Gestern und auch heute: Mexmûr widersteht den Angriffen der Besatzer

Baxtiyar Çelê, Sie sind Mitglied des Volksrats des Geflüchtetencamp Mexmûr. Können Sie uns Anhand der Geschichte von Mexmûr erklären, warum die Bevölkerung permanent Angriffen von Seiten der Türkei und seinen Verbündeten ausgesetzt ist?

Es lohnt sich, einmal genauer zu erläutern, warum das Geflüchtetencamp Mexmûr derart regelmäßig zum Ziel von Angriffen des faschistischen türkischen Staates und der mit ihm kollaborierenden PDK wird. Die Bevölkerung des Lagers, das ausschließlich von politischen Geflüchteten bewohnt wird, stammt ursprünglich von den nördlichen Ausläufern des Zagros-Gebirges – ein Gebiet, das von tiefen Schluchten und zahlreichen Hochebenen geprägt ist. An diese geographischen Eigenheiten der Region hatten die Vorfahren der Bewohner:innen Mexmûrs ihre Lebensweise angepasst und im Lauf von Tausenden von Jahren eine einzigartige Kultur entwickelt. Nie akzeptierten sie, sich von einer äußeren Macht unterwerfen zu lassen; stets bestanden sie auf ein Leben gemäß ihrer eigenen Traditionen. Auf Druck von außen reagierten sie mit Aufständen. So gelang es ihnen, ihre Sprache und Kultur zu schützen. Dutzende Male kam es zu Aufständen gegen kolonialistische Mächte, an denen sich die Vorfahren der heutigen Bevölkerung Mexmûrs in ihrer Heimatregion im nördlichen Zagros-Gebirge beteiligten bzw. aktiv Unterstützung leisteten. Die dortige Bevölkerung schloss sich allen kurdischen Bewegungen an, die im Laufe der Geschichte entstanden, wodurch die Region zu einem Versorgungs- und Schutzraum für eben diese Bewegungen wurde. Auch als die jüngste Bewegung – die PKK – in der Region Fuß fasste, setzte die Bevölkerung diese Tradition fort, leistete Unterstützung und beteiligte sich aktiv am Kampf der PKK. An den Volksaufständen der 1990er Jahre nahmen die Menschen aus der Region aktiv teil. Sie spielten damit eine wichtige Rolle in der Fortführung der Tradition, sich gegen den faschistischen türkischen Staat mit Volksaufständen zur Wehr zu setzen. Als Reaktion begann der türkische Staat Anfang der 90er Jahre eine Politik des Verschwindenlassens, der Folter, der Zwangsrekrutierung für das Dorfschützersystem und der gezielten Vertreibung der Bevölkerung. Tausende Dörfer wurden damals entvölkert und zerstört. Ein kleiner Teil der betroffenen Bevölkerung – die Bewohner:innen der Dörfer an den Hängen des Zagros-Gebirges – waren in der Folge dazu gezwungen, nach Südkurdistan (Nordirak) zu fliehen.

Dem faschistischen türkischen Staat war es nicht gelungen, diese Bevölkerung in Nordkurdistan durch seine systematische Völkermordpolitik zu unterwerfen und zu assimilieren. Er entschied sich deshalb, die Menschen aus ihren Dörfern zu vertreiben und ihre enge Beziehung zur Guerilla zu zerstören. Als der Staat Anfang der 90er Jahre mit seiner Vertreibungspolitik in der Region begann, wurde der Dorfbevölkerung immer wieder Folgendes mitgeteilt: »Entweder ihr bleibt und befolgt die Anweisungen des Staates, oder ihr müsst in den Nordirak gehen.« An bestimmten Orten half der türkische Staat sogar aktiv, wenn Menschen die Grenze zum Nordirak überqueren wollten. Ihm war es nicht gelungen, die Bevölkerung des nördlichen Zagros-Gebirges unter seine Kontrolle zu bekommen. Nun war er also dazu übergegangen, sie in die von der PDK kontrollierten Regionen Südkurdistans zu bringen, um zu versuchen, dort mithilfe der PDK die eigenen Pläne zu Ende zu bringen. Vom ersten Tag an wurden die Orte, an denen sich die politischen Geflüchteten des heutigen Mexmûr niederließen, zum Angriffsziel des türkischen Staates und der PDK. Das Mexmûr-Camp ist das letzte von insgesamt acht Lagern, die durch die Bewohner:innen im Lauf der Jahre aufgebaut wurden. Wo auch immer sie sich ansiedelten, wurde unter Einsatz unterschiedlichster Methoden versucht, die Menschen unter Kontrolle zu bringen. Der faschistische türkische Staat unternahm größte Anstrengungen, um den Zusammenhalt der Menschen zu zerschlagen und sie auf verschiedene Gebiete Südkurdistans zu verteilen.

