Warum ist Erdoğan so bestürzt über die Katar-Krise?

Ein Kommentar des Journalisten Ferda Çetin zur den Hintergründen der Katar-Krise und Rolle der Türkei, 20.06.2017

Während sich die Befreiungsoperationen von Rakka und Mossul dem Ende nähern, werden wir Zeuge von neuen Entwicklungen wie der Katar-Krise.

Die von der Türkei, Saudi Arabien und Katar bis zuletzt unterstützen Banden haben gegen die Kräfte der HPG, YPG, YPJ und SDF große Niederlagen erlitten und wurden geschlagen.

Wenn al Qaida, die al-Nusra Front, der IS, Ahrar al-Scham, die FSA und die Selahaddin Brigaden im Irak und in Syrien nicht von den Kurden besiegt worden wären, wäre es heute vermutlich auch zu keiner “Katar-Krise” gekommen.

Die Katar-Krise tauchte kurz nach dem Besuch des US-Präsidenten im Nahen Osten und der arabischen Welt auf der internationalen Tagesordnung auf. Bei den Kontrahenten dieses Konflikts handelt es sich nicht um solche Staaten, die sich trationell feindselig gegenüberstehen. Nein, die Gegner sind Staaten, die über starke religiöse, konfessionelle und ideologische Gemeinsamkeiten verfügen.

Am 22. Mai 2017 wurde nach dem US-Islamischen Gipfel in der saudischen Hauptstadt Riad das “Globale Zentrum zur Bekämpfung extremistischer Ideologie” unter der Beteiligung von 55 Ländern eröffnet.

Die Frage, wer diejenigen sind, die radikales Denken vertreten und radikale Organisationen unterstützen, sollte also im Schatten der Bilder des US-Präsideten Trump, des saudischen Königs Salman und des ägyptischen Präsidenten al-Sisi diskutiert werden.

Gleichzeitig wurde das bis dahin wirkende Bündnis aus der Türkei, Saudi-Arabien und Katar in Luft aufgelöst. Ihre Pläne wurden geschlagen. Das einzige, was von dem gemeisam “Mittelost-Abenteuer” dieser drei Staaten übrig geblieben ist, sind die offenen Rechnungen ihrer Kriegsinvestitionen, die sie nun begleichen müssen.

Saudi Arabien hat einen großen Teil dieses Rechnungen mit dem Waffendeal im Umfang von 110 Milliarden Dollar, das als “größter Rüstungsdeal in der US-Geschichte” bezeichnet wird, beglichen. Die Sache, die als “Krise” bezeichnet wird, ist im Prinzip der Streit darum, ob und wie Katar nun seinen Teil der Rechnungen zu begleichen hat.

Und so kam es dann vor wenigen Tagen zu einem Waffendeal zwischen Katar und den USA in Höhe von 12 Milliarden Dollar. Doch auch wenn der US-Verteidigungsminister davon spricht, dass mit diesem Deal in 42 US-Bundesstaaten  60.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, bleibt doch weiterhin ein großer Betrag offen, den Katar auf irgendeine Weise noch zu begleichen hat.

Den Hanswurst des Mittleren Ostens, der keinen Cent in der Tasche hat und gezwungen sein wird, auf eine andere Weise seine Rechnung zu bezahlen, ist Tayyip Erdoğan. Saudi-Arabien und Katar werden mit ihren Dollar-Schecks ihre Fehlinvestition in die islamistischen Banden wieder gut machen. Der türkische Staat hingegen hat nichts, mit dem er seine Rechnungen begleichen könnte. Deshalb ist durch die Katar-Krise mehr Erdoğan als der Emir von Katar in Panik versetzt worden.

Es gibt auch noch andere Gründe für die Panik von Erdoğan. Es ist bekannt, dass die Türkei, um den Wertverlust ihrer Währung zu stoppen, pallettenweise Dollarscheine aus Katar erhalten hat. Als Gegenleistung hierfür erhielt Katar neben dem großen türkischen Teeproduzenten Çay-Kur auch noch kommunale Flächen aus den Städten Trabzon und Rize als Bürgschaft.

Zudem hatte Tayyip Erdoğan für den Moment, in dem er selbst in Bedränngis geraten und seine Macht verlieren könnte, Katar als das Land vorbereitet, in das er fliehen will. Er hat dort für sich und seine Familie Eigentum erworben und seinen Reichtum dorthin verfrachtet. Ein weiterer Grund für seine Bestützung kann also sein, dass diese Investitionen womöglich vergeudet waren.

Neben der Türkei erleidet auch Frankreich durch die Katar-Krise große Kopfschmerzen. Denn zur Regierungszeit von Nikolas Sarkozy hatte Katar im französischen Parlament und in Paris deutlich an Prestige gewonnen. Dieser Prestigezuwachs war selbstverständlich dem katarischen Geld und den Investitionen aus dem Wüstenstaat geschuldet. Die katarische Teilhaberschaft an Firmen wie Total, EADS, Areva oder die Übernahme des traditionseichen Fußballvereins Paris Saint-Germain sind nur einige Beispiele hierfür.

Vor drei Tagen hat sich deshalb ein äußerst interessanter Termin ereignet. Tayyip Erdoğan, der franzsözische Präsident Emmanuel Macron und der Emir von Katar Şeyh Temim bin Hamed Al Sani haben in einer Telefonkonferenz sich gemeinsam beraten. Und dies war nicht das erste gemeinsame Treffen dieser drei Staaten.

Frankreich, Katar und die Türkei haben zusammen am 31. Mai 2011 in Antalya und am 16. Juli 2011 zwei verschiedene Konferenzen organisiert. Diese Konferenzen können als Vorbereitungskonferenzen für die Kriege, die in der Folgezeit in Libyen und Syrien ausbrachen, sowie Beratungskonferenz für den laufenden Irakkrieg bezeichnet werden. Auch vertreten auf diesen Treffen waren nämlich die Vertreter verschiedenster Rebellengruppen. Teile dieser Rebellen haben dann bis zum Sturz Gaddafis in Libyen gekämpft. Nachdem ihre Aufgabe dort als erfüllt galt, wurden sie mit Hilfe von Katar in die Türkei gebracht, von wo sie mit ihrer erworbenen Kriegserfahrung nun im Irak- und Syrienkrieg mitmischen sollten.

In den letzten zehn Jahren haben sich die Türkei und Katar für so viele Massaker und schmutzigen Machenschaften verantwortlich gemacht, dass ihr Weg unweigerlich zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag führen wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in Katar zu einem Machtwechsel kommen könnte, bei dem sich die neuen Herrscher von den Machenschaften ihrer Vorgänger distanzieren würden. Doch was passiert dann mit Erdoğan und dem türkischen Staat? Ihre Verbrechen werden für die ganze Welt sichtbar werden.

Dies ist der Grund, weshalb Erdoğan wegen der Katar-Krise so bestürzt ist.

 

Im Original ist die Kolumne am 19.06.2017 unter dem Titel “Tayyip Erdoğan’ın Katar telaşı” in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika erschienen.