Nein zur Atomkraft – auch in Anatolien!

nukleerAnti-Atom-Bewegung in der Türkei im Aufwind
Ercan Ayboga, Initiative zur Rettung Hasankeyfs

Auch die Regierung der Türkei plant seit vielen Jahren den Bau von Kernkraftanlagen, und das trotz des Super-GAUs in Japan im März 2011 und des in den letzten Monaten beschlossenen Ausstiegs bzw. Nicht-Wiedereinstiegs in drei europäischen Staaten; der BRD, Schweiz und Italien. Auch diese Atomkraftwerke sind wie viele andere Infrastruktur- und Energieprojekte in der Türkei sehr umstritten und werden von einer breiten Bewegung bekämpft. Ihre Argumente sind zu Recht denen in anderen Ländern ähnlich: Gefahr einer Explosion bzw. Zerstörung mit schwer voraussehbaren Folgen für die menschliche Gesundheit und Natur, ungelöste Frage der Endmülllagerung, hohe ökologische Belastung durch Abbau und Aufbereitung von Uran, kein Beitrag zur Beschränkung der Klimaveränderung, unkalkulierbare hohe gesellschaftliche Kosten etc.

Es gibt seit den 60er Jahren die sogenannte Türkische Atomenergiebehörde TAEK, und mit ihr wurden mehrere vergebliche Versuche in den 80er und 90er Jahren unternommen, die Ausschreibung von Atomkraftwerken (AKW) erfolgreich abzuschließen. Doch erst mit der Grundsatzentscheidung der AKP im Jahre 2004 und der Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtung und zum Betrieb von Kernkraftanlagen im Jahre 2007 wurden die Pläne zum Bau von drei AKWs erstmals wirklich real. Zwei der Standorte für die AKWs sind genauer bekannt – das erste soll in der Provinz Sinop am Schwarzen Meer errichtet werden und zwar in der Nähe der Kleinstadt Inceburun mit einer Kapazität von 4?800?MW. Das zweite AKW, mit dem Namen Akkuyu, steht in den letzten Jahren vielmehr im Fokus der Öffentlichkeit, weil sich hier vieles konkretisiert hat. Das AKW Akkuyu soll 100?km westlich der Stadt Mersin gebaut und betrieben werden. Zwar wurde die Ausschreibung und Vergabe des AKW Akkuyu Ende 2008 von Gerichten für nichtig erklärt (weil nach einer zivilen Klage der Preis für eine kWh zu hoch sei), doch auf Basis eines Staatsvertrages zwischen der Türkei und Russland wurde im Mai 2010 das 20 Milliarden US-Dollar teure AKW-Projekt dem russischen Staatsunternehmen Atomstroiexport, welches die vorherige Ausschreibung als einziges von sechs übrig gebliebenes Unternehmen erhielt, beauftragt. Offiziellen Angaben zufolge soll das AKW Akkuyu wie das AKW Sinop mittels vier Kernreaktoren eine Kapazität von 4?800?MW bei einer jährlichen Leistung von 35?000?GWh (35 Mrd. kWh) haben. Mit dem eigens für dieses AKW gegründete Unternehmen „Akkuyu NGS Elektrik Üretim A.S.“ haben die türkische und die russische Regierung am 16.3.2011 vereinbart, dass Mitte 2013 der Bau nach Baugrunduntersuchungen beginnen und die Stromproduktion im Jahre 2022 anlaufen soll. Erst am 7. Juni 2011 sagte der türkische Energieminister, dass die Laufzeit des AKWs Akkuyu insgesamt 49 Jahre betragen soll.

Beim geplanten AKW in Sinop bewegte sich lange Zeit nach der Grundsatzerklärung von 2004 und den Vorbereitungen für eine Ausschreibung bis 2006 nichts. Erst einen Tag vor der AKW-Katastrophe von Fukushima in Japan, am 10. März 2011, unterzeichneten die Atomenergiebehörden der Türkei und Südkoreas ein Grundsatzprotokoll darüber, dass das südkoreanische Staatsunternehmen KEPCO das AKW in Sinop errichten soll. Jedoch wurden keine Einzelheiten der Öffentlichkeit dabei bekanntgegeben. Mit diesem Protokoll kommt das zweite geplante AKW einen Schritt vorwärts. Damit zeigt die AKP-Regierung, dass sie alles daran setzt, die Nukleartechnologie in ihren Staat einzuführen.

