„In Sachen Rakka blufft die Türkei“

Murat KarayilanFiratnews, 28.02.2017

Im Interview mit der Nachrichtenagentur Firatnews geht Murat Karayilan, Oberkommandeur der Volksverteidigungskräfte Hêzên Parastina Gel (HPG), auf die Hintergründe der Eroberung von al-Bab durch die türkische Armee ein. Laut Karayilan konnte die Stadt nur durch Abmachungen mit dem IS unter die Kontrolle der türkische Armee und ihrer Verbündeten gebracht werden. Das Drängen auf eine von der Türkei geführte Operation gegen die vermeintliche IS Hauptstadt Rakka nimmt Karayilan nicht ernst.

Die Verantwortlichen der AKP geben an, dass die türkischen Truppen in al-Bab einen großen Sieg errungen haben. Doch es gibt weiterhin Meldungen von Gefechten und Toten. Was passiert derzeit in der Region?

Man kann von keinem Erfolg des türkischen Militärs in al-Bab sprechen. Sie haben sich sieben Monate heftige Auseinandersetzungen geliefert. Nun erklären sie, dass sie al-Bab unter ihre Kontrolle gebracht haben. Doch mancherorts kommt es noch zu Gefechten, auch wenn es so aussieht, dass sie die vollständige Kontrolle in al-Bab erlangen werden.

Warum?

Weil gewisse Abmachungen getroffen wurden.

Was für Abmachungen?

Die Tatsache, dass die türkische Armee gemeinsam mit einigen Banden, die als „Freie Syrische Armee“ betitelt werden, nach sieben Monaten bis nach al-Bab vorgedrungen ist, ist weniger das Ergebnis eines militärischen Erfolgs. Vielmehr handelt es sich um das Ergebnis von politisch-diplomatischen Bemühungen. Wir wissen, dass die Türkei zunächst von den USA die Erlaubnis erhalten hat, bis zu 20 km nach Syrien vorzudringen. Von Seiten Russlands wurde ein Einmarsch bis zu 25 km ins Landesinnere abgesegnet. Nach geheimen Gesprächen mit dem IS, haben diese den Raum bis nach Exterîn für die Türkei freigeräumt, was ca. 35-40 km ausmacht. Das bedeutet, dass die Türkei die Gebiete in Dscharablus, Dabiq und Rai auf Grundlage von Verhandlungen und Abmachungen unter ihre Kontrolle gebracht hat.

Doch als die Türkei die 20 km Abmachung mit den USA überschritten hatte, hat zunächst die Internationale Koalition ihre Unterstützung für den türkischen Einmarsch in Syrien eingestellt. Dies galt als ein Verstoß gegen die getroffene Abmachung. Die Türkei hingegen wendete sich daraufhin an Russland. Es wurde über Aleppo verhandelt. Und so kam man zum Schluss, dass die Türkei nach al-Bab vordringen sollte, wenn sie Aleppo fallenlässt. Doch hier stieß die Türkei wiederum jenseits von Exterîn auf den Widerstand des IS. Die Türkei hatte vorher den IS davon überzeugen können, ihre Gebiete bis zu Exterîn aufzugeben. Die Argumentation lautete, dass wenn diese Gebiete nicht an die Türkei und ihre islamistischen Partner übergeben werde, die YPG die Kontrolle in Dscharablus und Co. übernehmen würde. Als dann aber die Türkei auch al-Bab vom IS verlangte, ging das diesen zu weit. Und so kam es in al-Bab erstmals zu Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und dem IS.

Die Kämpfe um die Stadt hielten rund zwei Monate an. Die Türkei und ihre Partner zeigten kein gutes Bild im Kampf gegen den IS. Mit Mühe und Not erlangten sie schließlich die Kontrolle über Cebel Eqil vor al-Bab. Doch nach heftigen Kämpfen mussten sie sich auch von hier wieder zurückziehen. Und so musste die Türkei erneut in Verhandlungen mit dem IS treten, woraufhin sich die Banden des sog. Islamischen Staates aus der Stadt zurückzogen. Vermutlich hat der IS hierfür eine Reihe von Gegenleistungen erhalten. In der Presse sind Informationen über zwei bis drei LKW-Ladungen voll Waffen aufgetaucht. Zusammengefasst hat also der türkische Geheimdienst einen Handel mit dem IS angeleiert, in dessen Folge die Stadt der Türkei überlassen wurde. So einfach wollte der IS es dann aber der Türkei doch nicht machen und hat in einigen Teilen der Stadt Sprengfallen bei ihrem Rückzug hinterlassen. Mit diesen hat das türkische Militär weiterhin zu kämpfen.

Wir sehen also, dass der Vormarsch der Türkei bis nach al-Bab das Ergebnis einer Reihe von Abmachungen ist. Und an jede Abmachung ist letztlich auch eine Gegenleistung geknüpft. Das einzige Ziel der Türkei ist es, mit diesen Abmachungen die Verbindungslinie zwischen den beiden Kantonen Kobanê und Afrin endgültig zu kappen. Von einem großen Erfolg der türkischen Armee, wie es in den türkischen Medien gerne dargestellt wird, können wir jedenfalls nicht sprechen. Und die Kurden in Syrien begrenzen ihre Zielsetzung ohnehin schon lange nicht mehr auf die Verbindung der drei Kantone. Ihre Perspektive geht darüber hinaus. Sie wollen im Norden Syriens eine Föderation aufbauen. Und hierfür führen sie gemeinsam mit dem arabischem Volk und ihren politischen Kräften einen Kampf.  Wenn dieses Ziel erreicht ist, wird die Föderation ohnehin das gesamte Gebiet des Nordens von Syrien umfassen. Deswegen ist das ganze Vorhaben der Türkei wenig zielführend. Sie wollen angeblich der Revolution von Rojava Einhalt gebieten, doch das ist längst nicht mehr möglich.

