Eine Karte von Kurdistan …

toplu_mezar_haritasi_haber_resmit_1328Spielt ihr keine Rolle bei diesen Massengräbern, für die ihr euch schämen solltet?
Mahmut Sakar, MAF-DAD e. V.

Während ich diesen Artikel schreibe, betrachte ich eine Landkarte. Es ist jedoch keine übliche Landkarte. Sie zeigt die Massengräber in Kurdistan. Die Zweigstelle Diyarbakir des IHD hat ausgehend nur von Zeugenaussagen und Presseinformationen die Existenz von 114 Massengräbern in 11 Provinzen festgestellt, in denen sich die sterblichen Überreste von 1469 Personen befinden. In den bisher geöffneten 26 Massengräbern fanden sich die Knochen von 171 Menschen. Die Weiten von Colemêrg (Hakkari) bis Dêrsim (Tunceli) sind voll von Massengräbern und Knochen von nicht identifizierten Personen. Die meisten von ihnen finden sich an Straßenrändern, auf Müllkippen, in Flussbetten und auf Friedhöfen für Menschen ohne Angehörige, auf denen die Gräber keinen Namen tragen, sondern nur Nummern.

Ein Massengrab nach dem anderen wird geöffnet. Sie werden geöffnet, doch sorgt das für Aufsehen? An vielen Orten in Kurdistan wird es mittlerweile schweigend und ohne Grauen hingenommen, dass bei den Grabungen auf Initiative von MenschenrechtlerInnen unzählige Knochen gefunden werden. Gerade so, als grabe man zehntausende Jahre alte Fossile aus und frage sich nun interessiert, welcher dunkle Abschnitt der menschlichen Geschichte nun wohl aufgeklärt werden wird.

Dabei ist die Geschichte dieser ausgegrabenen Knochen nicht älter als zehn bis zwanzig Jahre. Der Begriff »Massengrab« schafft eine kalte Distanz, doch die Erinnerungen an die Menschen, zu denen diese Knochen gehören, ist oftmals noch mehr als lebendig.

Bei jeder Öffnung eines Massengrabs stehen weinende Mütter, die ihre Kinder verloren haben, weinend und wartend, ob die Knochen ihren Kindern gehören. Die Gräber werden geöffnet, die Knochen zur Gerichtsmedizin geschickt und das Ergebnis der DNA-Untersuchung abgewartet. Vielleicht ist es ja doch …? Ein merkwürdiges Gefühl. Wie sollen wir es nennen? Ein unerträglicher Schmerz, eine tiefe Ruhe, die dem Schmerz eine Richtung geben kann? Der Sohn oder die Tochter wird endlich ein richtiges Grab haben! An jedem Freitagabend kann sie dorthin gehen, beten, die Blumen gießen. Sie wird Geld sparen und einen Grabstein errichten, damit das Andenken nie mehr verloren gehen kann. Die Gräser, die aus der Erde wachsen, wird sie mit den Händen jäten, die einmal das Haar des Kindes gestreichelt haben. Vielleicht werden die Tränen aus ihren Augen endlich die geschlossenen Augen des Kindes erreichen. Das unruhige Warten wird ein Ende finden, die Folter, nicht zu wissen, auf welchem Berg sich die Knochen des Kindes befinden, wird ein Ende haben! Der Schmerz wird in das konkrete, eigenhändig angelegte Grab versenkt; sie wird ein Grab haben, um ihren Schmerz und ihre Liebe hineinzugießen. Aus diesem Grund richtet der IHD in seinem Bericht über die Massengräber den Aufruf an alle: »Es ist an der Zeit, die großen Schmerzen der Menschen zumindest ein wenig zu lindern.«

Mag auch jedes Massengrab als ein Gewirr von Knochen, Gesichtern und Namen erscheinen, formlos und unvorstellbar, so handelt es sich doch um diejenigen, die gestern noch bei uns waren, die Namen, Gefühle und Träume besaßen, Menschen, die wir geliebt haben! Mögen auch das Schweigen und die Ignoranz der staatlichen Politik die Menschen ver­rückt machen, selbst die halbherzigen Erklärungen, die sich die EntscheidungsträgerInnen oder die ausführenden Organe jetzt abringen, können mit ihrer abstrusen Logik nicht die Tausenden Erinnerungen und Gefühle vergessen machen, die zusammen mit den Knochen aus der Erde gehoben werden. Wer verstehen will, versteht.