Kritik an den AKWs | Wie eingangs beschrieben, gibt es viele gute Gründe gegen AKWs. Die Anti-Atombewegung in der BRD hat genau 100 Gründe zusammengetragen, die hier nicht alle genannt werden können, doch genauso auf alle AKWs in der Türkei zutreffen. Da wären zunächst die hohen Baukosten in Höhe von 20?Mrd. US-Dollar für das AKW Akkuyu, die zwar vom russischen Erbauer erbracht werden sollen, aber langfristig der Gesellschaft teuer zu stehen kommen werden, da die Regierung den Strom für einen langen Zeitraum zu einem hohen Preis (12,35 Cent/kWh) abkaufen wird. Für die Produktion von 4?800?MW würden bei anderen Energiequellen nicht mehr als ein Drittel der Projektkosten veranschlagt werden. Diese hohen Kosten kommen unter anderem daher, dass die ganze grundlegende Infrastruktur für AKWs mit aufgebaut und Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen. Außerdem: Die Kosten für den Rückbau sind in den 20?Mrd. US-Dollar nicht inbegriffen und betragen meistens mehrere Milliarden Euro. 

Somit wird die Atomkrafttechnologie die Türkei teuer zu stehen kommen. Trotzdem hat die Regierung bzw. der Staat ein sehr starkes Interesse daran, was nach Kritikern auch mit längerfristigen Absichten hinsichtlich der Entwicklung von Atomwaffen in Verbindung steht.
Das von der türkischen Regierung im Falle von Wasserkraftwerken verwendete Argument der Reduzierung der Energieabhängigkeit vom Ausland wird bei den AKWs weggelassen und vielmehr auf die angebliche Diversifizierung der Energiequellen verwiesen. Die Türkei hat keine eigenen Uranvorkommen und die Abhängigkeit von Russland, das auch einen Großteil des benötigten Erdgases liefert, wird erhöht.

Dass die Türkei ein Land ist mit vielen starken Erdbeben ist, sollte bekannt sein. Das AKW Akkuyu soll in einem stark erdbebengefährdeten Gebiet gebaut werden. Ganz in der Nähe treffen mehrere tektonische Platten wie die anatolische, arabische, afrikanische und eurasische Platte aufeinander. Das geplante AKW Akkuyu ist trotz der angeblich hohen Sicherheitsstandarts nicht wirklich sicher gegen ein mögliches starkes Erdbeben. Im Falle eines Super-GAUs wäre die Provinz Mersin mit seinen Millionen Menschen betroffen. Auch das Gebiet, auf dem das AKW Sinop gebaut werden soll, ist nicht ganz von starken Erdbeben ausgeschlossen, wie einige Wissenschaftler in Untersuchungen aufzeigen. Denn die Lage des AKW ist nur 55 bis 95 km von einer Verwerfungslinie entfernt.

Die Vergabe der Lizenz für das AKW Akkuyu erfolgte vor 32 Jahren, was nach der Anti-Atom-Bewegung heute eventuell nach bestehenden Gesetzen nicht möglich sein könnte. Denn inzwischen hat die Landwirtschaft und Besiedlung der umgebenden Gebiete erheblich zugenommen. Wenn nun das AKW gebaut wird, geht in der Umgebung die Lebensqualität spürbar zurück.
Außerdem wird kritisiert, dass ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze durch Fachkräfte aus dem Ausland besetzt werden wird und wenige Menschen – zumeist während der Bauzeit – aus der Region Arbeit finden werden.

Die Türkei benötigt wie alle anderen Staaten dieser Welt eine ganz neue Energiepolitik, die sozial, ökologisch und sparsam sein muss. Sonst werden weiterhin überall Wasserkraftwerke, Atomkraftwerke, Gas- und Ölkraftwerke, Kohlekraftwerke gebaut, die große soziale und ökologische Probleme mit sich bringen und keine Lösung für die menschengemachte Klimaveränderung sein können. Als erstes müsste in der Türkei die jährliche Steigerung des Energieverbrauchs durch eine sozial ausgeglichenere Entwicklung umgehend reduziert werden. Der Transport und der ÖPNV, das Konsumverhalten, die Produktionsweisen müssten schnell von dem Weg abkommen, den die westlichen Industriestaaten genommen haben. So argumentiert die türkische Regierung damit, dass ein Mensch nur 20? % des Stroms eines Menschen in den OECD-Staaten verbraucht. Dies ist notwendig, bevor über alternative Energien und Effektivität gesprochen wird.

