„Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“

Staat Gewalt und macht-Abdullah ÖcalanDas jüngst auf Deutsch erschienene Werk von Abdullah Öcalan
Rezension von Elmar Millich

Das leider jetzt erst ins Deutsche übersetzte Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ erschien im Original 2004 in einer Zeit der bisher größten Umbrüche in der kurdischen Befreiungsbewegung. Nach der Aufgabe des bisherigen Selbstverständnisses der PKK als marxistisch-leninistische Kaderpartei fanden intensivste Diskussionen über einen demokratischen ideologischen und organisatorischen Neuaufbau statt, die dann zur Gründung des KONRGA-GEL als Prinzip einer basisdemokratischen Rätestruktur führten. Die Eingabe von Öcalan [an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte] hatte auf diese Entwicklung maßgeblichen Einfluss.

Als roter Faden durch die verschiedenen Kapitel des Buchs zieht sich eine konsequent antietatistische Position, die den Staat nicht als Lösung, sondern als Quelle allen Übels sieht. Wie schon in Öcalans vorher erschienenem Buch „Gilgameschs Erben“ wird in einer historischen Analyse der Übergang von der matriarchalischen neolithischen Gesellschaft zum sumerischen Priesterstaat als „Modell“ aller Staats- und Klassenbildungen untersucht, an dessen Anfang die Unterdrückung der Frau stand. Nachdem der Staat einmal als Institution geschaffen war, gelang es ihm laut Öcalan durch alle geschichtlichen Epochen hindurch, progressive soziale Strömungen wie etwa das Chris­tentum und die sozialistische Arbeiterbewegung zu neutralisieren, indem diese nach revolutionären Umbrüchen ebenfalls zur „Staatsideologie“ erklärt wurden und ihr reaktionäres Potential entfalteten.
Über „Gilgameschs Erben“ hinausführend ist in dem Buch das Postulat einer Rückerinnerung an die natürliche Gesellschaft enthalten, in der die Menschheit den größten Teil ihrer Ent­wick­lungsgeschichte in Form von Clans lebte und kommunale Werte teilte. Auf diese Rückerinnerung in der Form eines „kollektiven Unterbewusstseins“ im Sinne C. G Jungs baut Öcalan eine zweite Dialektik der Widerständigkeit auf, die sich im Lauf der Geschichte gegen die Allmachtsansprüche des Staats zur Wehr setzt, sei es im Rückzug auf mittelalterliche kommunale Klostergemeinschaften oder in der Form nicht integrierbarer Nomadenvölker. Der ökonomisch ausgerichteten materiellen Sichtweise des historisch-dialektischen Materialismus erteilt Öcalan eine Abfuhr, indem er den ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen den gleichen Wert beimisst und Zwangsläufigkeiten in der geschichtlichen Entwick­lung verneint.
In seiner sowohl historischen als auch aktuellen Analyse der Situation des Mittleren Ostens führt Öcalan die aktuelle Rück­ständigkeit der Region auf zwei Faktoren zurück: Zum einen die im Vergleich zu Europa nicht erfolgten Perioden der Renaissance und der Aufklärung, was zu einem vom Islam geprägten Verharren im Fatalismus führte. Zum anderen macht Öcalan aber auch die im Mittleren Osten, da dort historisch entwickelt, besonders stark ausgeprägte Rückerinnerung an kommunale Werte verantwortlich. Dies führt dazu, dass die Bevölkerung nach wie vor mehr auf „organische“ Zusammenhänge wie Ethnien und Familienclans setzt und für westliche Ideen von Staat und Individuum als Voraussetzung kapitalistischer Durchdringung nur schwer zugänglich ist.
Die aktuelle Bewertung der Situation und Entwicklung der Region muss mittlerweile sechs Jahre nach Erscheinen des Buchs als überholt gelten. Im Nachklang der durch die US-amerikanische Intervention im Irak erreichten relativen Unabhängigkeit der Kurden im Nordirak glaubten viele, dass nun wieder in einer Art geschichtlichen Zwangsläufigkeit die kurdische Frage im Rahmen des „Greater Middle East Project“ der USA auf der Tagesordnung stünde. Die Voraussage, dass sich die auf dem „Status quo“ beharrenden Nationalstaaten – insbesondere die Türkei, der Irak und Syrien – auf Druck der USA demokratisieren müssten, erwies sich in dieser Form als Wunschdenken. Diese Lektion hat die kurdische Bewegung mittlerweile gelernt und vertraut wieder mehr auf ihre eigene Stärke und Initiative.
Das Kapitel speziell über die kurdische Frage im Mittleren Osten dient hauptsächlich dem Brückenbau zur türkischen Gesellschaft. Auch wenn die Ideologie der PKK nie von rassis­tischem Hass auf „die Türken“ geprägt war, ist es Öcalan wichtig, anhand der Entstehungsgeschichte der türkischen Republik und der Einstellung Mustafa Kemals aufzuzeigen, dass es keine unüberbrückbaren Gegensätze dafür gibt, dass Kurden und Türken in einem gemeinsamen Staat leben, insofern sich dieser umfassend demokratisiert.
Im letzten Kapitel, das als „Selbstkritik der PKK“ überschrieben ist, geht es im Wesentlichen um zwei Aspekte: Zum einen wird schon wie in „Gilgameschs Erben“ ein „Bandentum“ innerhalb der PKK anfangs der 90er Jahre in Form sich verselbstständigender Guerillakommandeure für Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung und stalinistische Liquidationen innerhalb der eigenen Reihen verantwortlich gemacht. Wohltuend ist, dass Öcalan in seinem neuen Buch hierfür mehr Mitverantwortung übernimmt als in seinen vorherigen Ausführungen.
Grundsätzlicher ist aber die ideologische Kritik am damaligen Selbstverständnis der PKK als marxistisch-leninistische Kaderpartei. Analog zu anderen nationalen Befreiungsbewegungen wurde der Kampf um die „Macht“ absolut gesetzt. Dies führte zu mehr oder weniger rein militärischen Konzepten, während der Bezug auf die kurdische Zivilbevölkerung und der Aufbau demokratischer Strukturen und Widerstandsformen kaum auf der Tagesordnung standen.

