Kann der Kampf der Zivilgesellschaft verboten werden?

sarmasik_amedNurcan Baysal für das Nachrichtenportal T24, 14.11.2016

Es war das Jahr 2004. Der Ausnahmezustand war gerade zu Ende und Diyarbakır hatte begonnen, die Wunden, die durch die Zerstörung und der Krieg erzeugt wurden, zu pflegen. Unter der Führung von Osman Baydemir, dem damaligen Oberbürgermeister von Diyarbakır, wurde eine große und äußerst traurige Versammlung abgehalten. Mit den Bildern von der Armut auf den Straßen von Diyarbakır wurde über die Armutsfrage in der Region diskutiert. Manchmal wurden diese  Darstellungen von Tränen begleitet. Bei dieser Versammlung beschlossen die aus Diyarbakir stammenden Menschen:  „Ohne Zeit zu verlieren, müssen wir den Kampf gegen die Armut aufnehmen“. Durch die Versammlung kamen Menschen aus den verschiedensten Schichten zusammen, darunter Ärzte, Anwälte, Lehrer und viele andere Arbeiter, und fassten 2005 den Entschluss zur Gründung von „Sarmaşık – Verein zur Bekämpfung der Armut“.

Der Verein wurde mit einer großen gesellschaftlichen Teilhabe gegründet. Es wurde nicht eine „Hilfe für Arme“, sondern die „Solidarität mit den Armen“ zum Motto gemacht und alle Mechanismen wurden dementsprechend aufgebaut. Die Familien, die unter der Armutsgrenze liegen, wurden ausfindig gemacht und mit der neu gegründeten Lebensmittelbank wurden diese monatlich unterstützt. Nicht allein die Menschen aus der Region, sondern tausende Menschen, unter anderem aus Çanakkale, Antakya, İstanbul, Köln oder London haben mit  monatlichen Spenden diese Familien unterstützt. Ein solches Format der Armutsbekämpfung wurde in der Türkei durch Sarmaşık erstmalig eingeführt. Durch die finanzielle Unterstützung von zehntausenden Menschen mit regelmäßigen  Beiträgen von 50 TL oder 100 TL hat Sarmaşık jeden Monat 5.400 Familien, also 35.000 Menschen unterstützt. Mit der Zeit hat Sarmaşık dieses Modell auf die Städte Mersin, Batman, Dersim und viele andere Orte übertragen. Vielerorts haben gar die staatlichen Stellen, Gouverneure und Landräte das Konzept der Lebensmittelbank nach dem Vorbild von Sarmaşık ins Leben gerufen. Ein frischer Wind wehte bei der Armutsbekämpfung in der ganzen Türkei.

Seit der Gründung von Sarmaşık habe ich ihre Arbeit sowohl als ehrenamtliche als auch als aktive Helferin unterstützt und mitverfolgt. Ich war immer sehr stolz auf das Team von Sarmaşık und ihre zwischenmenschliche Solidarität. Sie hat sich aber mit der Solidarität von Mensch zu Mensch nicht begnügt, sondern gezeigt, dass Armut kein Schicksal ist. In den letzten Jahren hat sie vielen Schikanen wie staatlichen Kontrollen und gerichtlichen Untersuchungen getrotzt.

Sarmaşık war nur eines von 370 Vereinen, die gestern durch das KHK ((Kanun Hükmünde Kararname = Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft)) geschlossen wurden. Viele Vereine aus der Region, die gestern geschlossen wurden, kenne ich aufgrund meiner 18 jährigen Erfahrung in der zivilgesellschaftlichen Tätigkeit gut. Sarmaşık, der Rojava-Hilfsverein, der Frauenverein Selis, der Verein der Religionsgelehrten von Diyarbakır, der Verein der Frauen aus Van, der Verein der Frauen aus Muş, der Dicle-Fırat Kultur- und Kunstverein, der Flüchtlingsverein GÖÇ-DER, der Frauendachverband KJA, der Verein der Vermissten und „Verschwundenen“ MEYADER, der Gefangenen-Solidaritätsverein TUHAD-FED, der Verein zur Förderung der kurdischen Sprache KURDİ-DER, der Kurdische Schriftstellerverein… Das sind diejenigen Vereine, die mir zunächst einfallen. Vereine wie der GÖÇ-DER wurden noch nicht einmal in den 90’er Jahren geschlossen.

Jeder einzelne Verein hat die ganzen Jahre unter schwierigsten Bedingungen, Repressionen und ohne Fördermittel ihre Arbeit ehrenamtlich verrichtet.

Bei den Vorbereitungen zu dem Buch “Zivilgesellschaft in Kurdistan”, das ich mit Şehmus Diken geschrieben habe,  haben wir mit all den Vereinen Interviews geführt. Dabei mussten wir feststellen, dass diese Vereine im Gegensatz zu anderen bekannten Vereinen anstelle von staatlichen Fördermitteln nur lokale Mittel erhalten. Sie verrichteten also mit einem großen ehrenamtlichen Einsatz, ohne sich in trügerischer Projektarbeit zu verlieren und ohne Ihre Prinzipien aufzugeben, beständig ihre Arbeit. Bei unserem Projekt, das wir vor zwei Jahren zu Zeiten der Friedensgespräche durchgeführt haben, haben wir vor allem in den Gebieten Şırnak, Cizre, Hakkari und Yüksekova festgestellt, dass die Mitarbeiter beunruhigt waren.

Wir haben auch beobachten können, wie sich die Zivilgesellschaft in Kurdistan entwickelt hat. Einer der wesentlichen Gründe für die enorme Entwicklung der Zivilgesellschaft ist, dass die Kurden sehr lange Zeit Unterdrückungen und Repressionen ausgesetzt waren und sich bei dem Kampf dagegen vielschichtig mobilisieren und organisieren mussten. Da es fast keine kurdische Familie gibt, die von den Repressionen und Unterdrückung nicht betroffen ist, und Menschen von Kindesbeinen an die Unterdrückung und Repressionen erleben und Zeugen dieser werden, ist die Unterstützung und gegenseitige Solidarität ein Teil des Alltags.

Wir haben beobachtet, dass trotz aller Repressionen die Aktivisten versuchen, die Wunden zu pflegen, mit Kunst Therapien durchzuführen, sich den zwangsumgesiedelten Kinder zu widmen oder die Gebeine der verschollenen Väter zu suchen. Wir standen meist müden Menschen gegenüber, die aber ihre Arbeit nicht vernachlässigten, auf ihre Arbeit stolz sind und zusammen versuchen, auf die Probleme Lösungen zu finden.

Dieser Kampf hat sehr viel Zeit beansprucht. Diese Zivilgesellschaft hat sich mit ihren Erfolgen und Misserfolgen mit den Jahren entwickelt. Kann eine solche Arbeit von heute auf morgen gestoppt und verboten werden?

Der Staat kann unsere Vereine schließen oder unterdrücken. Allerdings kann der Staat die Solidarität der Menschen und die Zivilgesellschaft nicht vernichten!