Eine Verleugnung der Kurdinnen passt nicht mehr ins Konzept

günay aslan riza altunWelche Rolle spielen die KurdInnen in einem sich verändernden Mittleren Osten?
Riza Altun im Interview, befragt von Günay Aslan

Riza Altun, Mitbegründer der PKK, beantwortete im Kandil Fragen des Journalisten Günay Aslan zu den Kräfteverhältnissen im Mittleren Osten, zum Wandel in der PKK und den entsprechenden Auswirkungen, zur Situation der PKK und der KurdInnen in der neuen Ära, zu Risiken und Chancen, dem gesellschaftlichen Wandel und über die Anforderungen der aktuellen Phase.

Wie beurteilen Sie im allgemeinen Kontext die tiefgreifenden Entwicklungen im Mittleren Osten?
Es ist unmöglich, die tiefgreifenden Entwicklungen im Mittleren Osten unabhängig von den globalen Entwicklungen zu betrachten. An sich wäre allein das schon Thema einer eigenen Analyse, aber um es kurz zu machen: Die Erfahrungen der letzten hundert Jahre machen einen Wandel unabdingbar. Die Notwendigkeit der Erneuerung der kapitalistischen Moderne ist der Beginn des Aufbaus einer neuen Welt. Das ist ein seit langem anhaltender Prozess. Neu ist, dass jetzt der Mittlere Osten auf der Tagesordnung steht.

Auch Sie sind eine Partei aus der Zeit des Kalten Krieges. Haben sich aktuell, da im Mittleren Osten neue Kräfteverhältnisse geschaffen werden, die Perspektiven Ihrer Partei geändert?
Natürlich haben wir uns gewandelt. Unsere Kritik am Realsozialismus brachte in ideologischer Hinsicht viele Veränderungen mit sich. Diese haben sich auf die Organisierung und den praktischen Kampf ausgewirkt. Wir haben eine ernsthafte Veränderung durchlebt. Der Mittlere Osten hatte nach dem Ersten Weltkrieg einen bestimmten politischen Status. Die politische und gesellschaftliche Lage hat nun den Wandel zwingend notwendig gemacht. Nach dem offiziellen Fall des Realsozialismus traten die bis dahin durch den politischen Druck verdeckten Probleme offen zu Tage. Und das hat wiederum zur Selbstreflexion des Kapitalismus geführt. Um seine Existenz fortsetzen zu können, musste er sich und mit ihm die Welt sich eine neue Form geben. Und nun steht vor uns der Mittlere Osten – der unser Bezugspunkt ist – in dieser sich im Wandel befindlichen Welt.

Lässt sich also sagen, dass das von England im Mittleren Osten errichtete System zerfallen ist?
Wir können allemal davon sprechen, dass das hundertjährige System zerfallen ist. Es war ein historischer Prozess bis zur gegenwärtigen Form. In der derzeitigen Lage ist der Zerfall endgültig, aber es ist noch nicht klar, was kommen wird. Es ist noch offen, wie das Neue aufgebaut sein, wohin es gehen wird und was langfristig seine grundsätzlichen Charakteristika sein werden.

Wie betrachten Sie die Realität der KurdInnen und Kurdistans in dieser Region?
Unmöglich, dass sich der Umbruch im Mittleren Osten nicht auf sie auswirkt. Im vergangenen Jahrhundert führten sie in den vier Teilen ihres Landes unter verschiedenen Führungen ihren Kampf gegen die ihnen auferlegten Regime. Ihr intensiver Kampf und die Auswirkungen des globalen Wandels führten für sie zu einigen Ergebnissen. Eines muss deutlich hervorgehoben werden, die KurdInnen sind nicht mehr die alten. In dem neu entstehenden Gleichgewicht werden sie einen Platz einnehmen. Das sollte aber nicht zu Fehlannahmen verleiten. Der Status, der ihnen zugedacht ist, steht weder international noch seitens der regionalen Kräfte fest. Es entwickelt sich zwar eine Welle des Umbruchs, aber nicht unbedingt eine nach unserem Verständnis revolutionäre. Die Wut der Menschen dieser Region gegen ihre Regime, ihre revolutionäre Rolle, will ich nicht in Abrede stellen, aber wenn wir die politischen Kräfte betrachten, welche die Ordnung des Mittleren Ostens herzustellen vermögen, wird das Problem komplexer.

