Mehmet Ali Beydağı zu der Verschiebung der kriegerischen Auseinandersetzungen auf die Grenzgebiete des Bürgerkriegslands Syrien und dem Wettrennen zwischen den USA und Russland, 21.06.2017
Während die Operation auf Rakka voranschreitet, überschlagen sich die Ereignisse in den Grenzgebieten des Bürgerkriegslands. Das gilt für den Norden Rojavas ebenso wie für das südliche Grenzgebiet zu Jordanien und die östlichen Grenzgebiete zur Autonomen Region Kurdistans und zum Irak.
Die Welt schaut derzeit gespannt darauf, wie die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) mit der Unterstützung der Internationalen Koalition den IS in seiner vermeintlichen Hauptstadt Rakka immer weiter in Bedrängnis bringen. Doch im Schatten der Rakka-Operation hat das russisch-iranisch-syrische Bündnis eine Operationswelle in Richtung einer weiteren strategisch wichtigen Stadt mit dem Namen Deir ez-Zor gestartet. Diese Stadt liegt südöstlich von Rakka und wird ebenfalls vom IS besetzt. Und während das syrische Regime mit tatkräftiger Unterstützung seiner Bündnispartner in Richtung irakischer Grenze vordringt, haben die schiitischen Milizen von Hashd al-Shaabi im Irak südlich von Mossul und Shengal bereits die Grenze zu Syrien erreicht. Gelingt es den syrischen Truppen also weiter in Richtung Osten vorzudringen und an der Grenze zu den irakisch-schiitischen Milizen vorzustoßen, hätte Teheran (und somit auch Moskau) die Aussicht auf einen durchgehenden Korridor vom Iran über den Irak bis nach Syrien (also zum Mittelmeer). Das wäre eine Entwicklung mit viel geopolitischer Sprengkraft.
Wie anfangs erwähnt, die Ereignisse überschlagen sich. So erreichten die Kräfte des syrischen Regimes bei ihrem Feldzug in Richtung Osten den Süden der Stadt Tabqa, das wiederum von den Kräften der SDF gehalten wird. Dann wurden zunächst Luftangriffe des Baath-Regimes auf Stellungen der SDF vermeldet, woraufhin die Internationale Koalition ein Kampfflugzeug des Regimes abschoss. Parallel zu diesen Ereignissen wurde vermeldet, dass die iranische Armee von der ostkurdischen Stadt Kermanshah aus (also vom iranischen Staatsgebiet heraus) Mittelstreckenraketen in Richtung von IS Stellungen in Deir ez-Zor abgefeuert hat. Das alles passierte allein am 18. Juni.
Bereits vor diesen Ereignissen kam es zu einer konstanten Aufwiegelung der politischen Spannungen. Vor allem Russland suchte nach Vorwänden, um den Vormarsch der SDF auf Rakka zu verlangsamen. Zunächst wurde das Gerücht gestreut, dass die SDF für die Islamisten der IS einen Korridor bei Rakka eröffnet hätten, damit diese in Richtung Süden abziehen und dort gegen die Regimekräfte vorgehen könnten. Diese unglaubwürdigen Gerüchte, die wohl ein direktes Vorgehen gegen die Kräfte der SDF legitimieren sollten, fielen auf keinen fruchtbaren Boden und verblassten schnell.
Als ich den Journalisten und Kenner der Region Ahmet Çimen zur aktuellen Situation in Syrien befragte, bestätigte er meine Beobachtungen. „Das Baath-Regime hat die Situation gut ausgenutzt. Dass sie ohne die libanesische Hisbollah, den Iran und natürlich Russland keine militärische Schlagkraft haben, steht außer Frage. Doch eben in dieser Kombination haben sie praktisch ein großes Feld ohne ernsthaften Widerstand des IS geräumt. Nun sind sie bis in den Osten von Aleppo und Homs, und bis in den Süden von Tabqa vorgestoßen. Sie werden sich wohl nicht in den Kampf um Rakka einmischen. Ihr Ziel ist Deir ez-Zor. Denn von Palmyra bis eben nach Deir ez-Zor liegt ein langer Landstreifen mit wichtigen Ölfeldern. Und natürlich geht es auch darum, gemeinsam mit den Milizen von Hashd al-Shaabi einen schiitischen Korridor vom Iran bis nach Syrien unter die eigene Kontrolle zu bringen“, so Çimen.