Die Politik, deren Umsetzung dem türkischen Staat in Nordkurdistan nicht gelungen war, versuchte er nun also mithilfe der PDK in Südkurdistan zu realisieren. Wir können uns ein konkretes Beispiel anschauen, um die Haltung der kollaborierenden PDK gegenüber der Camp-Bevölkerung zu verdeutlichen: den Angriff auf das Geliyê Qiyametê-Camp in Etrûş 1995.

Nach mehreren Anträgen und demokratischen Protestaktionen hatte sich die UNO dazu entschieden, ein zentrales Camp für alle Menschen einzurichten, die zu verschiedenen Zeitpunkten zur Flucht aus Nordkurdistan nach Südkurdistan gezwungen worden waren. Dieses Camp wurde in der Etrûş-Region eingerichtet, die sich im Norden der Provinz Dohuk befindet. Nachdem die Entscheidung zur Errichtung des Camps gefallen war, wurden alle Geflüchteten, die sich entlang der irakisch-türkischen Grenze eingefunden hatten, in zwei Camps (Etrûş I und Etrûş II) in der Etrûş-Region angesiedelt.

Im März 1995 hatte der faschistische türkische Staat gemeinsam mit der PDK eine umfassende Militäroperation (»Operation Stahl«) in Südkurdistan gegen die PKK begonnen. Dabei kam es zu schweren Verlusten auf Seiten der Türkei und der PDK. Als Reaktion umzingelten PDK-Kräfte unter Leitung Mesûd Barzanîs ((Von 2005 bis 2017 Präsident der Autonomen Region Kurdistan, seit 2017 nur noch Vorsitzender der PDK)) das Camp Etrûş I (auch Geliyê Qiyametê genannt), um dessen Bevölkerung als Druckmittel gegen die PKK zu benutzen. Alle, die die bewaffneten PDK-Kräfte in der Umgebung des Camps sahen, wurden von ihnen umgebracht. Mehrere Hirten wurden erschossen und ihre Tiere gestohlen. Die Menschen im Lager wurden mit automatischen Waffen beschossen, wodurch ihre Zelte Feuer fingen. 80 Zelte brannten vollständig nieder. Gleichzeitig wurde massiver Druck auf die Menschen vor Ort ausgeübt, um sie dazu zu bringen, sich den Anweisungen der PDK-Kräfte unterwerfen. Es wurde gefordert, das in Bergnähe gelegene Camp aufzulösen. Trotz ihrer äußerst begrenzten Möglichkeiten, leistete die Bevölkerung des Camps Etrûş I Widerstand: Alle Frauen und Kinder schützten das Lager, indem sie außenherum einen Sitzstreik begannen, der das gesamte Camp umschloss. Sie machten damit deutlich, dass sie sich nicht ergeben würden. Mesûd Barzanî blieben nur zwei Möglichkeiten: Er würde entweder ein Massaker an der Camp-Bevölkerung verüben oder sich zurückziehen. Er entschied sich für Letzteres. Während dieser Ereignisse in Etrûş I, entschieden sich die Menschen im drei bis vier Kilometer entfernt gelegenen Camp Etrûş II, dem benachbarten Lager zu Hilfe zu eilen. Sie entschlossen sich, alle gemeinsam mit einem Demonstrationszug nach Etrûş I aufzubrechen; Jung und Alt machten sich gemeinsam auf den Weg. Wie immer während der Proteste waren die Frauen des Camps in der ersten Reihe. Nachdem die Menschen ca. 400 Meter zurückgelegt hatten, wurde die Demonstration von den PDK-Peschmerga mit automatischen Waffen beschossen. Zeynep Erdem, eine junge Frau aus der Campleitung, wurde dabei tödlich verwundet und fiel als Märtyrerin ((In der Freiheitsbewegung Kurdistans werden alle Menschen, die im Rahmen des Freiheitskampfes getötet wurden, als Märtyrer:innen oder auch Gefallene bezeichnet. Aufgrund der widerständigen Geschichte Mexmûrs werden dazu auch Bewohner:innen des Camps gezählt, die ihr Leben verloren.)). Acht Kinder und Frauen wurden verletzt. Kurz darauf beschloss die Bevölkerung von Etrûş I in Absprache mit der Leitung des Camps Etrûş II, sich mit diesem zusammen zu schließen. Von da an gab es also nur noch ein Lager.