Bei der Effektivität der Produktion von Gütern muss es eine große Verbesserungen geben, denn in der Türkei wird das Zweieinhalbfache an Energie zur Produktion einer Einheit im Vergleich zu europäischen Staaten verbraucht. Auch gehen über 20?% des elektrischen Stroms beim Transport durch überholte Technik verloren – zum Vergleich beträgt dieser Prozentsatz in OECD-Staaten 6?%.

Zwar hat die Türkei endlich ein Gesetz zur Förderung der Photovoltaik beschlossen, doch deckelt sie die jährlich neu hinzugebaute Kapazität erheblich, weshalb sie verschwindend gering ist. Etwas höher ist die Windkraft, die aber auch nur mit einer geringen Einspeisevergütung gefördert wird. Da ist es sehr fraglich, wie die Windkraft im Jahre 2023 einen Anteil von 18?% erreichen soll.

Die Türkei ist geeignet, eine auf wirklich alternative Energiequellen ausgerichtete Politik einzuleiten. Denn Sonne und Wind sind mehr als genug vorhanden. Auch wenn ihre Nutzung nicht ganz ohne Folgen für Ökologie und Gesellschaft ist, können sie sinnvoll sein, solange sie in Kombination mit anderen Energieformen von den jeweiligen lokalen Ge­meinden und nicht in großem Maßstab von Großunternehmen betrieben werden. Der Ansatz von möglichst autarken regionalen Energiestrukturen ist der richtige Ansatz, doch wird er von den Anti-Atom-Bewegungen und anderen sozialen Bewegungen in der Republik Türkei nicht so oft geäußert wie der Ausbau der Wind- und Sonnenkraft.
Zum Hintergrund und Vergleich: Im Jahre 2009 kamen 80?% der Energie von fossilen Brennstoffen wie Gas, Kohle und Öl, wobei ersteres mehr als die Hälfte ausmachte. Die Wasserkraft hatte einen Anteil von ca. 18,6?%. Dagegen macht die Wind- und Sonnenkraft nicht mal ein Prozent und Biomasse 0,2?% aus.

Proteste | Jüngste Umfragen ergeben, dass 64?% der Bevölkerung in der Türkei gegen den Bau von AKWs sind und 84?% nicht in AKW-Nähe leben wollen. Dies zeigt, dass selbst in der Türkei ein gewisses Bewusstsein über die Gefahren und Folgen von AKWs vorhanden ist. Dazu hat die Katastrophe von Tschernobyl im Jahre 1986 beigetragen, da der nördliche Küstenstreifen am Schwarzen Meer ernsthaft von ihr getroffen wurde. Die landwirtschaftlichen Ernten und vor allem die Gesundheit von unzähligen Menschen waren negativ betroffen.
Auch deswegen baute sich im Jahre 2005, als die türkische Regierung Vorbereitungen für die Ausschreibung des AKWs in der Provinz Sinop in der Schwarzmeerregion traf, in kürzes­ter Zeit eine große Protestbewegung auf. Viele tausende Menschen konnte sie für Demonstrationen mobilisieren. Da jedoch in den anschließenden Jahren sich zu dem geplanten AKW in Sinop wenig tat, ebbte die Anti-AKW-Bewegung mit der Zeit ab. Denn die Regierung konzentrierte sich zunächst vielmehr auf die Vorbereitungen für den Bau des AKW Akkuyu. Doch mit dem Grundsatzprotokoll zwischen der Türkei und Südkorea kommt wieder Bewegung ins Spiel.

Als die Pläne für das AKW Akkuyu konkret wurden, entstand relativ schnell die Mersin-Plattform gegen Atomkraft (Mersin NKP), die bis heute sehr aktiv ist. Insgesamt 46 Organisationen (ökologische, soziale und Menschenrechts-Organisationen, Berufsorganisationen, Gewerkschaften, politische Parteien etc.) aus der Provinz Mersin stehen hinter dieser Plattform, die in den vergangenen Monaten angesichts der im März getroffenen Vereinbarung, anstehender Wahlen und der AKW-Katastrophe in Japan viele Protestaktivitäten durchgeführt hatte. So fanden zum Beispiel am 22. Mai 2011 in der Nähe von Akkuyu große Proteste statt. Die Proteste beschränken sich keineswegs auf die Provinz. 2010 rollte ein Green­peace-Aktivist im türkischen Parlament ein Transparent gegen das AKW Akkuyu aus. In den Wochen vor den Parlamentswahlen baute Greenpeace, das seit Jahren gegen die Atomkraftpläne der türkischen Regierung aktiv ist, Zelte auf dem zentralen Istanbuler Platz Taksim auf, wofür es von der Bevölkerung, KünstlerInnen und oppositionellen PolitikerInnen breite Unterstützung bekam.

