M. Miraz Çalli, Rechtsanwalt und Rechtsberater der BDP-Fraktion
Die Türkei wird nun schon seit über dreißig Jahren mit der von der Militärjunta des Putsches vom 12. September 1980 geschriebenen Verfassung regiert. Diese Verfassung beschneidet alle Grundfreiheiten, terrorisiert alle gesellschaftlichen Schichten mit der Abschaffung des Versammlungsrechts. Mit ihrer monistischen, militaristischen, zentralistischen Doktrin und den von ihr entsprechend geschaffenen Institutionen für militärische Bevormundung übernimmt sie die Aufgabe eines Wachhundes über Parlament und Bevölkerung. Die Einigung aller betreffenden Kreise über die Schaffung einer neuen Verfassung wurde erst nach etlichen Parteischließungen, Ausnahmezuständen, einem erneuten Putsch und dem Überleben unzähliger Rechtsverstöße erreicht.
Nahezu alle Parteien hatten das starke Verlangen der Gesellschaft nach einer neuen demokratischen Verfassung erkannt und gingen mit entsprechenden Versprechen in den Wahlkampf für die Parlamentswahlen am 12. Juli 2011. Anschließend hat im Oktober 2011 der Vermittlungsausschuss für die neue Verfassung, der aus jeweils drei Parlamentariern jeder Partei besteht, seine Arbeit aufgenommen. Von ihm wurde erwartet, dass er seine Arbeit im Dezember 2012 abschließt und einen Verfassungsentwurf vorlegt. Vor der Zusammensetzung des Ausschusses waren die Erwartungen und Vorschläge der Öffentlichkeit zum Thema neue Verfassung zurate gezogen worden. Leider schenkten aber die politischen Parteien während der Verschriftlichung des Verfassungsentwurfs diesen Vorschlägen und Anregungen keine Beachtung. Themen, die sich auf die Lösung der kurdischen Frage beziehen, wie Sprachenrechte, Definition der Staatsbürgerschaft, Religions- und Gewissensfreiheit, fanden in den Artikeln keinen Platz, obwohl es in der Gesellschaft gerade für diese Themen außerordentliche Unterstützung gegeben hatte.
Nachdem der Ausschuss seine Arbeit aufgenommen hatte, passierte genau das, was alle nicht gewünscht, jedoch befürchtet hatten – die zugebilligte Zeit lief ab und es standen weder ein Entwurf noch nennenswerte Artikel zur Verfügung, auf die sich geeinigt worden wäre. Daraufhin wurde dem Ausschuss mehr Zeit zugestanden und seine Arbeitsweise geändert. Nicht viel später folgten erneute Änderungen und eine weitere Fristverlängerung. Schließlich wurde sich im Ergebnis auf ca. fünfzig Artikel geeinigt, die die allgemeinen Grundsätze enthalten wie »Alle sind gleich« oder »Niemand wird diskriminiert«. Die Parteien strengen sich nicht wirklich an, um Kompromisse zu erzielen, sind sich jedoch dessen bewusst, dass der Gesellschaft sehr viel an der neuen Verfassung liegt und dass ihnen, falls sie die Verhandlungen abbrechen, die politischen Konsequenzen dafür aufgebürdet werden. Warum werden dann aber bei der Vorbereitung der von der Gesellschaft so begehrten Verfassung keine Fortschritte erzielt? Ich glaube, um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die Vorstellungen der einzelnen Parteien zu betrachten.
Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist nicht besonders bemüht um die neue Verfassung. Sie ist der Ansicht, die militaristische Verfassung vom 12. September könne mit einigen Änderungen die gesellschaftlichen Bedürfnisse erfüllen. Sie ist die Partei, die bei bestimmten Artikeln den stärksten Widerstand zeigt. Sie hat sich der Unabhängigkeit und Einheit der »großen türkischen Nation« verpflichtet. Der Grund für ihre Teilnahme am Vermittlungsausschuss ist nicht, irgendwelche Vorschläge zu machen, sondern vielmehr, »Gefahren« zu verhindern. Sie versucht einerseits, die Vorschläge der BDP des muttersprachlichen Unterrichts, der Gleichberechtigung und der Stärkung der Kommunalverwaltungen zu verhindern, und andererseits, die neue Verfassung nach dem Prinzip »eine Sprache, eine Nation« zu gestalten.