Wir könnten von Dutzenden derartiger Beispiele berichten. In allen Fällen leistete die spätere Bevölkerung Mexmûrs Widerstand und gab kein bißchen nach. So kam es letztendlich dazu, dass sie nach einer jahrelangen Flucht Mexmûr erreichten und sich dort niederließen.
Auf diese Geschichte kann die Bevölkerung Mexmûrs zurückblicken. Bis zum heutigen Tag hat sie an ihrem Weg festgehalten und sich kontinuierlich weiterentwickelt. Heute ist das Camp Mexmûr von allgemeiner Bedeutung in der Region und darüber hinaus. Es hat sich zu einer kleinen Bastion für den nationalen Kampf entwickelt.

Die Türkei hat in diesem Jahr ihre militärischen Operationen in Südkurdistan/Nordirak intensiviert. Wie wirkt sich diese türkische Expansionspolitik auf das Geflüchtetencamp Mexmûr aus?

Den kurdischen Geflüchteten Mexmûrs ist es im Laufe der Jahre gelungen, die Pläne ihrer Feinde ins Leere laufen zu lassen und sich zu einer beachtlichen Kraft zu entwickeln. Sie haben sich auf der Flucht nicht auseinandertreiben lassen, sondern stets darauf bestanden, ein gemeinschaftliches Leben zu führen. Auf Grundlage des nationalen und demokratischen Kampfes und der Ideen Abdullah Öcalans haben sie ihr eigenes System aufgebaut. Dieses System der Demokratischen Autonomie umfasst alle zentralen Lebensbereiche: Kommunen und Räte, Kommissionen für Bildung, Gesundheit, Stadtverwaltung, Jugend, Außenbeziehungen und Wirtschaft. Das System Mexmûrs hat sich damit zu einem Modell für die Region entwickelt. Die Menschen des Camps haben es stets geschafft, auf der Grundlage einer gemeinsamen Willenskraft zu handeln und haben damit erkennbar Einfluss auf die umliegenden Regionen gehabt. Sie haben ihre eigene Kultur bewahrt und weiterentwickelt, z. B. durch die Gewährleistung einer 12-jährigen Schulbildung in ihrer kurdischen Muttersprache. Als offizielle Staatsbürger:innen der Türkei ist es den Menschen Mexmûrs gelungen, Druck für eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei aufzubauen und auf internationaler Ebene die türkische Verleugnungs- und Völkermordpolitik anzuprangern. Aufgrund all dieser Entwicklungen ist Mexmûr bis heute ein permanentes Ziel der Angriffe des türkischen Faschismus.