Werden andere Kräfte das Schicksal des Mittleren Ostens besiegeln?
Wir können nicht davon sprechen, dass die derzeitige Ordnung des Mittleren Ostens über die des Kapitalismus hinausgewachsen ist. Die Völker führen einen Kampf, aber er ist nicht sehr organisiert. Sie haben zwar demokratische Forderungen, diese jedoch noch nicht in einem politischen Programm formuliert. Das äußert sich mehr unter der Einflussnahme oder Anleitung von außen. Wenn die heutigen Regime sich dem Wandel widersetzen, dann kommen zwei Folgen für sie in Betracht: Entweder wird die oppositionelle Basis still und heimlich [von außen] unterstützt, mit dem Ziel, das Regime zu stürzen, oder internationale Kräfte greifen direkt ein und erledigen das. Auch gibt es durchaus Regime, die im Einklang mit dem Wandel stehen. Aber sie vertreten keinen klaren Richtungswechsel und sind nicht absolut. In Tunesien hat ein Wandel stattgefunden, aber die Kräfte, die stellvertretend für den Wandel stehen, konnten sich bisher noch nicht fest institutionalisieren. In Libyen und Ägypten sieht es nicht anders aus. Für welches Regime sie stehen, wie es aufgebaut werden soll, diese Fragen sind unbeantwortet. In dieser Hinsicht dauert der Kampf an.

Ist für Sie erkennbar, ob die globalen Kräfte offen sind für ein unabhängiges Kurdistan im Mittleren Osten?
Auf internationaler Ebene gibt es zwar in Bezug auf die KurdInnen eine bestimmte Strategie, die Intention ist jedoch nicht klar. Sie wird im Unbestimmten gelassen. Und das ganz bewusst. Dass die Strategie nicht klar beim Namen genannt und offen in diese Richtung gehandelt wird, hängt mit der Teilung und historischen Vergangenheit der KurdInnen zusammen. Den starren Nationalstaaten wird ein flexibleres Modell [als Weg] aufgezeigt. Der Mittlere Osten hat selbst mit der Umsetzung dieses Modells ernsthafte Schwierigkeiten. Selbst das Bemühen um Reformierung der Regime geht momentan nur sehr schmerzhaft vonstatten. Wo immer ein Wandel aufgezwungen wird, da entstehen neue Probleme. Dies muss bedacht werden. Sehen Sie sich Libyen an. Gaddafis Existenz schien nicht mehr opportun, also wurden Sippen organisiert und haben gemeinsam mit ausländischen Kräften das Regime gestürzt. Und es ist unklar, was für ein Regime in Libyen entstehen soll. Es gibt keine Garantie dafür, dass bei einem Stocken des Prozesses nicht ein Regime entsteht, das weit reaktionärer ist. Es herrscht Chaos. Auch das in Ägypten gegründete Regime ist nicht anders. Betrachten wir die grundlegenden Kräfte der am Sturz von Mubarak Beteiligten, dann erkennen wir, dass die USA, das Militär, die Muslimbruderschaft und weitere Gruppen dahinterstanden. Mit dem Wechsel des Regimes tauchen ernsthafte Fragen über das Wer und das Wie einer nachfolgenden Regierung auf. Die Probleme werden also nicht allein mit dem Wechsel oder dem Sturz der bestehenden Regierung gelöst werden. Weitere Probleme entstehen dann beim Aufbau des Neuen. Ich gehe davon aus, dass die Suche nach einem Neubeginn längerfristig andauern wird.
Im Hinblick auf die KurdInnen bedeutet das, dass sie beim Umbruch und Neuaufbau des Status quo eine sehr wichtige Rolle einnehmen werden. Aber es ist in der derzeitigen Lage nicht der richtige Zeitpunkt, um die kurdische Identität und unsere strategische Sichtweise darzustellen. Uns steht die Dynamik der arabischen, persischen und türkischen Nationalstaaten gegenüber. In dieser Hinsicht würde eine strategische Aussage, welche die KurdInnen umfasst, für die internationalen Mächte bedeuten, sich vom Mittleren Osten insgesamt verabschieden zu müssen. Aber eine Verleugnung der KurdInnen wie bisher passt ihnen auch nicht ins Konzept. Was bleibt also? Sie werden sich vorerst nicht dazu äußern, um parallel in dem Maße, in dem der Mittlere Osten neu Gestalt annimmt, dann auf die KurdInnenfrage zu drängen. Wichtig ist, dass die Unklarheit für die KurdInnen ein Ende nimmt. Wenn im Mittleren Osten also ein wirklicher Wandel vollzogen werden soll, und wenn die KurdInnen einen Beitrag dazu leisten sollen, dann muss die Strategie klar sein. Die KurdInnen werden sich nicht von der Tagespolitik instrumentalisieren lassen.