Die Republikanische Volkspartei (CHP) wird in der Öffentlichkeit des Öfteren mit internen Streitigkeiten wahrgenommen. Ihre Ausschussmitglieder sind sich untereinander nicht über einen Entwurf einig und es sieht nicht danach aus, als ob sie das noch werden würden. Sie gründet ihre Politik darauf, einfach gegen alles zu sein, was die AKP macht. Der Machtkampf zwischen den kemalistischen Nationalisten und den wenigen Sozialdemokraten innerhalb der CHP geht am Ende immer zugunsten der Ersteren aus. Zuletzt gingen die Meinungen der CHP-Ausschussmitglieder am Vorschlag der BDP auseinander, auch andere Sprachen als die türkische als Bildungssprache anzuerkennen. Letztendlich musste der CHP-Parteivorstand darüber entscheiden. Hier wandte man sich gegen muttersprachlichen Unterricht in anderen Sprachen als Türkisch, es wurde jedoch das Recht jedes Einzelnen anerkannt, seine Muttersprache lernen zu dürfen. Das von der CHP veröffentlichte »Demokratisierungspaket« enthielt das Versprechen, den Forderungen der Kurden nach muttersprachlichem Unterricht in Form von Wahlfächern zu entsprechen. Man kann sagen, sie bezieht eine Position, die für die Aufrechterhaltung des Grundgerüstes der 12.-September-Verfassung eintritt. So ist sie mit der MHP zusammen der Ansicht, die unabänderlichen Vorschriften [die ersten drei Artikel] unterlägen einer Ewigkeitsgarantie und dürften deshalb nicht verändert werden. Sie geht noch weiter und behauptet, der Vermittlungsausschuss habe kein Recht, über diese Artikel, die den Atatürk-Nationalismus, die türkische Sprache, die Landesflagge und die Nationalhymne enthalten, überhaupt zu verhandeln. Sie ist der Meinung, der Vermittlungsausschuss habe lediglich sekundäre Rechte und deshalb nur unterstützende Funktion und dürfe sich nicht anmaßen, die Gründungsväter zu übergehen. Kurz zusammengefasst: Sie hält den Nationalen Sicherheitsrat, der die Verfassung von 1982 schrieb, für berechtigt und nicht den Willen von vier Parteien, die zusammen eine 96-prozentige demokratische Legitimation besitzen und sich zusammengesetzt haben, um eine zivile Verfassung zu entwerfen. In dem von der CHP eingebrachten Entwurf ist die Systematik der Verfassungen von 1982 und 1961 klar zu erkennen.
Einer der Kernpunkte, gegen die sich die CHP wendet, ist das von der AKP vorgeschlagene Präsidialsystem. Sie will auch nicht über von der AKP vorgeschlagene Artikel verhandeln, während diese Pläne für die Staatspräsidentenwahl im Jahre 2015 im Präsidialsystem schmiedet. Aus diesem Grunde kann momentan auch nicht über mehr als dreißig von der AKP selbst vorgebrachte Artikel für die Kategorie Exekutive verhandelt werden.