Doch schauen wir uns die Entwicklungen nochmal chronologisch an. Am 3. und 4. Mai wurde in Astana das Abkommen über Waffenstillstandszonen für Syrien unterzeichnet. Am 6. Juni haben die Demokratischen Kräfte Syriens die finale Befreiungsoperation auf Rakka gestartet. Anschließend hat auch das syrische Regime ihre Offensive gegen den IS begonnen und ist in der dritten Juniwoche bis in den Süden von Tabqa vorgestoßen.
Am 5. Juni hat Saudi Arabien auf Anstoßen der USA ein Embargo gegen Katar verhängt. Beschuldigt wird der kleine Golfstaat damit, bewaffnete Gruppen des Iran, die Muslimbrüder sowie den Hamas zu unterstützen und somit den Terrorismus zu nähren. Die Anschläge am 7. Juni auf das Parlament und das Khomeini-Mausoleum im Iran, bei denen 18 Menschen durch den IS getötet wurden, hat sich auch in der dieser chaotischen Phase ereignet. Am 10. Juni ist die syrische Armee nahe der südsyrischen Region von al-Tanf Richtung Osten vorgerückt und hat die Grenze zum Irak erreicht. Hiernach war der Plan, dass das Baath-Regime aus dem Westen und der Iran aus dem Osten in Richtung Deir ez-Zor vorrückt, um so einen weiteren Vormarsch der SDF nach der Rakka vorzubeugen. Außerdem ist die Stadt aufgrund ihres Wasser- und Ölvorkommens, sowie ihre Nähe zur irakischen Grenze von besonderer Bedeutung. Doch während die Kräfte des Baath-Regimes und des Iran vorrückten kam es auch die Region al-Tanf zu neuen Entwicklungen. Die USA bildeten einige FSA-Gruppen in der Region al-Tanf nahe der Grenze zu Jordanien und Irak militärisch aus, weil sie diesem Gebiet strategische Bedeutung beimessen. Aus diesem Grund haben die USA am 18. Mai, am 6. und 8. Juni die Kräfte des Baath-Regimes in der Region al-Tanf bombardiert und eine bewaffnete Drohne abgeschossen.
Wenn der Iran über Deir ez-Zor tatsächlich einen Korridor öffnen kann und ausbreitet, wird der Einfluss des Iran bis zum Libanon gestärkt sein. Die Versorgung zwischen der Hisbollah und der Hamas wäre erleichtert und mit der Verbindung zum Mittelmeer würde der Iran auch die Energieübertragungsleitung kontrollieren. Es gebe also von Teheran bis zum Mittelmeer und zum Libanon eine ununterbrochene Verbindung. Auch der Einfluss des Irans auf die kurdische Regionalregion, die Regierung in Bagdad und auf Damaskus würde sich vergrößern. Selbstverständlich würde das auch die Position der Demokratischen Föderation Nordsyriens deutlich schwächen. Auf internationalen Friedenskonferenzen wie in Genf würde sich die Position der Kurden dadurch nicht gerade verbessern. Die diplomatischen Bemühungen um die Anerkennung der Kurden und einen Status für die Föderation Nordsyrien würden einen herben Rückschlag erleiden.
Während sich all die oben genannten Entwicklungen ereigneten, waren bereits die Friedensverhandlungen Genf-6 und Genf-7 auf der Tagesordnung. Wenn die Vorstöße Russlands, des Irans und Syriens erfolgreich sind, dann wird ihren Stimmen in Genf mehr Gewicht zukommen. Wohin kann all dies führen? Der Raketenbeschuss des Iran auf Deir ez-Zor war eine Machtdemonstration und ein Einschüchterungsversuch. Eingeschüchtert werden sollten die Saudis und Rojava. Der Iran hat damit nichts anderes erklärt, als dass er zu Angriffen vom eigenen Boden in der Lage ist. In Zukunft können wir erwarten, dass die Kräfte des Baath-Regimes und die iranischen Milizen jede Gelegenheit nutzen werden, um bei Zustimmung Russlands und des Irans die Kräfte in Rojava anzugreifen.
Im Original ist die Kolumne am 20.06.2017 unter dem Titel “Dera Zor jeopolitiği” in der Tageszeitung Özgürlükçü Demokrasi erschienen.