Dann müssen wir über zwei Dinge sprechen. Erstens: Welche Rolle spielt die kurdische Politik im Hinblick auf den Wandel des Mittleren Ostens, hat sie ihre historische Mission erfüllt oder nicht? Und zweitens: Hat die kurdische Politik als Ganzes die Neuordnung des Mittleren Ostens schon frühzeitig erkannt und sich dementsprechend vorbereitet, ihre Politik in diese Richtung ausgerichtet?
Es wurden Anstrengungen in dieser Hinsicht unternommen. Wie Sie wissen, gibt es in Kurdistan verschiedene Tendenzen, Strömungen, Organisationen und Meinungen. Es wäre nicht richtig, alle gleichzusetzen, aber wir können einen allgemeinen Rahmen setzen. Es mangelt daran, diesen Wandel frühzeitig vorauszusehen und dementsprechend eine allgemeine kurdische Politik zu entwickeln und so Fortschritte zu erzielen. Es gibt also einen Mangel an Voraussicht und eine geteilte Haltung. Den Wunsch nach einer strategischen Rolle in der Region zu hegen, gleichzeitig jedoch im Hinblick auf eine Einheit der KurdInnen so unvorbereitet zu sein, ist ein wichtiger Kritikpunkt. Ich kann nur sagen: Egal welche politische Ansicht, Strategie und Ideologie auch vertreten wird, es bedeutet, einen strategischen Moment und eine historische Chance zu verpassen. Wenn wir die Einheit erreicht hätten, dann wäre die Situation der KurdInnen im Mittleren Osten heute klar. Was wir tun müssen, ist Folgendes: Wir werden unseren Kampf fortsetzen und sowohl auf regionaler als auch auf internationaler Ebene alle unter Druck setzen, damit unsere Realität anerkannt wird.

Auch wenn es unterschiedliche Strömungen und Uneinheitlichkeit unter ihnen gibt, wie bewerten Sie es, dass die kurdischen politischen Parteien und Organisationen bis heute nicht zu einer nationalen Plattform zusammengekommen sind?
Das ist natürlich eine ganz erhebliche Schwäche. Dabei gibt es einen sehr grundsätzlichen gemeinsamen kurdischen Nenner. Ihnen allen ist die kurdische Realität gemein. Sie alle sind national, sprachlich, in jeder Form kulturell verleugnet, geteilt und einem Prozess der Vernichtung ausgesetzt worden. Allem voran ist die Aufhebung dieser Verleugnung der gemeinsame Nenner aller. Von Beginn an wäre eine nationale Einheit dieser Verschiedenen notwendig gewesen. Ich werde nicht darauf eingehen, wer was gemacht hat. Wir hatten zwar in der Vergangenheit Vorschläge, Forderungen und Vorstöße in der Richtung unternommen, aber wie überzeugend wir waren, wie richtig wir damit lagen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es gibt ein Problem aller, das es zu lösen gilt. Die Kräfte im Süden, im Südwesten, im Osten und Norden hätten trotz aller Unterschiede ein jeder für sich die Lage der sich im Wandel befindlichen Welt, deren Auswirkungen auf den Mittleren Osten und auf die KurdInnen sehr konkret ermitteln müssen und so die grundlegenden Forderungen ihrer jeweiligen Bereiche herausarbeiten können. Die Herausarbeitung der grundlegenden Forderungen wäre ihr Beitrag zur Entwicklung einer nationalen Einheit gewesen. Wenn auch nur minimal, so hätten sie diese zumindest formulieren können. An diesem Punkt gibt es ernsthafte Versäumnisse. Im Vergleich zu früher hat es eine Annäherung gegeben, sie ist jedoch nicht ausreichend. Der althergebrachte Sprachgebrauch, die Analysen und Ansichten haben sich geändert. Es gibt so etwas wie gegenseitige Solidarität. Das ist zwar gut, aber wir erleben im Mittleren Osten den Moment einer Revolution. Und dafür ist das alles nicht genug. Dies ist ein Thema zur Selbstkritik: Niemand ist über seine eigenen Grundlagen hinausgewachsen.