Die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) verfügt über die meisten Sitze im Parlament und regiert allein mit absoluter Mehrheit. Sie hat als letzte ihre Ansichten zur neuen Verfassung mitgeteilt. Als die Veröffentlichungsfrist für die Entwürfe ablief, sah man, welches Kaninchen da aus dem Hut gezaubert wurde: das Präsidialsystem. Die AKP plant, Erdogan im Jahre 2015 nach Çankaya zu schicken, den Präsidentensitz in Ankara. Sie hat ihren Entwurf auch dahin gehend formuliert. Im Gegensatz zum Präsidialsystem der USA, wo die Meinungsfreiheit eine totalitäre Regierung verhindert, es einen Kongress gibt und ein etabliertes Zweiparteiensystem, gerät das von der AKP vorgeschlagene Präsidialsystem nach wahrlich »türkischer Art«. Dieses Modell, das die meisten Exekutivfunktionen beim Präsidenten vereinigt, kritische Institutionen wie die Berufung von Verfassungsrichtern oder die Besetzung des HSYK (Hohes Komitee der Richter und Staatsanwälte) in seine Hände legt, hat in der Gesellschaft zu heftigen Diskussionen geführt. Denn eine der Hauptforderungen bei der Schaffung einer neuen Verfassung war es, die dem Staatspräsidenten im Rahmen des Militärputsches vom 12. September zuerkannten überragenden Rechte neu zu regulieren und zu beschränken. Stattdessen übertriebenen Rechten und Kompetenzen neue hinzuzufügen und einen Superpräsidenten zu schaffen, erscheint inakzeptabel. Der Vorschlag der Regierung, im Rahmen des Präsidialsystems auch das Wahlsystem auf kleinere Wahlkreise zuzuschneiden, zielt darauf ab, die Repräsentanz der Kurden im Parlament noch weiter einzudämmen, und verdeutlicht ihre Sichtweise auf den Friedensprozess.
Obwohl geraume Zeit verstrichen ist, seitdem Abdullah Öcalan den Friedensprozess angestoßen und die PKK alle ihre Versprechen eingehalten hatte, ist bis jetzt nichts geschehen vonseiten der Regierung. Tausende von Politikern, die wegen Meinungsäußerung, der Inanspruchnahme von Versammlungsrechten oder einfach wegen ihrer politischen Ansichten in den Gefängnissen sitzen und nicht freigelassen werden; das Verbot des muttersprachlichen Unterrichts in den Schulen; die fehlende Stärkung der Kommunalverwaltungen; die Zehn-Prozent-Hürde, die einen gleichberechtigten Einzug der Kurden in das Parlament verhindert – all diese Punkte beeinflussen die Arbeit zur Vorbereitung der neuen Verfassung. Die Kurden wollen nicht vom Schutz der neuen Verfassung ausgeschlossen werden, die nach einem kasuistischen System [möglichst viele gesetzliche Einzelfallregelungen] alle Bereiche des täglichen Lebens regulieren wird. Und so gehen die Diskussionen über ihre Forderungen Hand in Hand mit den Diskussionen über die neue Verfassung. Die AKP will zum Beispiel nicht, dass die Frage des Unterrichts in anderen Sprachen als der türkischen in der Verfassung behandelt, sondern dass sie in einem einfachen Gesetz geregelt wird. Zudem bringen Ministerpräsident Erdogan und auch andere Mitglieder der Regierung immer wieder zum Ausdruck, dass sie selbst gegen eine allgemeingesetzliche Regelung des muttersprachlichen Unterrichts auf Kurdisch sind, da dies zu einer Spaltung des Landes führen würde. So äußerte sich der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinç dahin gehend, dass die Leute, die in Kurdisch unterrichtet werden wollten, ja nach Südkurdistan (Nordirak) gehen könnten.
Die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die kurdische Seite, die seit Jahren für ihre Grundrechte und -freiheiten kämpft und dafür unzählige Opfer gebracht hat, ist diejenige mit den klarsten Erwartungen an die neue Verfassung. Die Kurden, die mit den Institutionen der Junta-Verfassung unterdrückt und auf Linie gebracht wurden, wissen nur allzu gut, welche Bedeutung einer Verfassung in der Türkei zukommt. Die Abschaffung einer Verfassung, die alle in der Türkei lebenden Menschen als Türken und ihre Sprache als Türkisch definiert und alle Anstrengungen, die das so nicht akzeptieren wollen, als Gefahr für die »unumstößliche Einheit des Vaterlandes und der Nation« ansieht, alle Parteien, die von Kurden oder linken oppositionellen Kräften gegründet werden, verbietet, ist für die Kurden überlebensnotwendig.