Seit Ende April diesen Jahres hat die faschistische Regierung der Türkei ihre Besatzungsoperation in Südkurdistan deutlich ausgeweitet. Die Gründe für diese Angriffe, die sich vor allem gegen die PKK richten, sind vielfältig: In der Zagros-Region hatten die Ideen Abdullah Öcalans und die Volksverteidigungseinheiten (HPG) weitflächig Fuß gefasst, sich stets weiterentwickelt und sich von dort aus in ganz Kurdistan, den Mittleren Osten und viele Teile der Welt verbreitet. Die HPG kämpft dort heute gegen die neoosmanischen Träume des türkischen Staates samt seiner islamistischen Söldner, d. h. gegen deren Besatzungspolitik. Sie stellt damit das größte Hindernis für diese türkischen Pläne dar. Die strategische Lage macht das Zagros-Gebirge zu einer Art natürlichen Schutzwall gegen die türkische Besatzungsstrategie. Aus diesen Gründen sind die Ideologie, Politik und die militärische Kraft der PKK heute das primäre Angriffsziel des türkischen Staates. Im Falle einer Schwächung oder Zurückdrängung dieser Kraft, werden Orte wie Mexmûr definitiv zum nächsten Angriffsziel der Türkei werden. Die Türkei wird in diesem Fall sofort all ihre Kraft darauf verwenden, das Camp zu zerschlagen. Wie bereits in der Vergangenheit, wird der türkische Staat die Unterstützung der irakischen Regierung suchen und unterschiedliche Druckmittel gegen die Camp-Bevölkerung zum Einsatz bringen. Die Unterstützung der Internationalen Koalition und der UN für diese türkischen Bemühungen ist sicher. Auf verschiedenen Wegen wird dann mithilfe der PDK und des IS (Islamischer Staat) eine Eskalation der Gewalt in der Region herbeigeführt werden. Dann wird man Peschmerga-Kräfte in der Region um Mexmûr stationieren, die das seit zwei Jahren andauernde Embargo weiter verschärfen und die bisher von der Bevölkerung Mexmûrs genutzten Wege in andere Regionen des Irak blockieren werden. Diese und viele weitere Maßnahmen, die das Leben der Bevölkerung Mexmûrs äußerst negativ beeinflussen würden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit Realität werden, sollte es der Türkei gelingen, die PKK und die HPG zu schwächen.

Die jüngsten Angriffe des türkischen Staates auf Südkurdistan basieren auf einer langfristig angelegten Besatzungsstrategie. Sein erklärtes Ziel ist es, mit diesen Angriffen bis 2023 konkrete Ergebnisse zu erzielen. Dann jährt sich der Abschluss des Vertrags von Lausanne zum 100. Mal. Mit ihm wurde 1923 die Vierteilung Kurdistans endgültig festgeschrieben. Seine Gültigkeit wurde damals angeblich auf 100 Jahre festgelegt ((Diese falsche Behauptung hat Erdoğan aufgestellt, um die neoosmanischen Träume in eine zeitlich erreichbare Nähe zu holen und die kolonialen Bestrebungen zu legitimieren. Der Vertrag enthält jedoch keine festgelegte Laufzeit.)). Bis 2023 möchte der türkische Staat also Südkurdistan besetzen und damit seine Strategie in die Praxis umsetzen, die so veränderten regionalen Verhältnisse durch ein neues internationales Abkommen abzusichern. Teil dieser Strategie ist es, den Norden des Zagros-Gebirges vollständig unter Kontrolle zu bringen und die von der Türkei organisierten dschihadistischen Organisationen wie den IS und al-Nusra dort anzusiedeln. So soll das Ergebnis des Vertrags von Lausanne, mit dem Kurdistan durch politische Grenzen aufgeteilt wurde, durch die Schaffung eines dschihadistischen Gürtels von Efrîn bis zur iranischen Grenze ersetzt werden. Durch diese erzwungene Veränderung der demographischen Verhältnisse in der Region wird die Strategie verfolgt, eine Vereinigung der verschiedenen Teile Kurdistans endgültig zu verhindern. Zugleich würden die dort angesiedelten dschihadistischen Gruppen eine permanente, massive Bedrohung für die Völker der Region und die gesamte Welt darstellen.