Die Parteien in Kurdistan sind meist regionale Parteien. Die PKK jedoch ist in allen vier Teilen Kurdistans und in der Diaspora organisiert. Sie hat die Besonderheit einer modernen Organisation. Wie bewerten Sie diese historische Mission der PKK?
Was Sie angemerkt haben, ist ganz richtig. Die PKK ist eine ganz andere Organisation als die anderen, aber die für Kurdistan kämpfenden Kräfte in den anderen Teilen Kurdistans haben auch ganz andere elementare Eckpfeiler, auf die sie sich beziehen. Auch das darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird so manches verständlicher. Wir haben uns schon in der Vergangenheit um die nationale Einheit bemüht, aber die Ansichten der anderen Kräfte in Bezug darauf müssen analysiert werden. Sie haben außerhalb ihrer Interessen zu anderen Gruppen und Netzwerken Verbindungen, die sie binden. Entweder gibt es aufgrund des Drucks dieser Netzwerke oder aufgrund der Haltung der hinter ihnen stehenden politischen Bewegungen keine Reaktion. Und da keine Reaktion erfolgt, wurschtelt jede Bewegung, auf ihren Bereich gestützt, vor sich hin.
Die PKK erhält weder regional noch international Unterstützung. Deshalb ist es auch nicht realistisch zu erwarten, dass, wenn der Mittlere Osten neu formiert und von denen eine neue kurdische Strategie entwickelt werden sollte, jemand auf die Idee käme, dies mit der PKK als Referenz und auf diese Bezug nehmend zu tun. Das ist ja gerade das Problem. Wäre die PKK von Anfang an so wie die anderen traditionellen Bewegungen in Kurdistan, dann wäre es nie zur jetzigen Situation gekommen. Dann wäre das, was wir bemängeln, schon Realität. Einmal angenommen, die politische und ideologische Situation sowie die hinter ihnen stehenden Kräfte seien dem gegenüber offen, dann wäre die Einheit schon eine Realität. Aber dem ist nicht so. Nun ist das Problem die Situation der PKK und ihr Image in der Welt.

Lenkt die neue Phase die PKK denn nicht in diese Richtung?
Die PKK könnte inmitten der Veränderungen im Mittleren Osten und der innerkurdischen Entwicklung eine sehr wichtige Position einnehmen. Wir können feststellen: Wenn es ihnen nicht gelingen sollte, die PKK mit der neu entwickelten Politik zu vernichten, dann müssen sie sich einer Politik der Zähmung zuwenden, das bedeutet, sie in dieses System zu integrieren. Es ist dazu übergegangen worden, zumindest auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Wäre das Ihrer Meinung nach denn so schlimm?
Wenn wir dem in der derzeitigen Lage zustimmen würden, dann wäre das natürlich schlimm. An diesem Punkt wäre es natürlich interessant, mit welcher Strategie und Taktik die PKK denn ihre eigene Existenz zu schützen gedenkt.