Perspektiven
Für die europäische Linke möglicherweise interessanter als die bisher vorgestellten Analysen sind die von Öcalan in diesem Buch entwickelten Zukunftsvorstellungen. Grundlage bildet ein radikaler Demokratiebegriff, der sich nicht wie bei den westlichen Staaten auf Wahlen repräsentativer Vertreter beschränkt, sondern über ein basisdemokratisches Rätesystem eine ständige Mitwirkung der Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen auch in ökonomischer Hinsicht sicherstellt. Ebenso wichtig ist es Öcalan, dass die Menschheit wieder ein spirituelles Naturverständnis entwickelt, das der Ausbeutung von Natur und Menschen entgegensteht. Die größte Hoffnung für diese Umsetzungen sieht Öcalan in der Befreiung der Frau, die diese Werte nach seinen Vorstellungen trotz Jahrtausende währender Deformation noch verinnerlicht hat.

Bei der Beurteilung von Öcalans Vorstellungen ist es wichtig, sie nicht als alleinstehende Theorie, sondern in ihrer Auswirkung auf die realen Umsetzungen in der kurdischen Gesellschaft zu bewerten, aber auch ihre Übertragbarkeit aufgrund europäischer Erfahrungen zu hinterfragen. Mit ihrer Abkehr von einem kurdischen Nationalstaat und mit einer generell antistaatlichen Haltung hat die kurdische Bewegung mittlerweile Anschluss an die weltweite Antiglobalisierungsbewegung gefunden. Öcalan selbst bezieht sich auf die Bewegung der Weltsozialforen und fordert eine „supranationale Haltung“ anstatt „internationaler Solidarität früherer Zeiten“. Die im Folgenden aufgeworfenen exemplarischen Fragestellungen sind daher weniger als Kritik an Öcalans Konzepten zu verstehen, sondern als Herausforderungen an die gesamte weltweite linke Bewegung und daher auch mehr thesenartig:

– Auch wenn Öcalan zuzustimmen ist, dass mit der Gründung eines Nationalstaats allein kein emanzipatorischer Wert verbunden ist, zeigt die Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass Revolutionen, wenn sie nicht staatlich und militärisch abgesichert waren, von der Bourgeoisie binnen kurzer Zeit zu Fall gebracht wurden und die blutigsten Massaker folgten. Als Beispiel seien hier die deutsche Novemberrevolution 1918 und der Militärputsch in Chile von 1973 genannt. Besteht die berechtigte Hoffnung, dass durch die Globalisierung die internationale Gemeinschaft solche Massaker im 21. Jahrhundert nicht mehr zulässt? Wie können lokale Emanzipationsfortschritte global abgesichert werden? Ist das Konzept der Selbstverteidigung und des Schutzes der Bevölkerung, wie es von der kurdischen Guerilla praktiziert wird, tragfähig und übertragbar?