Nicht nur für die türkischen Angriffe ist Mexmûr eine Zielscheibe, auch für die PDK. Seit bald zwei Jahren dauert nun das Embargo gegen das Camp an. Was für Ziele verfolgt die PDK mit dieser Politik und was sind die Gründe für die Feindschaft der südkurdischen Regierung gegenüber den Bewohner:innen von Mexmûr?

Auch wenn die Regierungskoalition in Südkurdistan aus drei verschiedenen Parteien besteht, verfügt nur die PDK über tatsächliche Macht. Alle strategisch zentralen Stellen werden von der Barzanî-Familie kontrolliert: Der Präsident Südkurdistans ist ein Mitglied der Barzanî-Familie. Der Premierminister Südkurdistans: auch ein Mitglied der Barzanî-Familie. Der Innenminister Südkurdistans: gehört zur Barzanî-Familie. Alle ölreichen und viele weitere strategisch wichtige Gebiete befinden sich unter der Kontrolle der Barzanîs. Auch die militärischen Kräfte werden zum Großteil von ihr kontrolliert. Selbst ein Teil der Talabanî-Familie befindet sich unter der Kontrolle der Barzanîs. Südkurdistan ist nach wie vor eine Kolonie des internationalen Systems, unmittelbar kontrolliert wird es von den beiden Familien Barzanî und Talabanî. Daher reichen Absprachen zwischen diesen beiden Familien aus, um jede beliebige Maßnahme in der Region in die Wege zu leiten. Weder das Parlament, noch die Regierung als solche verfügen in Südkurdistan über wirklichen Einfluss. Der absolute Großteil der Maßnahmen vor Ort ergibt sich aus den Beziehungen der Familien Barzanî und Talabanî zu den Nachbarländern. Die PDK unterhält enge Beziehungen zur faschistischen türkischen Regierung im Bereich militärisch-geheimdienstlicher Fragen, der Abwicklung von Schwarzgeldgeschäften, illegalem Ölhandel usw. Aus diesem Umstand ergibt sich auch, dass die PDK und der türkische Staat auf der Basis gemeinsamer Pläne zusammen gegen die PKK vorgehen. Am ausschlaggebendsten ist jedoch die Angst der PDK vor der Perspektive der Demokratischen Nation und dem auf Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie basierenden Paradigma der PKK. Das würde dem auf Vetternwirtschaft basierenden Sultanat der PDK ein Ende bereiten. Entsprechend stark ist deren Feindschaft gegenüber der PKK.

Das Mexmûr-Camp hat sich an eben diesem Paradigma der PKK orientiert und setzt es seit Jahren in die Praxis um. Es ist daher ein Albtraum für solch rückständige Führungszirkel wie die der PDK. Aus den oben erwähnten Gründen stellt es ein bedeutendes Hindernis für die Interessen der Türkei, der PDK und ähnlicher Kräfte dar. Deshalb wird versucht, das Mexmûr-Camp und vergleichbare Orte zur Kapitulation zu zwingen. Das seit zwei Jahren bestehende Embargo gegen das Lager geht nicht auf eine Entscheidung der Regierung Südkurdistans zurück, sondern ist das Ergebnis einer auf Wunsch der Türkei gefällten Entscheidung der Barzanî-Familie. Mit dem Embargo wird das Ziel verfolgt, der Bevölkerung Mexmûrs wirtschaftliche Schwierigkeiten zu bereiten, da in der Vergangenheit alle wirtschaftlichen Beziehungen des Camps (Einkäufe, Arbeitsverhältnisse etc.) über Hewlêr (arab. Erbil) liefen. So soll das Camp geschwächt, sein Zusammenhalt zerschlagen und letztendlich die Kapitulation Mexmûrs herbeigeführt werden.

Die irakische Zentralregierung schweigt zu dieser Politik der PDK. Wie bewerten Sie die Haltung der irakischen Regierung gegenüber Mexmûr?