Bietet sich in einer Zeit zunehmender Legitimität der PKK auf internationaler Ebene da nicht mehr als eine bloße politische Integration? Wird sich da nicht eher die PKK als Verhandlungspartnerin anbieten?
Im Praktischen hat sich schon viel getan. Im Süden ist ein föderativer Staat entstanden. Das ist nicht zu unterschätzen. Diese Chance muss gut analysiert werden. Was bedeutet es für die KurdInnen ganz allgemein und was für die PKK? Das sind Themen, die intensiv diskutiert werden müssen. Zeitgleich wurde die gegen die PKK gerichtete Politik und Aktivität forciert. Da wäre die Auslieferung unseres Vorsitzenden, die Aufnahme der PKK auf die Terrorliste, Versuche, sie zu liquidieren, Festnahmen, Operationen … Aus dieser Sicht ist erkennbar, dass das nicht zufällig ist und war. Es gibt den Widerstand der PKK dagegen. Auch hat sie in diesem Zusammenhang ihren Wandel durchlebt und ihre Politik gestaltet. Ihre Politik sollte jedoch nicht nur aus dem ideologischen Blickwinkel bewertet werden. Es muss auch berücksichtigt werden, wie notwendig oder nicht ihre aktuelle Politik in der jetzigen Situation ist. Natürlich betreibt die PKK Politik. Sie macht das, indem sie Widerstand leistet und sich gegenüber einer gewandelten Welt ideologisch erneuert.

Führt diese Erneuerung zu einer Annäherung?
Ja, das tut sie. Wir gehen sicher nicht dogmatisch vor. Wir können nicht in realsozialistischer Manier eine dogmatische Politik betreiben. Die PKK betreibt Politik, um ihre eigene Existenz zu wahren und das auch in einer neu formierten Weltordnung zu können. Das ist keine neue oder kurzfristige Situation, sondern heute nur auf einem höheren Niveau.

Dann will ich mal so fragen: Sehen Sie irgendeinen Grund, der eine Neugestaltung der PKK in einer neuen Ära negieren würde?
Die Wandlungsprozesse der PKK sind von großer Bedeutung und müssen dahin gehend betrachtet werden, »von wo nach wohin« man gelangt ist. Das ist sehr wichtig. Insbesondere nach der Festnahme des Vorsitzenden hat ein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden. Ich sage dies klar und deutlich. Es handelt sich dabei um einen ideologischen Wandel. Er war nicht oberflächlicher Natur, denn grundsätzliche Argumente haben sich darin geändert, eine Neuorientierung hat stattgefunden. Das hat Auswirkungen auf alles andere. Das neue Paradigma zu verstehen, sich dessen bewusst zu werden, was das konkret für Folgen hat, es im eigenen Handeln zu verankern und zunehmend in ihm eigenen Organisierungen umzusetzen und in der Hinsicht den Kampf zu forcieren, das dauert schon eine geraume Zeit. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist das sicherlich ein ernstes Problem.

Haben eventuell politische Gewohnheiten dazu geführt, dass dieser Wandel nicht in dem gewünschten Maße umgesetzt werden konnte …
Ja, wir können sogar heute noch nicht behaupten, dass es vollbracht worden sei.

Das Hinterherhinken beim Übertragen dieses neuen Paradigmas auf das Organisatorische, das Gesellschaftliche und die Entwicklung einer ihm entsprechenden Politik scheint in Zukunft ernste Probleme bereiten zu können …
Ich betrachte das Auftreten von Problemen als völlig normal. Ein Wandel ist nicht an einem Tag vollziehbar, sondern auch etwas, das Schwierigkeiten beinhaltet. Es kann aber nur vollbracht werden, wenn das Notwendige getan wird und Probleme gelöst werden. Die PKK sagt, dass in Kurdistan eine demokratische Organisierung und ein demokratisches Verhalten notwendig sind, dass alle das Recht haben sollen, sich zu äußern und sich zu organisieren. Das umzusetzen ist aber gar nicht so leicht, wie man geglaubt hat. Es macht einen tiefgreifenden Mentalitätswandel nötig. So sollte der Wandel als ein Prozess begriffen werden, in dem die Probleme nach und nach durch die richtige Lösung überwunden werden können. Das ist der Dreh- und Angelpunkt, den gegenwärtigen politischen Prozess erfolgreich zu absolvieren.