– Ist das Nebeneinander von staatlichen und rätedemokratischen Strukturen, wie es Öcalan vorschwebt, realistisch? Die gesamte europäische Staatstheorie, von Hobbes angefangen, beruht auf dem unteilbaren Gewaltmonopol des Staates. Gerade deshalb werden ja aktuell die KCK-Strukturen als demokratische Selbstorganisierung vom türkischen Staat massiv angegriffen. Auch in den westlichen Demokratien wird die Zivilgesellschaft nur so lange hochgehalten, wie sie ehrenamtlich den sozialpolitischen Ausputzer des kapitalistischen Systems spielt. Stellt sie sich gegen staatliche und unternehmerische Entscheidungen, kommt wie aktuell bei Stuttgart 21 schnell der Polizeiknüppel. Sind Elemente direkter Demokratie wie Volksentscheide und „Bürgerhaushalte“ Schritte auf dem Weg zum Ziel oder Beruhigungspillen, um radikalen Widerstand zu kanalisieren?

– Spannend ist auch die Dialektik von Individualismus und Kollektivismus. Öcalan attestiert den Menschen im Mittleren Osten einen Mangel an Individualismus und Selbstverantwortung, während der kapitalistische Westen an einer Überindividualisierung leide und emotional verarme. Wichtig ist hier auch die materielle Analyse. Die Sozialgesetzgebung Bismarcks hat erst den von der Familienstruktur einigermaßen ökonomisch unabhängigen „Staatsbürger“ geschaffen. Die aufgrund der 68er-Bewegung in Deutschland erfolgte notwendige Änderung des Scheidungsrechts zugunsten der Frauen hat die Auflösung von Familienstrukturen und die Individualisierung befördert – mag man das als Feministin begrüßen oder als Katholik bejammern. Wie löst die kurdische Bewegung aktuell diesen Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Geborgenheit und Freiheit?

– Unzureichend bleibt die Analyse Öcalans über den Realsozialismus. Er übernimmt hier den totalitarismus-theoretischen Ansatz und nimmt die unbestreitbare Unterdrückung des Individuums durch den Staat als alleinigen Gegenstand der Betrachtung. In seinen im vorliegenden Buch geäußerten ökonomischen Vorstellungen fordert Öcalan, bei der Produktion den Gebrauchswert und nicht den Tauschwert der Produkte in den Vordergrund zu stellen. Eben dies machte den zentralen Unterschied zwischen kapitalistischer und realsozialistischer Produktionsweise aus. Ohne eine ökonomische Analyse des Realsozialismus wird in Europa eine breitere Gesellschaft kaum für antikapitalistische Projekte zu gewinnen sein. Wie kann eine antikapitalistische, ökologische Ökonomie in den hochtechnisierten europäischen Ländern aussehen jenseits von VEB und Landkommune?

Wer die kurdischen Gebiete besucht, ist immer wieder erstaunt, mit welcher Kraft und mit welchem Optimismus die Gesellschaft versucht, die von Öcalan entwickelte Theorie in all ihren Aspekten über Außenpolitik, Demokratie, Frauenbefreiung und Kultur umzusetzen. In einem Umfeld, das fast vollständig zwischen islamischem Fundamentalismus und imperialistischer Abhängigkeit zerrieben wird, bilden Öcalans Ideen ein Fundament, auf dem die kurdische Gesellschaft gegen alle Widerstände versucht, ein emanzipatorisches Projekt aufzubauen. Wer diesen Optimismus verstehen will, sollte vor den 600 Seiten nicht zurückschrecken und Öcalans Buch lesen.

Kurdistan Report Nr. 152 November/Dezember 2010

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