Die Vergangenheitsbewältigung braucht eine Gerechtigkeits- und Wahrheitskommissionen
Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., August 2013
Die Politikwissenschaftler Helmut König und Michael Kohlstruck definierten 1998 den Begriff Vergangenheitsbewältigung als Sammelbezeichnung für Aktivitäten, mit denen sich demokratische und der Wahrung der Menschenrechte verpflichtete Gesellschaften befassen, um eine von Diktatur und Verbrechen gekennzeichnete Vergangenheit aufzuarbeiten.
Die Aufarbeitung und der Umgang mit der eigenen Geschichte ist auch für die Gesellschaft der Türkei und ihre politischen EntscheidungsträgerInnen eine schwerwiegende Verpflichtung, die weder gegenüber den ArmenierInnen noch gegenüber den KurdInnen bis dato erfüllt werden konnte. Ohne dies sind jedoch eine Demokratisierung des Landes und die Gestaltung einer friedlichen Zukunft der Völker nicht denkbar.
Nach langen Verhandlungen zwischen der türkischen Regierungspartei AKP und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK sowie der Partei für Frieden und Demokratie BDP als Vermittler inhat mit der Newroz-Deklaration von Herrn Abdullah Öcalan am 21. März dieses Jahres ein historischer Friedensprozess in der Türkei begonnen. Im Rahmen eines ausgearbeiteten Drei-Phasen-Planes soll nach mehr als 30 Jahren ein Krieg, der annähernd 40.000 Menschen das Leben kostete, endlich beendet werden.
Der Wille und das gegenseitige Vertrauen der beiden Konfliktparteien sind für den Erfolg des Friedensprozesses ausschlaggebend. In der bereits eingeleiteten ersten Phase findet der Rückzug der Guerilla-Einheiten aus den Gebieten der Republik Türkei statt. Anschließend soll in der zweiten Phase die Regierung der Türkei mit Reformen und Maßnahmen auf die Forderungen der KurdInnen, die im Grunde den Kopenhagener Kriterien entsprechen, reagieren. In der dritten Phase, der sogenannten Normalisierung, soll schließlich die politische, soziale und kulturelle Partizipation der KurdInnen und ihre politischen VertreterInnen ermöglicht werden.
Während in den Medien und der Öffentlichkeit umfassend über den »Friedensprozess« berichtet wird, herrscht auf beiden Seiten ein gewisses Misstrauen. Derzeit ist es schwer abzuschätzen, ob der Friedensprozess wirklich alle Phasen übersteht und erfolgreich abgeschlossen werden kann. Die PKK hat mit dem Abzug ihrer bewaffneten Einheiten aus dem Gebiet der Türkei begonnen und damit den ersten Schritt gemacht, um ihre lösungsorientierten Absichten zu untermauern.
Um einen gerechten und dauerhaften Frieden zu erlangen und den guten Willen der kurdischen Seite nicht zu enttäuschen, muss die türkische Regierung nun mit entsprechenden Maßnahmen und Reformen reagieren.
So wie in vielen anderen Fällen von ethnischen Konflikten und Friedensschlüssen ist auch dieses Mal die Vergangenheitsbewältigung für den Erfolg des Friedensprozesses und das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft essentiell. Die »Gacaca-Prozesse« in Ruanda sowie viele andere Beispiele in der Geschichte der Menschheit haben gezeigt, dass ohne die vollständige und gerechte Aufarbeitung der Vergangenheit ein Frieden nicht möglich ist.
So forderte die kurdische Seite zusammen mit Menschenrechtsorganisationen wiederholt die türkische Regierungspartei auf, eine »Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission« zu gründen. Im Rahmen dieser Kommission soll die Aufarbeitung und Verfolgung der erlebten Verbrechen, der sogenannten »Morde unbekannter Täter«, der Massengräber, der »Verschwundenen« und der grausamen Folterpraktiken aufgeklärt werden.