Als sich die Möglichkeit der Beendigung des Guerillakampfes offenbarte, zeigten sich in der kurdischen Öffentlichkeit Zweifel. Sind diese Zweifel berechtigt?
Diese sich neu entwickelnde Ära fußt auf unserem Paradigmenwechsel. Es hat ein ideologischer, politischer und organisatorischer Wandel stattgefunden. Natürlich müssen sich dann auch die Mittel zwingend ändern. Die gewonnenen Erfahrungen und die in den letzten dreißig Jahren geschaffenen Werte zur Grundlage der neuen Ära zu erklären und mit neuen Mitteln eine sie vorantreibende Kraft zu schaffen, ist entscheidend. Die Partei arbeitet seit zehn Jahren daran. Als dies mit den Entwicklungen im Mittleren Osten kollidierte, begann der von unserem Vorsitzenden in Gang gesetzte neue Prozess. Es ist falsch, das unter der Formel »was haben wir gegeben, was haben wir bekommen« zu betrachten. Ganz gewiss werden die KurdInnen bei einer solchen Lösung nicht alle ihre Freiheiten erlangen. Es wird weder der erhoffte Freiheitsgrad erreicht, noch werden die Ziele verwirklicht, die sich die PKK ideologisch und politisch ins Programm geschrieben hat. Aber zumindest wird der Verleugnung der KurdInnen ein Ende bereitet, ihre Existenz wird anerkannt, sie werden einen demokratischen Rahmen erreichen, in dem sie sich artikulieren können. Und wenn es ihnen gelingt, für sich Bedingungen zu schaffen, ihre Kultur zu entwickeln, dann wird darüber die Basis geschaffen werden können, ihre Freiheiten weiterzuentwickeln.

Muss dann aber nicht auch die AKP-Regierung oder die Republik Türkei eine von ihnen nicht gewünschte Lösungsvariante akzeptieren und bejahen?
Betrachten wir es aus der Sicht der türkischen Seite, dann stellen wir fest, dass auch sie sich in einer Phase befinden, die dieser sehr nahesteht. Man muss einräumen, dass in der Türkei ein Wandel stattfindet. Das gegenwärtige Regime ist nicht leicht an diesen Punkt gelangt. Das war nicht einfach. Eine äußere Dynamik hatte dabei einen großen Einfluss. Es war klar, dass niemandem auch nur der winzigste Krümel Demokratie gegeben werden kann, solange sich in der kurdischen Frage keine Demokratisierung abzeichnet und die alten Paradigmen bleiben, wie sie sind. Wenn dies der Schlüssel zu allem ist, und der Staat in dieser Hinsicht einiges wird hinnehmen müssen, dann ist das schon beachtenswert.

