„Komm nicht wohlbehalten aus diesem Keller, meine Tochter“

Yasemin und VehapNurcan Baysal, Nachrichtenportal T24, 06.08.2016

Die Frau lädt mich in das Haus ein. Sie ist eine lange und dünne Frau. Neben ihr läuft immer ihr 7 bis 8- jähriger Sohn mit. Das Kind ist still. Es spricht nicht. Eine große Stille und Melancholie hat die Kinder dieses Hauses, die Wände und alles hier umfasst.

Sie nimmt mich mit in ein Zimmer. Wir setzten uns auf Matten auf den Boden. An der Wand hängen das Bild einer jungen Frau und das eines jungen Mannes. Die Frau ist die 16-jährige Tochter Yasemin Çıkmaz, die in den Kellern von Cizre verbrannt wurde. Der junge Mann ist der 22-jährige Sohn der Frau namens Vahap Çıkmaz, welcher in İdil getötet wurde.

„Sie waren noch Kinder“ beginnt sie zu sprechen. „Sie waren Schüler und haben sich gegenseitig nicht verlassen.“

Während der Ausgangssperre in Cizre haben sie ihre Häuser nicht verlassen. Am 24. Tag der Sperre waren sie dazu gezwungen in ein anderes Viertel zu gehen. Bis zum 37. Tag konnten sie noch in ihr Haus ein und aus gehen.

„Ich habe zu meiner Tochter ‚verlass das Haus‘ gesagt. Meine Tochter sagte: ‚Ich kann nicht kommen und meine Freunde zurücklassen‘. Niemand erwartete solch ein Niveau an Brutalität durch den Staat. Sie waren alle noch Kinder“.

Sie schaut zwischen durch auf die Bilder ihrer Tochter und fährt fort:

„Wir warteten bei der Stadtverwaltung auf eine Nachricht von unseren Kindern. Herr Faysal (Sariyildiz, HDP Abgeordneter aus Sirnak) war immer an unserer Seite. Er rief den Gouverneur an, der meistens keine Antwort gab. Wir gingen selbst als Mütter um unsere Kinder zu holen. Die Spezialeinheiten sagten uns gegenüber, ‚uns interessieren der Gouverneur und der Bürgermeister nicht. Wir sind hier und haben das Sagen‘.

Wir hatten keine Nächte und Tage. Die Psyche von uns allen war zusammengebrochen. Unter den fortwährenden Geräuschen der Mörsergranaten konnten wir nicht an die Fenster. Wir machten uns Sorgen um unsere Kinder. Nicht nur um unsere eigenen. Auch die anderen waren wie unsere Kinder. Sie kamen aus verschiedenen Städten. Sie waren gekommen um Frieden zu bringen. Sie waren unbewaffnet, sie waren noch Kinder. Man hat sie verbrannt.“

In den Anfängen der Sperre kam Yasmin ab und zu nach Hause:

„Yasemin kam eine Nacht nach Hause. Wusch sich und wechselte ihre Klamotten. Sie wollte schlafen, konnte aber nicht. ‚Es gibt Verletzte. Ich bringe sie weg und komme zurück‘, sagte sie. Eines Tages bin auch ich gegangen und habe meine Tochter gesehen. Es gab viele verletzte Studierende. Sie sagte zu mir: ‚Ich komme nicht Mutter, ich kann sie nicht hier lassen, die Sperre wird aufgehoben werden und wir kommen zusammen.‘ “

„Komm nicht wohlbehalten aus diesem Keller, meine Tochter“

In diesen Tagen wird in Cizre eine Frau getötet. Ihr Körper wird mitten auf der Straße nackt zur Schau gestellt. Dieses Ereignis erschüttert die Mutter Esmer Çıkmaz zutiefst:

„Eine Frau wurde getötet. Ihr Körper wurde zur Schau gestellt. Ich muss immer an sie denken. Sie war auch wie unsere Töchter. Die Täter haben auch Mütter, Schwestern und Töchter. Haben sie nicht daran gedacht, als die das gemacht haben. Nach diesem Ereignis habe ich gebetet, dass meine Tochter nicht wohlbehalten aus diesem Keller herauskommt. Ich musste immer an diese Brutalität denken. Dass sie ihr dasselbe antun könnten. Ich konnte später noch einmal meine Tochter zu Gesicht bekommen. Ich bin bis zur Tür des Kellers gegangen, die Spezialeinheiten waren schon herbeigeeilt. Ich sagte ‚Komm nicht wohlbehalten aus diesem Keller, meine Tochter. Macht was ihr wollt, aber lasst euch nicht gesund ergreifen‘.

