Jeder vom Staat ermordete Kurde ist ein Terrorist!

Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu macht auf einen Fall aufmerksam, in welchem ein kurdischer Zivilist durch die Drohne der türkischen Armee ermordet wird. Anschließend wird Tanrikulu kurzerhand zum “Terror-Unterstützer” erklärt, von Celal Baslangic, 18.09.2017

Eines Nachts wurde das Dorf Yeşilyurt in Cizre vom Militär besetzt. Wie immer waren sie auf der Suche nach “Terroristen”. Die Dorfbewohner mussten sich daraufhin auf dem Dorfplatz versammeln. Dann wurden sie misshandelt und geschlagen. Sie mussten sich auf den Boden legen und den Teppich spielen, während die Soldaten über ihre Körper spazierten. Als wäre das nicht genug, wurden sie auf Befehl des Kommandanten, der den „Einsatz“ leitete, dazu gezwungen, menschlichen Kot zu essen.

Das passierte im Januar 1989, also vor fast 29 Jahren. Ich hatte von diesen Geschehnissen erfahren, hatte mit den Dorfbewohnern gesprochen und war an die Beschwerdeschrift der Dorfbewohner an die Staatsanwaltschaft gelangt. Aber zu jener Zeit war kaum daran zu denken, Ereignisse wie diese in einer Tageszeitung abzudrucken. Damals war nicht auszudenken, was einem Journalisten passieren könnte, der eine solche Geschichte zu Papier bringt, weil sich das noch niemand getraut hatte.

Ich wagte es dennoch und nach einem schwierigen Prozess wurde ein Artikel in der Cumhuriyet veröffentlicht. Und auf einmal geriet alles durcheinander.

Die damalige ANAP-Regierung mit ihren Ministern, ihrem Parlamentspräsidenten und ihrem Notstandsgouverneur waren auferstanden und griffen mich mit den Worten an: „Dieser Journalist versucht gegen den Staat und zugunsten der PKK zu berichten. Der Journalist, der diese Nachricht verfasst hat, ist Mitglied der PKK.”

Ich wiederrum antwortete darauf wie folgt mit einem weiteren Artikel in der Cumhuriyet Zeitung: „Ich ging zweimal in das Dorf Yeşilyurt, um diese Nachricht zu verfassen. Ich habe wiederholt die Dorfbewohner und den von der Religionsbehörde ernannten Imam aus Konya getroffen. Trotz Veröffentlichung dieser Nachricht habt ihr euch nicht die Mühe gemacht, einmal nach Yeşilyurt zu reisen und die Dorfbewohner zu fragen, was eigentlich passiert ist. Von euren gemütlichen Sitzen vertraut ihr immer noch den Berichten, die ihr von dem Kommandanten zugeschickt bekommt. Und das ist derselbe Kommandant, der die Dorfbewohner dazu zwang, Kot zu essen. Kommt her und lasst uns zusammen hinfahren und den Bewohnern von Yesilyurt zuhören. Lasst und sehen, was Wahrheit und was Lüge ist.“

Als sich beispielsweise im Jahr 1947 die Behauptung verbreitete, dass ein Militärkommandant die Dorfbewohner des Dorfes Senirkent in der Stadt Isparta dazu zwang, Kot zu essen, wurde von der damaligen Regierungspartei sofort ein Inspektor in den Ort entsandt, um den Fall aufzuklären. Und die Untersuchung ergab, dass die Berichte der Wahrheit entsprachen. Ist die Regierung in den Jahren 1947 strenger gegen Misshandlungen gegenüber seine Bürger vorgegangen als die Regierung in 1989? Oder macht es einen Unterschied, wenn es sich um die westtürkische Stadt Isparta handelt und nicht um die kurdische Stadt Cizre?

Ja, es macht einen Unterschied. Es scheint aber auch so, dass das Staatsverständnis zwischen 1947 und 1989 in der Türkei nicht zivilisierter, sondern barbarischer geworden ist. Vor allem nach der zweiten Hälfte der 80er Jahre haben wir den Tod so vieler Zivilisten erlebt, welche zu „Mitgliedern der PKK“ erklärt wurden.