Der Schlüssel für die grundsätzliche Demokratisierung der Türkei sind die KurdInnen. Die kurdische Bewegung hat diese historische Mission. Außerdem gibt es in der Türkei unterschiedliche dynamische Entwicklungen. Ist es denkbar, dass die kurdische Bewegung mit unterschiedlichen ProtagonistInnen dieser Entwicklungen wie den AlevitInnen, bzw. mit dem politischen Islam konkurrierenden usw., zusammenkommt? Beziehungsweise bestehen demgegenüber Hindernisse, und wenn ja, welche?
Theoretisch gesehen fordern wir das ohnehin. Es ist sehr wichtig, dass sich jetzt alle die Kräfte, die sich mit ihrem Kampf um die Demokratie bemühen können, auf der Basis von gemeinsamen Forderungen zusammenfinden. Niemand darf sich in dieser Zeit aus einer Laune heraus so oder so dazu verhalten. Diese Phase fordert gewisse Pflichten ein, und sie zu erfüllen ist das, was eigentlich einen Revolutionär und eine Revolutionärin ausmacht. Wer diese Pflicht nicht erfüllt, läuft Gefahr, sich selbst zu zerstören. Wir sind uns selbst auch sicher, dass, sollte sich die Türkei tatsächlich in einem Wandlungsprozess befinden, dieser nicht ganz koscher ist. Der Druck von internationaler Seite einerseits, vonseiten der gesellschaftlichen Opposition andererseits, grundsätzlich jedoch der Druck des KurdInnenproblems stellt den treibenden Motor in Richtung Veränderung dar. Solange dieses Problem nicht gelöst ist, besteht weder eine Chance, ihren Platz in der neuen Weltordnung einzunehmen, noch sich im Mittleren Osten und im Kaukasus gegen Russland zu behaupten. Das bedeutet, die Türkei hat ihre strategische Schlüsselposition verloren. Und was sie im Moment vorhat ist, erneut eine solche zu erreichen. Während sie sich eine neue Position aufzubauen sucht, muss sie sich den Bedürfnissen und Interessen der neuen Weltordnung entsprechend neu gestalten. Ob wir wollen oder nicht, der Wandel ist zwangsläufig … Aber das bedeutet nicht, dass es sich dabei nun unbedingt um den von uns forcierten demokratischen Wandel handelt. Immer wieder zeigt sich nur allzu deutlich, dass sie für sich an den verhärtetsten Formen des Nationalstaats und zentralistischer Machtverhältnisse festhalten will. Die monopolistische Mentalität ist weiterhin ungebrochen. Denn auch der Staat will eine bestimmte Linie verfolgend versuchen, mit dem Problem zu seinem Vorteil abzuschließen. Wenn versucht werden sollte, bei der Lösung des Problems nur in Ansätzen steckenzubleiben, zu täuschen oder nur so zu tun als ob, wird es nicht gelöst. Denn unser Vorsitzender sagt klar und deutlich: »Dies ist nicht das Ende, sondern ein Beginn.« Der Kampf ist an diesem Punkt also nicht beendet. Er beginnt gerade erst. Vor allem die Demokratisierung ist ein grundlegendes Kriterium. Die Lösung der kurdischen Frage wird unverzichtbarer Bestandteil und Voraussetzung für eine Demokratisierung sein. Das bildet das Kernstück des zukünftigen Kampfes. So werden selbstverständlich die vorhandene gesellschaftliche Opposition sowie die kurdische Dynamik mit ihrer Avantgarde im politischen Regime der nach der Lösung gegründeten neuen Türkei fortbestehen. Ihre Forderungen werden dann allerdings eine andere Dimension haben. Das sollte der Türkei deutlich machen, vor welchen Problemen sie stünde, würde sie im Hinblick auf eine Lösung zu täuschen versuchen. Denn auch wenn es den Anschein haben sollte, als sei ein Problem »gelöst«, so wird es trotzdem wieder zum Vorschein kommen. Lösungen, die keine grundsätzliche Problembewältigung mit sich bringen, führen nur dazu, dass die Probleme noch tiefer sitzend weiterschwelen. Eine wirkliche Lösung bringen sie nicht.

Es gibt die Auffassung, dass im globalen Gefüge der Türkei die Rolle der Wächterin über den Energiekorridor in der Region zugedacht ist und die KurdInnen dabei zur Partnerschaft genötigt werden. Sehen Sie Anzeichen, die auf die Entwicklung einer kurdisch-türkischen Föderation oder einer türkisch-kurdischen Konföderation hindeuten?
Zunächst möchte ich einiges im Hinblick auf die Position der Türkei deutlich machen. Als sie sich von der Welle [der Ereignisse] im Mittleren Osten erfassen ließ, war die Frage einer demokratischen Art und Weise der Problemannäherung zweitrangig. Sie ging in der Rolle der Regionalmacht sogar so weit, dass sie gegenüber den internationalen Mächten »zu weit über das Ziel hinausschoss«. Sofort wurde sie gemaßregelt. Zunächst wurde sie aus Libyen vertrieben, aus Tunesien und aus Ägypten, der Iran distanzierte sich, mit Syrien hat sie sich entzweit. Und dann stand sie ganz allein da. Nachdem sie nun so auf sich allein gestellt war, hat sie damit begonnen, sich erneut auf die Bühne zu bringen. Man beachte nur, dass sie, nachdem sie sich erneut auf die Bühne gebracht hatte, diesen Prozess begonnen hat, indem sie ihre inneren Probleme und die kurdische Frage auf die Tagesordnung setzte. Das bedeutet, dass die Türkei ohne Berücksichtigung ihrer inneren Probleme keinen Schritt mehr unternehmen kann. Ja, dass sogar die internationalen Kräfte Abstand von ihr nehmen werden. Spätestens jetzt ist es Zeit nachzudenken. Die Probleme müssen erfasst und gelöst werden, damit ein neuer Vorstoß unternommen werden kann.