Die BDP sieht den Friedensprozess als Chance für die Arbeit an der neuen Verfassung. Aus diesem Grunde hat sie sich auch nicht aus dem Vermittlungsausschuss zurückgezogen, obwohl die übrigen drei Parteien sich bei dem Prinzip »eine Sprache, eine Rasse, ein Glaube« nahezu diskussionslos einig sind. Die BDP spielt in diesem Sinne mit ihren Vorschlägen eine historische Rolle: die Aufnahme des Rechts auf muttersprachlichen Unterricht in die Verfassung; die Streichung der Definition, dass alle Staatsbürger der Türkei Türken seien; die Rückgewährung der Rechte Andersgläubiger, die im Rahmen der sunnitisch-islamischen Politik in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt worden waren; die Abschaffung des Amtes für Religionsangelegenheiten; die Abschaffung der Diskriminierung des Geschlechts und der sexuellen Orientierung; die Ermöglichung von Selbstbestimmung durch die Stärkung der Kommunalverwaltungen; die Ermöglichung der gleichberechtigten Repräsentanz aller gesellschaftlichen Teile im Parlament; die Berufung von Verfassungsrichtern oder die Besetzung des HSYK (Hohes Komitee der Richter und Staatsanwälte) nach objektiven Kriterien. Werden die Protokolle der Kommissionsarbeit veröffentlicht, was trotz des Protestes der BDP verboten wurde, werden diese Umstände noch klarer. Als Beispiel kann hier angeführt werden, dass die CHP, die sich als Vertreterin der Aleviten in der Türkei versteht, einem von der BDP vorgeschlagenen Artikel zur gleichberechtigten Inanspruchnahme der staatlichen religiösen Dienstleistungen genauso widersprochen hat wie AKP und MHP.
Der Friedensprozess und die Verfassung
Als die Arbeit an der Verfassung begann, saßen Tausende Mitglieder und Funktionäre der BDP in den Gefängnissen, und durch ständige Razzien und Operationen versuchte man sie an ihrer Politik zu hindern. Hier schlug die BDP der AKP eine »Wegbereinigung« vor. Danach sollten die Einschränkungen der Grundfreiheiten der Menschen durch die antidemokratischen Gesetze abgeschafft werden, um eine erfolgreiche Arbeit an der neuen Verfassung zu gewährleisten. Als erste Schritte wurden hier Änderungen an den Antiterrorgesetzen und dem Strafgesetzbuch, die Abschaffung des Dorfschützersystems, die Rückbenennung Zehntausender kurdischer Ortschaften mit ihren ursprünglichen Namen angeführt. Trotz der vergangenen zwei Jahre sind keine Lösungen für diese Fragen gesucht worden, vielmehr versuchte die Regierung, mit sogenannten [»Reform-» oder »Demokratie-»]Paketen, die kurdischen politischen Kräfte, ohne sie an der Erstellung zu beteiligen, hinzuhalten.
Trotz all dieser Unwägbarkeiten und Ablehnung macht das kurdische Volk mit seinem Kampf für Freiheit, Gleichheit und einen politischen Status weiter. Es ist offensichtlich, dass die staatlichen Strukturen und die staatliche Ideologie in der Türkei, die in den letzten neunzig Jahren nahezu alle zehn Jahre von einem Militärputsch heimgesucht wurde, kurz vor einem Umbruch stehen. Weder der Staat noch die anderen Parteien werden den Freiheitsdrang der Kurden unterdrücken können. Vor ungefähr zwei Wochen lauteten die Schlagzeilen der Tageszeitungen noch: Die kurdische Sackgasse in AKP, MHP und CHP. Demnach sollen kurdische Forderungen wie »muttersprachlicher Unterricht«, »Staatsbürgerschaft«, »Amtssprache« in den anderen Parteien zu Spaltungen geführt haben. So wie schon der vom türkischen Staat ermordete Apê Musa gesagt hatte: Die Kurden werden der Türkei und den Türken die Demokratie bringen.
Quelle: Kurdistan Report 170 November/Dezember 2013