Um die Haltung der irakischen Regierung gegenüber dem Mexmûr-Geflüchtetenlager zu verstehen, müssen wir uns die chaotische Lage des Irak vor Augen führen. Das Land ist seit jeher reich an einer nationalen, kulturellen und religiösen Vielfalt. Trotzdem verfügt der Irak heute über eine gesellschaftliche Struktur und ein System, welche die Vielfalt des Landes nicht als Reichtum betrachten. Ganz im Gegenteil stellen sie einen Quell der Probleme dar, befinden sich in einem permanenten Chaoszustand und rufen ununterbrochen Instabilität hervor. Der Irak ist geprägt vom historischen Widerspruch zwischen den sunnitischen und schiitischen Konfessionsgruppen des Islam. Unterschiedlichste weitere Glaubensgemeinschaften – Christ:innen, Ezid:innen, Kakai, Sabier:innen, Bahá´í usw. – leben in dem Land; das wird jedoch überwiegend als Problem verstanden. Hinzu kommen die Widersprüche zwischen der kurdischen und arabischen Bevölkerung, aber auch zwischen zahlreichen weiteren Bevölkerungsgruppen. Die Intervention verschiedener Mächte von außen – USA, EU, Iran, Türkei, etc. – in die Probleme und die verfahrene Situation des Landes stellt eine weitere entscheidende Ursache der heutigen Probleme dar. Der Umstand, dass bis heute keiner der historisch-gesellschaftlichen Widersprüche gelöst wurde, versetzt den Irak in eine höchst instabile Lage.

Nach der Intervention der USA und der NATO-Kräfte 1991 wurde das politische System des Landes gewissen Veränderungen unterworfen. Das Ergebnis war ein föderales System auf Basis einer entsprechenden Verfassung. Seit ihrer damaligen Intervention verfügen die genannten Kräfte über einen großen politischen und militärischen Einfluss im Land. Der Iran versucht seit geraumer Zeit die großen politischen Leerräume im Irak zu füllen und mithilfe der schiitischen Bevölkerung des Landes seinen Einfluss auszubauen. Die Schiiten bilden die Mehrheit der Bevölkerung des Landes und verfügen über den größten Einfluss im staatlichen Machtapparat. Das ermöglicht es dem Iran, in dem Land eigene militärische Kräfte zu unterhalten und entscheidenden politischen Einfluss auszuüben. Es ist daher nicht falsch festzustellen, dass der Iran große Fortschritte auf dem Weg zur Errichtung des »schiitischen Halbmondes« – ein Gebiet vom Iran bis zur syrisch-libanesischen Grenze – gemacht hat.

Die Türkei versucht unterdessen, mithilfe der sunnitischen Bevölkerung des Irak selbst an Einfluss in dem Land zu gewinnen. Zugleich hat sie die kollaborierende PDK und einen Teil der turkmenischen Bevölkerung an sich gebunden und begreift Südkurdistan heute praktisch als türkische Kolonie. Mit allen Mitteln weitet die Türkei ihre Besatzung in Südkurdistan aus. Dazu zählt auch die am 23. April begonnene Militäroperation in den südkurdischen Regionen Zap, Metîna und Avaşîn, mit der die Bemühungen um die Annexion der gesamten Region noch einmal massiv verstärkt wurden. All das weist darauf hin, dass sich das Chaos im Irak in nächster Zeit mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausweiten wird. Das zusätzlich bestehende alltägliche innenpolitische Chaos in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft, Korruption, etc. trägt auch dazu bei, dass Stabilität weiterhin schwerlich zu erreichen sein wird. Dieser Zustand wird auf unbestimmte Zeit andauern.

Beim unter UN-Vermittlung zustande gekommenen Erbil-Baghdad-Abkommen ((Meist als »Şengal-Abkommen« bezeichnet. Es wurde im Oktober letzten Jahres auf Druck der USA und Türkei zwischen der irakischen Regierung in Bagdad und der PDK vereinbart. Die ohne Einbeziehung der betroffenen ezidischen Bevölkerung getroffene Vereinbarung sieht vor, die nach dem Genozid der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) an der ezidischen Gemeinschaft aufgebauten Sicherheitskräfte (Asayîşa Êzîdxanê) aufzulösen sowie Bagdad und Hewlêr (Erbil) mit allen administrativen, politischen und sicherheitsrelevanten Aufgaben zu betrauen.)) vom 9. Oktober 2020 bezüglich Şengal spielten die USA und Frankreich eine zentrale Rolle. Sein Inhalt zeigt, welch starken Einfluss die Türkei und die PDK bei der Aushandlung des Abkommens ausgeübt haben. Ohne die êzîdische Bevölkerung Şengals zu informieren, wurde also ein Deal vereinbart, der nicht den Menschen Şengals, sondern ausschließlich der Türkei und der PDK nutzt.