Und über die Türkei und Kurdistan …
Genau, die Türkei kann einen Korridor über Kurdistan eröffnen. Eines ist sicher: Sie befindet sich im Würgegriff der KurdInnen und Kurdistans. Wenn die AKP oder der türkische Staat im Mittleren Osten eine Macht sein oder internationale Mächte ihr eine Rolle zuweisen wollen, dann muss die Türkei zuallererst einmal diesem Würgergriff, den das kurdische Problem für sie darstellt, entkommen. Das kann sie, indem das Problem gelöst wird. Das kurdische Problem hat die AKP international isoliert. Und zwar dergestalt, dass es für sie in dem Maße zum Fluch wird, in dem sie versuchen sollte, es egoistisch im Sinne ihrer eigenen Interessen zu bewältigen. Aber je mehr die Lösung von einem demokratischen Standpunkt aus angegangen wird, mit gleichberechtigten und freiheitlichen Ansätzen, umso eher birgt diese Lösung auch den Vorteil [für die Türkei], im Mittleren Osten zu einer grundsätzlichen Macht zu werden. Aber die AKP hat das in seiner ganzen Dimension noch nicht realisiert. Sie führt einige Argumente ins Feld, zeichnet eine Karte des Mittleren Ostens ihrer ideologischen Ausrichtung entsprechend. Das hat nur agitatorisch-propagandistischen Wert, denn eine Umsetzung dessen ist nicht so einfach. Vor allem bietet es keine wirkliche Lösung des sie im Würgegriff haltenden kurdischen Problems. Aktuell das Problem in Rojava (Westkurdistan), und es ist nicht abzusehen, wohin das geht. Genauso in Ostkurdistan, und auch da ist es nicht klar, wohin das führt. In Südkurdistan wurde ein föderativer Staat gegründet, aber dessen Zukunft ist weiterhin ungewiss. Wie sehr sie auch immer mit der Lösung des Problems in Nordkurdistan begonnen haben mögen, bisher haben sie mit ihrer Haltung nicht deutlich gemacht, worin sie bestehen soll. Das bedeutet also, dass das Problem sehr komplex ist. Sollte es in Nordkurdistan gelöst werden, wird das eine zentrale Rolle spielen, dann wäre Südkurdistan einer Einheit gegenüber offen, und in den anderen Teilen verfügt ohnehin die PKK selbst über Einfluss. Und wenn die PKK ihren Einfluss in den anderen Teilen geltend macht und auf eine wahre Lösung des KurdInnenproblems drängt, dann würde dadurch sowohl gegenüber dem Status der KurdInnen Vertrauen entstehen als auch die Türkei über eine Kraft verfügen, mit der sie ihre von den internationalen Monopolisten zugedachte Mission würde erfüllen können. Ohnehin besitzt sie sonst keine andere Kraft. Die internationalen Mächte wollen der Türkei heute wirklich eine regionale Rolle zuerkennen. Die Liquidierung der kemalistischen Tendenz, dieser traditionell staatlichen Tendenz, ist darauf zurückzuführen. In der Türkei bestehen ganz grundsätzliche Probleme, das KurdInnenproblem, das Islamproblem und das Problem der Macht der KemalistInnen. Solange es den internationalen Mächten nicht gelingt, diese drei Kräfte zu verändern und sie an ihren gemeinsamen Punkten zusammenzubringen, wird es ihnen unmöglich sein, der Türkei eine strategische Rolle zu übertragen. Eine Türkei, die die KurdInnen ausgegrenzt und verleugnet, kann keine strategische Rolle übernehmen.

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