Im Karakoçan/Elazig wurde der Hirte Alattin vom Hubschrauber aus erschossen weil er “Terrorist” war. In Derebaşı/ Silopi wurden sechs Jugendliche erschossen. In Gercüş wurde ein geistig behinderter Bürger erschossen, obwohl er seine Hände hob. Dies sind nur die ersten Beispiele für den Mord an unschuldigen Zivilisten durch Staatsbeamte. Wenn wir uns dann die jüngsten Ereignisse von Hakkari anschauen, wissen wir, dass der Krieg gegen die Kurden an einem Punkt angelangt ist, der im Vergleich zu den 1980er Jahren rachsüchtiger und boshafter ist, denn je zuvor.

Mithilfe der Informationen, die wir dem Social Media Accounts des CHP Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu entnehmen, können wir uns einen Fall näher anschauen, bei der durch die ferngesteuerte Kampfdrohne (SIHA) des Militärs ein Zivilist ermordet, drei Bürger verletzt  und all diese Bürger dann schließlich zu Terroristen erklärt worden sind.

Diese vier Zivilisten waren auf dem Weg in ihr Dorf. An der Stadtgrenze von Hakkari wurden sie von der Polizei kontrolliert. Die Zivilisten wollten wegen des anstehenden Opferfests ein Tier aus dem Dorf  in die Stadt mitnehmen, einige ihrer Felder besuchen und schließlich die Mutter von einem der Personen mit nach Hakkari bringen. Als sie sich an dem Brunnen Kani Reş hinsetzten, um eine Pause zu machen, wurden sie von der SIHA Kampfdrohne angegriffen.

Der verletzte İsmail Aydın ist 43 Jahre alt und Landarbeiter. Der ebenso verletzte Musa Tarhan ist 54 Jahre alt und geht jeder Beschäftigung nach, die er in Hakkari findet, und ist zugleich ein Verwandter des ehemaligen AKP Abgeordneten aus Hakkari. Der andere Verletzte Ibrahim Sak ist ein ehemaliger Beamte. Der ermordete Mehmet Temel ist 37 Jahre alt und ist Hausmeister in einer Schule und einem Krankenhaus in Hakkari. Diese vier Menschen haben insgesamt 24 Kinder und Enkelkinder.

Der ermordete Mehmet Temel wurde nach dem Vorfall zum Terroristen erklärt. Man wehrte sich dagegen, seinen Leichnam zur rituellen Waschung vor der Bestattung in die Moschee zu lassen. Der von der Regierung ernannte Imam weigerte sich, ein Gebet für ihn zu sprechen. Die Stadt gewährte weder Leichenwagen, noch einen Sarg. Die Verletzten, die nach dem Vorfall ins Krankenhaus gebracht wurden, nahm man noch während ihrer Behandlung fest.

Weil sich der CHP Abgeordnete Tanrıkulu mit diesem Vorfall beschäftigte und in die Medien trug, machten ihn alle AKP Trolle in den Sozialen Media zur Zielscheibe. Auf ein Zeichen des AKP-Chefs Erdogan leitete die Staatanwaltschaft daraufhin eine Untersuchung gegen Tanrikulu ein. Mitglieder der AKP bezeichneten den CHP-Abgeordneten u.a. als „Verräter“, „Terroristen-Unterstützer“ usw. Auch die regierungsnahen Medien schlossen sich dem Shitstorm an.

Der AKP Chef fragte dann: “Es gibt einen Vertreter der Oppositionspartei, der ein Statement über die Drohnen abgegeben hat. Er behauptet, dass wir Zivilisten erschossen hätten. Wo sind denn diese Zivilisten?”

Die Antwort ist eigentlich klar. Diese Zivilisten sind dort, in Hakkari. Und Hakkari befindet sich im Staatsgebiet der Türkischen Republik. Und die die Bürger, die als “Terroristen” bezeichnet werden, sind Staatsbürger der Türkei.

Wenn es doch so ist, dann geht und schaut, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Schickt eine Delegation oder einen Inspektor hin und versucht die Wahrheit herauszufinden.

Aber nein, das wäre ein Vorschlag, der dem Verständnis dieses Staates nicht entspricht. Es gibt eigentlich nichts, was sich seit den 1920er bzw. seit 1989 verändert hat. Jeder Kurde, den der Staat ermordet hat, ist ein Terrorist. Und wenn es einen lebendigen Kurden gibt, dann ist dieser für den Staat ein potentieller Terrorist.

 

Der Artikel erschien im Original am 12.09.2017 unter dem Titel “Devletin öldürdüğü her Kürt teröristtir!” im türkischsprachigen Nachrichtenportal artigercek.com.