Immunitätswechsel in der Türkei

hdpCivaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, 09.06.2016

Seit längerem beschäftigt das Thema “Aufhebung der Immunitäten” von insgesamt 148 Parlamentsabgeordneten die Öffentlichkeit der Türkei. Nachdem die vorübergehende Verfassungsänderung zur Aufhebung der Immunitäten am 20. Mai 2016 mit den Stimmen der regierenden AKP, der nationalistischen MHP und Teilen der kemalistischen CHP  durch das türkische Parlament verabschiedet worden ist, wurde es kurz darauf dem türkischen Staatspräsident Erdogan zur Unterschrift vorgelegt.

Keine Immunität für Abgeordnete

Erdogan hat am letzten Tag der Frist die Verfassungsänderung unterschrieben. Laut türkischem Recht hat Erdogan eine 15-tägige Frist zur Begutachtung des Gesetzes. Er nutzte diese Zeit vollständig aus. Auffällig ist, dass am selben Tag, an dem der türkische Staatspräsident seine Unterschrift unter die Verfassungsänderung gesetzt hat, der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) in der Türkei die Versetzung von 3746 Justizbeamten beschlossen haben soll. Der HDP Abgeordneter Sirri Sürreya Önder sagte hierzu, dass die Justiz zunächst für die Verfassungsänderung „vorbereitet“ und dann das Gesetz verabschiedet wurde. Die Versetzung von zahlreichen Richtern und Staatsanwälten soll demnach sicher stellen, dass mögliche Klagen der HDP Abgeordneten gegen ihre Immunitätsaufhebungen zu keinen unerwünschten Ergebnissen für die Regierung führen sollen.  Önder fügte hinzu: “Es gibt eine Namensliste der Personen, deren Immunität zuerst fallen soll. Mit der Versetzung wurde verhindert, dass keine Richter und Staatsanwälte die Verfahren der Abgeordneten übernehmen, die selbst ein kritisches Verhältnis zur Regierung haben”.

Mehr „Immunität“ für die Armee

Gleichzeitig mit der Immunitätsaufhebung von oppositionellen Politikern verleiht die Regierung nun ihrem Armeepersonal neue Befugnisse. Straftaten einfacher Soldaten während dem “Kampf gegen den Terror”, wie z.B. unbefugter Gebrauch der Waffe, Folter oder andere “schlechte Handlungen”, dürfen fortan erst nach Erlaubnis des Ministerpräsidenten und Verteidigungsministeriums rechtlich verfolgt werden. Demnach wird es keine direkten Ermittlungen gegen einzelne Personen aus der Armee geben, wenn der Verdacht auf eine Straftat besteht. Bevor ein Verfahren eingeleitet wird, muss der zuständige Staatsanwalt eine Erlaubnis einholen. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde am 07. Juni vom türkischen Verteidigungsministerium in die Wege geleitet.

Kritiker sehen hierin eine gefährliche Ausweitung der Befugnisse der türkischen Armee, was zu einem enormen Anstieg an Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Siedlungsgebieten führen könnte. Bereits in den vergangen Wochen und Monaten kam es immer wieder zu Berichten von Kriegsverbrechen wie Massenhinrichtungen und Folter durch das türkische Militär und Polizei beim Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten des Landes.

Erdogans Diplom wird zum Streitthema

Neben den Diskussionen über die Immunitäten ist ein weiteres Thema in den letzten Tagen Diskussionsthema in der türkischen Hauptstadt Ankara. So verbreitete sich die Behauptung, dass der türkische Staatspräsident Erdogan kein Diplom einer Universität verfügt – eine Voraussetzung für die Bekleidung des Staatspräsidentenamtes in der Türkei – wie ein Lauffeuer. Ein vermeintliches Diplom Erdogans von der “İstanbul İktisadi ve Ticari İlimler Akademisi” ist auf den Februar 1981 datiert. Allerdings hat die Universität diesen Namen erst im Folgejahr angenommen, was die Zweifel an der Echtheit des Diploms nährt. Erdogan selbst forderte in den vergangenen Tagen seine “Kommilitonen” und derzeitigen Rektor der Universität auf “die Archive zu durchsuchen” und “das Diplom der Öffentlichkeit zu zeigen”, obwohl dieses bei Erdogan selbst sein müsste, da die Universitäten keine Diplome archivieren.

Der HDP Kovorsitzende Selahattin Demirtas sagte Anfang der Woche zu dem Thema, dass die Wahl zum Staatspräsidenten wiederholt werden müsse, wenn Erdogan kein Diplom vorzeigen könne und stellte öffentlich folgende Fragen: “Gibt es denn keine Kommillitonen, keine Professoren aus dieser Zeit? Kann niemand sagen, er war fleißig oder faul? Gibt es keinen Professor, der sagen kann, er hätte ihn unterrichtet?”.