Durch die jahrzehntelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK-Guerilla sind über 3.500 kurdische Dörfer nach Berichten der Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV zerstört und entvölkert worden. 4,5 Millionen KurdInnen sind laut dem Selbsthilfeverein für Flüchtlinge Göç-Der (die UN sprechen von 3,5 Mio.) vom Land in die Großstädte oder nach Europa geflohen.
Es wurden mehr als 17.000 Morde von sogenannten unbekannten Tätern begangen. Laut Berichten mehrerer Menschenrechtsorganisationen wurden seit 1989 überwiegend in kurdischen Städten Menschen, darunter politische AktivistInnen, PolitikerInnen, JournalistInnen, AnwältInnen und BäuerInnen, von staatlichen Todesschwadronen verschleppt, extralegal hingerichtet und die meisten davon in Massengräbern verscharrt. In dem genannten Zeitraum wurden laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD 5.000 Menschen extralegal hingerichtet und 5.800 Menschen zu Opfern von Angriffen unbekannter Täter. 1.368 Menschen werden noch immer vermisst. (Quelle: IHD und Presse, Stand September 2009). Bereits über 400 Mal (24.11.2012) versammelten sich die »Samstagsmütter« (Cumartesi Anneleri), Angehörige der Verschwundenen, samstags in Istanbul auf dem Galatasaray-Platz, um nach dem Verbleib ihrer Kinder und Angehörigen zu fragen. Die »Samstagmütter« treffen sich seit Mai 1995 mit einer Unterbrechung nach 1999 jeden Samstag in mehreren Städten. (Quelle: IHD und Presse, Stand 10.12.2012)
Was nach dem Ende eines solchen Traumas und Unrechts an einem Volk bleibt, ist die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit und wie man dieses Leid aufarbeitet. Der Menschenrechtsverein IHD hat zuletzt auf einer Veranstaltung im Mai unter dem Titel »Verschwundene und Massengräber» eine interaktive Karte zu den Sammel- und Massengräbern in der Türkei sowie eine aktualisierte Fassung eines Berichts über die Massengräber veröffentlicht. Demzufolge gibt es mindestens 3.248 Leichname in 253 verschiedenen Gräbern. Der IHD-Sekretär Bilici fasste die bisherigen Ergebnisse der Aufarbeitungskommission zusammen und stellte eine Reihe von Forderungen an die Regierung.
Hierzu gehören in erster Linie die Gründung einer »Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission« in Anlehnung an internationale Erfahrungen aus anderen Konflikten sowie der Aufruf zur Unterzeichnung der UN-Vereinbarung gegen Verschleppung. Die Aufklärung und rechtliche Verfolgung der Fälle von verschwundenen Menschen und Morden unbekannter Täter sind zentrale Aufgaben der Kommission. Hierfür ist die Öffnung und Untersuchung der staatlichen Archive für die Arbeit der Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission notwendig. Auf der anderen Seite müssen auch alle Unterlagen und Informationen der PKK übergeben und untersucht werden. Die Massengräber müssen unter internationaler Beobachtung geöffnet und die Identitäten der Opfer durch unabhängige Kommissionen unter Zuhilfenahme von Experten untersucht werden. Die sterblichen Überreste der Menschen in den Massengräbern müssen den Angehörigen übergeben werden, die Aufdeckung der geheimen Gräber der spurlos »Verschwundenen« und die Aufklärung der »Morde unbekannter Täter« sind für einen wirklichen Frieden unabdingbar. Der Staat muss durch eine lückenlose Aufklärung glaubhaft machen, dass es nicht noch einmal zu solchen Taten kommen wird.
Trotz der intensiven Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen, der Samstagsmütter und weiteren demokratischen Kräften und Intellektuellen weigert sich die türkische Regierung, eine »Gerechtigkeits- und Wahrheitskommission« zu gründen und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Diese Haltung der AKP-Regierung erschwert den KurdInnen an einen gerechten Frieden zu glauben, und gefährdet den Erfolg des Friedensprozesses.