Es ist deutlich erkennbar, dass die irakische Regierung nicht über die notwendige Willenskraft verfügt, auf die regionalen politischen Entwicklungen effektiven Einfluss auszuüben und sich gegen den Druck anderer Kräfte zur Wehr zu setzen. Selbst für die Lösung der Probleme ihrer Staatsbürger:innen fehlt es ihr an der notwendigen Kraft. Wie sollte die irakische Regierung da ein Geflüchtetencamp schützen, dessen Bewohner:innen als politische Geflüchtete nicht einmal die irakische Staatsangehörigkeit haben?

Laut irakischer Verfassung verfügen die Menschen in Mexmûr offiziell über den Status politischer Geflüchteter. Doch haben sie derzeit keinerlei Nutzen aus diesem Umstand und erhalten nicht die geringste Unterstützung. Dutzende Male wurde das Mexmûr-Camp bereits von türkischen Kampfflugzeugen bombardiert, wobei eine hohe Zahl an Kindern, Frauen und Älteren als Märtyrer:innen fielen. Der irakische Staat, der für die Sicherheit der Bevölkerung Mexmûrs verantwortlich ist, erlaubt es sich immer wieder, gegenüber derartigen Angriffen zu schweigen. Auch zahlreiche andere Länder, die wirtschaftliche und militärische Beziehungen zur Türkei unterhalten und gegenüber dem kurdischen Volk immer wieder eine ähnliche Politik wie die Türkei verfolgen, üben sich aufgrund ihrer eigenen Interessen in Schweigen.

Ein direkter Grund für das allgemeine Schweigen gegenüber den türkischen Angriffen liegt in dem ungünstigen Umstand, dass sich Mexmûr in den sogenannten »umstrittenen Gebieten« ((Damit sind Gebiete gemeint, die zwischen Südkurdistan und der irakischen Zentralregierung umstritten sind, u.a. die ölreiche Region um Kerkûk.)) befindet. Die irakische Regierung ist in dem Gebiet um Mexmûr nur militärisch präsent; die Verwaltung der Region liegt in den Händen von PDK-Kadern, die dort im Namen der Regierung Südkurdistans auftreten. Dies verschärft den chaotischen Zustand in der Region noch einmal erheblich.

Aufgrund des massiven Drucks von innen und außen kommt die irakische Regierung ihrer in der Verfassung festgelegten Verantwortung gegenüber dem Geflüchtetencamp Mexmûr nicht nach. Im Inneren ist es der Druck sunnitischer Kräfte und der PDK. Von außen üben die USA, EU und die faschistische türkische Regierung Druck auf den Irak aus. Zudem unterhält der Irak umfangreiche Beziehungen zur Türkei. All dies trägt dazu bei, dass die irakische Regierung nicht gegen die illegalen Maßnahmen gegen das Mexmûr-Camp protestiert.

Trotz all dieser Schwierigkeiten stellt das politische Geflüchtetencamp Mexmûr in der Region nach wie vor einen Ort der Stabilität dar. Seit Jahren lebt die Bevölkerung des Lagers friedlich mit den anderen Völkern der Region zusammen. Alle Probleme wurden stets gemeinsam im direkten Austausch mit den anderen Völkern gelöst. Mexmûr wird daher auch in Zukunft seine Existenz als sicherstes und vertrauenswürdigstes Geflüchtetencamp fortsetzen.

Der Text wurde erstmals im Kurdistan Report veröffentlicht.

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