Pozanti ist der Name einer kleinen Ortschaft mit rund 10.000 Einwohnern in der Nähe von Adana. Der Name dieser Ortschaft dürfte Ihnen nichts weiter sagen, was zunächst einmal auch nichts Verwunderliches ist. Denn auch die meisten Menschen aus der Türkei konnten vermutlich bis vor kurzem mit dem Örtchen Pozanti nichts anfangen. Doch mit den sich überschlagenden Meldungen Ende Februar dieses Jahres dürfte sich das zumindest in der Türkei und vor allem bei den in der Türkei lebenden Kurden schlagartig verändert haben. Die Nachrichten stammen nämlich aus der geschlossenen Kindervollzugsanstalt von Pozanti. In den Morgenstunden des 24. Februars veröffentlicht die Dicle-Nachrichtenagentur (DIHA) eine Meldung mit dem Titel „Vorwürfe sexuellen Missbrauchs im Pozanti-Gefängnis“. Verfasst wurde die Nachricht von der DIHA-Reporterin Zeynep Kuriş, die unter anderem mit dem in Pozanti ehemals inhaftierten 15-jährigen H. K. über seine Erlebnisse in der Kindervollzugsanstalt sprach. Neben den Berichten der Kinder über Gewaltübergriffe durch die Gefängniswärter und ihre Zellengenossen bringt H. K. die Vergewaltigungsvorwürfe mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Einige unserer Freunde wurden von den Strafhäftlingen unzählige Male vergewaltigt.“
Nach H. K., der als Erster den wichtigen Schritt macht und seine schrecklichen Erlebnisse hinter den Mauern von Pozanti in die Öffentlichkeit trägt, fassen auch andere ehemalige inhaftierte Kinder den Mut und erzählen, was sie in Pozanti erlebt und gesehen haben. Und auffällig, aber nicht überraschend ist, dass die meisten der Kinder nicht davon sprechen, dass sie selbst Opfer der Vergewaltigungen waren, sondern dass ihre Freunde von anderen Zelleninsassen vergewaltigt worden seien. Auch H. K.
beschreibt seine Erlebnisse, vielleicht aus Scham, vielleicht auch um seiner Familie nicht zu viel Kummer zu bereiten, in dieser Form.
Wer sind die Opfer dieser Misshandlungen in Pozanti? Es sind Kinder. Es sind kurdische Kinder, die hinter Gitter gesteckt wurden, weil sie auf verbotenen Demonstrationen Steine auf die Polizei geworfen haben sollen. Es sind Kinder, die zum Teil zu Haftstrafen verurteilt worden sind, die höher sind als ihr Lebensalter. In den Augen des Staates werden diese Kinder mit Terroristen gleichgesetzt. Die Kinder sind sich dessen auch bewusst, wie ihren Aussagen zu entnehmen ist. Sie selbst begreifen sich in den Gefängnissen als politische Häftlinge. Der Staat sieht das allerdings nicht so und steckt sie in gemeinsame Zellen mit anderen strafrechtlich inhaftierten Kindern.
Wer sind die Täter? Wer hat diese Kinder vergewaltigt? Es sind auch Inhaftierte aus der Kindervollzugsanstalt. Zumeist Jugendliche, die vielleicht 18 Jahre oder ein wenig älter sind und wegen strafrechtlicher Vergehen einsitzen. Manche wegen „einfacherer“ Delikte wie Diebstahl oder Ähnlichem, andere aber auch wegen Mord oder Vergewaltigung. Aber diese Jugendlichen genossen in Pozanti im Gegensatz zu den Kindern das Vertrauen der Gefängnisleitung. Sie wurden zu sogenannten Zellenverantwortlichen“ ernannt. Und diese „Zellenverantwortlichen“ wurden bei der anstehenden Ankunft der Kinder darüber informiert, dass „Terroristen“ in ihre Zellen kommen würden und dass sie ihrer Obhut überlassen würden. Die Gefängniswärter waren somit über das Geschehen in den Zellen bestens informiert und tolerierten oder förderten es. Auch sie sind also Täter.
