Vielfältigkeit zugute kommen muss.
Im Zusammenhang mit den Diskussionen zur Lösung der kurdischen Frage werden die Erfahrungen anderer Länder auf der Welt ausgetauscht, die vergleichbare Situationen hatten oder haben. Als gemeinsame Erkenntnis bleibt festzustellen, dass nur Dialog und Verhandlungen Konflikte lösen können. In einer Verhandlungsphase muss es die beidseitige Bereitschaft zur Lösung des Konflikts und die Annäherung an gemeinsame Standpunkte geben, womit also das gemeinsame Streben nach Frieden als höchste Priorität betrachtet wird.
So gewinnt das Konzept der kurdischen Forderung immer mehr an Bedeutung, was aber natürlich nicht bedeutet, dass die Konfliktlösungen anderer Länder gänzlich mit der Lösung der kurdischen Freiheitsproblematik gleichgesetzt werden können.
Die Lösung soll nicht allein die Beendigung des bewaffneten Kampfes realisieren, sondern auch gleich eine progressive, demokratische Gesellschaft befördern, die die Auffassung des Modells der „Demokratischen Autonomie“ für den gesamten Nahen/Mittleren Osten begründen kann. Denn der Grundsatz der Demokratischen Autonomie beinhaltet zudem ja Gleichberechtigung und Freiheit, was nicht nur für ein Volk, eine Religion, ein Geschlecht gilt. Das Konzept soll in der Lage sein, alle gesellschaftlichen Bereiche anzusprechen, worin sich Glaubensrichtungen, Demokratie, Ökologie sowie gleichberechtigte Geschlechterverhältnisse widerspiegeln können. Es beinhaltet außerdem die Selbstorganisierung der Dorfkomitees, Stadträte, Frauen- und Jugendräte, Bildungsinstitutionen usw., die sich auf eine direkte demokratische Basis stützen. Mit dem Aufbau von Kommunalparlamenten können Fragen des kommunalen Bildungs- und Gesundheitswesens, des Sports und der Ökonomie vor Ort geregelt werden.
Belange der Außenpolitik, der inneren Sicherheit u.?Ä. sollen regional gelöst werden können. Die Sicherheit sollte, nach spanischem Beispiel, zentral UND kommunal eigene Kräfte bilden können, die auch zusammenarbeiten müssen. Fragen der äußeren Sicherheit liegen weiterhin in der Kompetenz der Zentralregierung. Natürlich sind das alles Punkte weiterer Diskussionen.

Es ist eine neue Methode politischen Handelns. Statt der zentralen Autorität soll sich die Bevölkerung auf ihrer eigenen kommunalen Ebene selbst leiten. Dafür ist die Türkei mit ihrer Politik und Verwaltung auf dem Weg in eine Reform. Auch wenn dieses Lösungskonzept der Türkei zuerst angeboten wird, so ist es für Kurdistan essentiell, um den Krieg zu überwinden. Es kann sich zu einer Beispiellösung entwickeln. Die KurdInnen haben ihre Forderungen des Öfteren an die Türkei gerichtet, die aber hat das politische Projekt stets ignoriert. In naher Zukunft wird sich die Herangehensweise des Staates an die Lösungsvorschläge dennoch konkretisieren.

Als Letztes soll betont sein, dass das Projekt der Demokratischen Autonomie nicht nur die kurdische Frage lösen wird, sondern auch eine neue, alternative Perspektive gegen die kapitalistische Modernität und das zugehörige Staatsverständnis eröffnen kann. Es wird sich zeigen, dass die Emanzipation der Geschlechter, die Zusammenführung der Vielfalt in eine demokratische Gesellschaft – in eine Konstellation von Gleichberechtigung und Freiheit – ein ökologisches und demokratisches Gesellschaftsmodell möglich machen. Das ist ebenso für andere antikapitalistische Bewegungen äußerst interessant. Die Alternative zur kapitalistischen Modernität mit ihren Widersprüchen und Konflikten ist die demokratische Modernität. Für alle, die eine andere Welt für möglich halten, wird dies relevant werden.

Kurdistan Report Nr. 153 Januar/Februar 2011

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