Mit dem Grundsatzprotokoll zum AKW in Sinop begann die Sinop-Umweltplattform wieder mehr zum Thema zu arbeiten. Das zeigt, dass in den kommenden Monaten und Jahren die Bewegung gegen das AKW in Sinop wieder an Fahrt gewinnen wird.

Die Proteste gegen die in Sinop und Mersin geplanten AKWs sind inzwischen in der Türkei relativ bekannt geworden. Ein Großteil der Bevölkerung – zumindest in den betroffenen beiden Provinzen sowie ihren Nachbarprovinzen – hat von der Problematik und dem Widerstand gehört. Die große Auseinandersetzung steht uns noch bevor, auch angesichts der AKW-Katastrophe in Japan mit den verheerenden Folgen und der zunehmenden Zahl von Ländern, die aus der Atomkraft aussteigen bzw. doch nicht einsteigen wollen.
Die Energiepolitik ist insgesamt in die Kritik geraten, was vor allem an den Protesten gegen die Staudämme zur Stromproduktion liegt, aber auch mit der schleppenden Ent­wicklung der Wind- und Solarkraft zu tun hat.

Atomkraft gegen Wasserkraft? | Eigentlich müsste es klar sein: In den Augen von kritisch, sozial und ökologisch ausgerichteten Menschen sollte weder die Atomkraft noch die Wasserkraft eine Perspektive bei der Stromversorgung in der Türkei haben. Beide Formen führen zu gravierenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Kosten für die Gesellschaft. Doch finden und fanden sich immer wieder AktivistInnen in der Anti-Atomkraft-Bewegung, welche die Wasserkraft als Alternative für die Atomkraft vorschlagen. Angesichts der von den AKWs ausgehenden Gefahren und Auswirkungen wären für sie, neben der Wind- und Sonnenenergie, Wasserkraftwerke vorstellbar. Dies kann in einigen Dokumenten und Erklärungen der Plattformen gegen die AKWs in Mersin und Sinop gelesen werden. Da die Proteste in der ganzen Republik gegen die zerstörerischen Staudämme und Wasserkraftwerke in den letzten drei Jahren spürbar zugenommen haben, wurde die Befürwortung der Wasserkraft weitgehend, jedoch nicht komplett, zurückgenommen. Dass einige AktivistInnen der Anti-Atom-Bewegung in der Türkei unbedacht die Wasserkraft vorschlugen, liegt an ihrer eingeschränkten Denkweise, da es ihnen nur um den Stopp der AKWs geht, sie mit den sonstigen Verhältnissen in der Gesellschaft keine prinzipiellen Probleme haben und es ihnen nicht um eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung geht. Was den Anti-Atom-Bewegungen in diesem Rahmen z.?B. fehlt, ist über die Forderung nach mehr Effektivität in der Stromversorgung hinauszugehen und ein verändertes sparsameres Verhalten in Bezug auf Energiefragen zu fordern, um überhaupt den Verbrauch von Anfang an einzuschränken.
Im Vergleich zur Anti-AKW-Bewegung sind alle talsperrenkritischen Bewegungen gegen Atomkraft. So wurde am 25. April 2010, also zum Jahrestag der Tschernobyl-AKW-Katastrophe, eine Demonstration in Istanbul von mehreren talsperrenkritischen Bewegungen durchgeführt. Dies ist den talsperrenkritischen Bewegungen wichtig gewesen, denn es sollte dem Staat jede Möglichkeit genommen werden, die talsperrenkritischen Bewegungen gegen die Anti-Atom-Bewegungen auszuspielen. Der Hintergrund für die katastrophale, zerstörerische, unsoziale und unökologische Energiepolitik der Regierung und des Staates ist nämlich der gleiche. Verlieren tun die Menschen und die Natur, profitieren hingegen die Zentralregierung und die Konzerne.

Literaturquellen (alle auf Türkisch):
Mersin Plattform gegen die Atomkraft (Mersin Nükleer Karsiti Platform): www.mersinnkp.com
Sinop Umweltplattform, Erklärung: http://haberler.com/sinop-cevre-platformu-sozcusu-gurbuz-aciklamasi-2682523-haberi
Verein der Umweltfreunde (Çevre Dostlari Dernegi): www.cevredostlari.org
Initiave Sinop gehört uns (Sinop Bizimdir Girisimi): www.sinopbizim.org
Greenpeace Türke: www.greenpeace.org/turkey/tr

Quelle: Kurdistan Report Nr. 156 Juli/August 2011

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