Und was ist mit dem türkischen Staat? Was hat er getan, als er von diesen Gräueltaten erfuhr? Zunächst hat er nichts getan! Denn das Justizministerium wurde schon Monate vor dem Öffentlichwerden der Geschehnisse in Pozanti durch den enschenrechtsverein IHD über die Zustände in der Kindervollzugsanstalt informiert. Die entlassenen Kinder hatten sich nämlich zunächst bei der Zweigstelle des IHD in Adana gemeldet. Dieser hatte die Fälle vertraulich behandelt, um die betroffenen Kinder zu schützen, und Strafanzeige beim Justizministerium und der Staatsanwaltschaft gestellt. Doch die Adressaten erachteten es nicht für notwendig einzuschreiten. Erst als die ersten Kinder begannen, die grausamen Ereignisse aus Pozanti in die Presse zu tragen, entschied sich der Staat, doch aktiv zu werden. Doch wie wurde er aktiv? Er nahm zunächst einmal die DIHA-Reporterin Zeynep Kuriş fest, die wie anfangs erwähnt als Erste über die Fälle berichtet hatte. Zudem wurde der junge T. T., der ehemals in Pozanti inhaftiert gewesen war und auch als einer der Ersten über die Vorfälle aus dem Gefängnis berichtet hatte, festgenommen. Ein klares Zeichen, wie
der Staat unter der Führung der AKP-Regierung mit diesem Fall umzugehen vorhatte. Doch der Druck wurde größer und auch die Mainstream-Medien griffen die Vorfälle auf. So sah sich der Justizminister der AKP-Regierung gezwungen, das Gefängnis von Pozanti vorläufig zu schließen und die inhaftierten Kinder zu verlegen.
Doch glaubt die Regierung wirklich, mit diesem Schritt die Vorfälle unter den Teppich kehren zu können? Nun sind die Kinder im Gefängnis von Sincan in Ankara, hunderte Kilometer entfernt von ihren Familien, inhaftiert. Das bringt neue Probleme mit sich für die Familien und die Kinder. Auch wurden bisher keinerlei strafrechtliche Schritte gegen die Vergewaltiger und die Gefängnisleitung in die Wege geleitet. Und Pozanti scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein, wie Berichte aus anderen geschlossenen Kinder- und Jugendvollzugsanstalten andeuten. Wir können allein aus dem Verhalten der Regierung der Türkei eine
Schlussfolgerung ziehen, auch sie ist Mittäter!
In der Türkei befinden sich aktuell rund 2200 Kinder in Haft. Darunter zahlreiche Kinder, die mit dem Vorwurf des „Steinewerfens auf die Sicherheitskräfte“ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. Die Inhaftierung von Kindern, gleich ob aus strafrechtlichen oder aus politischen Gründen, in geschlossenen Vollzugsanstalten ist inhuman. Die Situation der inhaftierten kurdischen Kinder stellt allerdings insofern eine besonders schwerwiegende Situation dar, als ihre Haftstrafen höher und ihre Haftbedingungen, aufgrund ihrer Herkunft und ihres „Straftatbestandes“, schwerer sind. Die Öffentlichkeit hat zu den unzähligen
Festnahmen von Kindern geschwiegen, und es ist zu Pozanti gekommen. Wenn wir zu Pozanti schweigen, kann es noch zu viel scheußlicheren Zuständen und Vorfällen kommen. Deshalb liegt es in der Verantwortung unserer Menschlichkeit, unsere Stimme gegen Pozanti zu erheben, unser Umfeld über diese schrecklichen Ereignisse aufzuklären, Menschenrechts- und Kinderschutzorganisationen dazu zu bewegen, in diesem Fall aktiv zu werden und Druck auf die Bundesregierung auszuüben, sodass diese zumindest ihren wichtigen wirtschaftlichen und politischen Partner Türkei dazu mahnt, die Menschen- und
Kinderrechte einzuhalten.