Nun spricht die AKP regelmäßig davon, dass ihr nächstes Ziel in Syrien entweder Minbic oder Rakka sein wird. Der Militärrat von Minbic hat bereits erklärt, dass sie auf jeden Angriff von türkischer Seite entsprechend reagieren werden. Auf der anderen Seite führen die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) bereits eine Operation gegen Rakka. Was steckt also hinter den Aussagen der Türkei?

Die Türkei wird keinen Schritt in Richtung eines der besagten Ziele machen können, ohne eine Abmachung mit bestimmten Mächten zu treffen. Die Türkei wird also unter keinen Umständen nach Minbic vorstoßen können. Das würden die Kräfte, welche die Stadt vom IS befreit haben, nicht zulassen. Was die Türkei allerdings versucht, ist die neue Regierung der USA vor die Wahl zu stellen. Die türkische Regierung drängt die US-Führung geradezu auf kindische Weise dazu, sich entweder für sie oder die YPG zu entscheiden. Das heißt, wenn die USA ihr also angeblich die Erlaubnis erteilt, will sie nach Minbic oder Rakka vordringen.  Aber wie soll die USA eine solche Entscheidung fällen können? Die Menschen, die Minbic befreit haben, haben dies unter großen Opfern geleistet. Doch die Türkei versucht alles, was sie hat, zu vermarkten, um eine neue Front gegen die Kurden zu eröffnen. Mit solch einer chauvinistischen, rassistischen und feindlichen Politik versucht die AKP-MHP Führung in der Türkei ihre Ziele zu erreichen.  Ähnlich sieht es auch bei der Operation auf Rakka aus. Die Operation läuft bereits seit zwei Monaten mit den Kräften der SDF. Trotzdem spricht die Türkei davon, dass sie gemeinsam mit den USA bis nach Rakka vordringen könnte.

Aber was bezweckt der türkische Staat mit diesen Aussagen?

Da gibt es drei Beweggründe: Zunächst einmal haben diese Aussagen eine innenpolitische Komponente. Sie sollen bei der eigenen Bevölkerung den Eindruck vermitteln, dass die Türkei militärisch stark ist und nur deshalb derzeit nicht weiter als nach al-Bab kommt, weil man sich noch nicht mit den USA geeinigt hat. Doch selbst wenn die USA grünes Licht geben würde, hätte das türkische Militär nicht die Durchschlagskraft weiter vorzurücken. Wie soll ein Militär, das zwei Monate lang noch nicht einmal ein Haus in al-Bab unter seine Kontrolle bringen konnte, in Rakka erfolgreich sein? Die Aussagen der türkischen Regierung sind deshalb nicht viel mehr als ein Bluff. Mit ihnen wollen sie die Seelen ihrer Anhängerschaft streicheln. Mehr steckt da nicht dahinter.

Zweitens versucht die Türkei mit diesen Aussagen und Drohungen ihre Position am Verhandlungstisch zu stärken. Sie will die Basis dafür schaffen, dass sie in al-Bab bleiben kann. Denn eigentlich war es Teil der Abmachung mit Russland, dass al-Bab nach seiner Befreiung den Regimekräften übergeben wird. Aber daran will sich die Türkei nicht halten. Sie will ihre Abmachung mit Russland brechen und wendet sich deshalb derzeit wieder an die USA. So wollen sie ihre Präsenz in al-Bab unter Garantie stellen.

Drittens versucht die Türkei mit allen Mitteln insbesondere die USA unter Druck zu setzen, um im Kampf gegen die PKK weitere Zugeständnisse von der US-Regierung abzuringen. Ich wiederhole es nochmal, die Türkei hat weder die Kraft noch die Kapazitäten in Richtung Rakka vorzudringen. Aussagen in diese Richtung sind in jedem Fall ein Täuschungsmanöver.  Es kann aber sein, dass die türkische Regierung zur Durchsetzung ihrer Ziele Angriffe auf Minbîc oder Afrin beginnt. Das ist nicht ausgeschlossen.

Zumal es ohnehin schon regelmäßig Angriffe des türkischen Staates auf YPG-Stellungen gibt…

Ja, auf diese Weise versuchen sie einen Teil der YPG-Kräfte am Grenzgebiet zu binden, um die Operation der SDF auf Rakka zu schwächen.

Und wie sieht die Haltung der internationalen Mächte demgegenüber aus?

Sowohl die USA, als auch andere internationale Akteure verschließen die Augen vor diesen Angriffen. Dasselbe gilt für die Tatsachen, dass der türkische Staat immer wieder Grenzverletzungen in das Gebiet von Rojava begeht oder im Grenzgebiet zahlreiche Flüchtlinge erschossen hat. Die USA, Russland und die EU hüllen sich demgegenüber in Schweigen.