Der Tod

Yasemin wird ein paar Tage später verletzt:

„Wir haben mitbekommen, dass meine Tochter verletzt wurde und riefen die 155 (Polizeinotruf) an. Man antwortete uns, dass wir bei der 112 anrufen sollten. Die Ambulanz kam und machte vom Park aus Annoncen, doch von dort war es nicht möglich, dass sie bis in den Keller gehört werden. Sie töteten sowieso jeden, der aus dem Kellern kommen wollte. Eines der Kinder, Abdullah Gün, wollte aus Kellern hinaus. Sie sagten zu ihm: ‚Zieh deine Kleidung aus‘. Er tat, was sie sagten, und wurde trotzdem erschossen.

Nachdem die Namen der Verletzten in den Kellern in den Medien auftauchten, gab es an jenem Abend um 20:30 eine große Explosion. Wir dachten, es gebe ein Erdbeben. Später kam dann bei TRT die Nachricht, dass „60 Terroristen in den Kellern ergriffen“. In dieser Nacht haben sie alle verbrannt. Sie waren alle noch Kinder“.“

„Sie waren alle noch Kinder“ sind die Worte, die ich am meisten von Mutter Esmer höre…

„Später ist ihr Vater nach Silopi gegangen um ihren Leichnam zu finden. Wir sind in die Leichenhallen in Mardin, Antep, Urfa und Silopi gegangen und haben unsere Tochter gesucht. Später ist ihr Leichnam im Staatskrankenhaus in Cizre aufgetaucht. Ihr Gesicht war vollständig verbrannt. Ihr linkes Auge haben sie ausgestochen. Ich konnte mir dann nicht mehr den restlichen Leichnam anschauen. Ihre Haut war zusammengeschrumpft. Ich konnte nur in ihr Gesicht blicken. Der Rest war vollständig verbrannt, nur Knochen sind übrig geblieben.“

Der Sohn

Nach einer langen Stille fragte ich nach ihrem Sohn. Dieser hat sich vor sechs Jahren der PKK angeschlossen:

„Er war nach Kobanê gegangen. Wir dachten er sei da. Von dort ist er nach Idil gegangen. Wir hatten keine Nachricht. Die Polizei ist gekommen und hat nach meinem Sohn gefragt. Wir empfingen gerade die Beileidsbesuche für meine Tochter. ‚Ihr habt meine Tochter getötet und fragt nach meinem Sohn‘, habe ich ihnen gesagt. Sie sagten: „Nein, nicht wir, sondern die Organisation hat sie getötet“. Ich sagte „Nein, ihr habt keine Ambulanz geschickt. Ihr wart das. Der Polizist sagte zu mir: „Du hast deine Tochter, ich habe meine 50 Soldaten verloren“. Ich schrie ihn an: „Wir sind Kurden. Wir werden nicht mehr von unserer Kultur abkehren. Diese Brutalität erfahren wir nur, weil wir Kurden sind“.

Vom Tod meines Sohnes erfuhr ich bei der Trauerveranstaltung für Yasemin.“

Das Schweigen Europas

Ein weiterer Punkt, der die Mutter sehr verletzt, ist das Schweigen des Westens:

„Ganz Europa hat geschwiegen. Hätten sie an diesen Tagen bisschen Lärm gemacht, hätte sich dieser Schrecken nicht ereignet“.

Sie sagen, die PKK hat die Barrikaden errichtet. Die PKK war das nicht. Wir waren das. Das Volk, unsere Kinder haben sie aufgebaut. Jetzt verstehe ich, warum unsere Kinder sie aufgebaut haben. Jeden Tag gab es Festnahmen. Was sollen unsere Kinder gegen diese Staatsrepression tun. Die einzige Möglichkeit ist der Weg in die Berge. Am Ende gibt es keinen anderen Weg, außer den des Friedens. Auch Erdogan wird das lernen.“

Sie schweigt und fährt fort: „Eines Tages wird diese Gewalt alle erreichen. Auch diejenigen, die heute schweigen. Das Schweigen wird niemanden schützen.“

„Wer in diesem Land an die Macht gekommen ist, hat gegen die Kurden gekämpft. Demirel, Evren, Ciller und Ecevit haben die Kurden Höllenleiden erleben lassen. Sie haben so viele Menschen getötet. Was haben sie nun davon. Ihre Kinder sind nicht in Keller gezwängt worden. Die türkische Gesellschaft sollte ihre Stimme erheben. Sie sollen die an der Macht stehenden fragen, was deren Kinder machen.“

Vor dem Verlassen des Hauses möchte ich noch ein Bild von den Porträts von Yasemin machen.

„Fotografier das Bild am Eingang des Hauses“, sagt sie: „Auf diesem Bild sieht sie aus wie eine Braut“.