Noch etwas anderes erzählen uns die »Massengräber«. Es geht um das Massaker an einem Volk. Es sind dies die Spuren der Morde des internationalen Banditen mit Namen »türkische Republik« an einem Volk, das seine Identität, seine Sprache und seine Geschichte verlangt. Und nun sagen die uniformierten Mörder, die dort Begrabenen seien nur GuerillakämpferInnen. Also keine ZivilistInnen. Wenn es Guerillas sind, gelten also keine Regeln, so die schlaue Logik. Lebend gefangen nehmen und ermorden, den Leichen Körperteile abschneiden, Augen ausstechen und Köpfe vom Körper abtrennen geht also in Ordnung. Chemische Waffen einsetzen, um alle auf einmal zu töten, geht ebenfalls in Ordnung. Es sind Guerillas, keine ZivilistInnen. Doch trotzdem wollen sie nicht, dass es bekannt wird. »Also, wir wissen schon Bescheid, aber nach außen ist das peinlich, es soll uns niemand Mörder, Völkermörder nennen.« Daher warfen sie alle zusammen, ohne Spuren zu hinterlassen, in mit der Schaufel ausgehobene Gräben, damit die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht bekannt werden.

Ohnehin wissen wir, dass sich auch die Knochen von ZivilistInnen darunter befinden. Mir fällt ein Fall wieder ein, den ich gut kenne. Als ich bei der Zweigstelle Diyarbakir des IHD arbeitete, zeigten wir das Verschwinden von elf Dorfbewohnern erst bei den örtlichen Behörden an, später auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie waren am 9. Oktober 1993 in der Ortschaft Alaca im Kreis Pasûr (Kulp), Provinz Amed (Diyarbakir), von einer so genannten »Sonder-Operationseinheit« der Berg-Kommandobrigade Bolu, die besser »Sonder-Mordbande« hieße, in Gewahrsam genommen worden und tauchten nie wieder auf. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Wir wandten uns an jede Behörde, klopften an jede Tür. Bis zehn Jahre später, völlig durch Zufall, ein Hirte 500, 600 Meter hinter dem Dorf aus einem Flussbett ragende Knochen- und Stoffteile findet. Wieder schalten sich MenschenrechtlerInnen ein, es werden DNA-Tests durchgeführt, nach zwei Jahren kommen die positiven Ergebnisse. In einem Graben, eben einem Massengrab, finden wir so ein Durcheinander von Knochen und Kleidungsstücken. Es sind Celil Aydogdu, Mehmet Sah Atala, Nusrettin Yerlikaya, Turan Demir, Behçet Tutus, Bahri Simsek, Serif Avar, Hasan Avar, M. Salih Akdeniz, Ümit Tas und Abdi Yamuk, deren Namen wir hunderte Male in der Fallakte, in Presseerklärungen geschrieben haben. Doch die Täter sind verschwunden, wie immer bekommen die Kurden ihr Recht auch diesmal nicht.

Massengrab – der Name für mit der Schaufel gegrabene Gräben. Jetzt graben sie schon wieder mit Schaufeln! Mit ihnen stoßen sie auf das, was für sie unnütze Knochen sind. Wen interessiert schon, ob sie beschädigt werden, ob Spuren verwischt werden, die Wahrheit weiter im Dunkeln bleibt, wen? So eilig und unvorsichtig, wie sie getötet und mit der Schaufel begraben wurden, wird jetzt nach Gerechtigkeit gesucht. Wenn die Familien nicht darauf bestünden, eine Handvoll JuristInnen und MenschenrechtlerInnen sich nicht einschaltete, passierte nichts. Dank an dieser Stelle dafür!

Die Massengräber lehren uns noch etwas anderes. Die Lektionen aus der Mordserie namens »Morde unbekannter Täter«, die Lektionen der Verschwundenen werden noch einmal klarer. Sie zeigen uns die Kontinuität zwischen denen, die brutal töten, in ein Massengrab werfen und so glauben, Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Menschheit und Geschichte verbergen zu können, und denen, die heute – also im 21. Jahrhundert –, anstatt sie im Namen von Gerechtigkeit, Aufarbeitung oder welchem ethischen Wert auch immer auszugraben, der Wahrheit nachzugehen und die Schmerzen zumindest ein wenig zu lindern, lieber das Thema schließen, ignorieren und tun, als sei nichts gewesen. So handelt der Staat, so IST der Staat! Regierungen, MinisterInnen, Soldaten oder BürokratInnen kommen und gehen im Laufe der Zeit. Einer tötet und verstreut die sterblichen Überreste in der Weite der Landschaft, eine/r ignoriert, der nächste führt eine halbherzige Grabung durch und bemüht sich zu verhindern, dass herauskommt, wem die Knochen gehören und wer Anteil an diesen Gräueln hatte. So funktioniert die Arbeitsteilung. Vielleicht besitzen sie verschiedene politische Überzeugungen, Stile, Glaubensrichtungen, doch alle sind sie Teile des modernen Ungeheuers, das wir »Staat« nennen. In diesem Mordgeflecht sind sie alle gleich: die laizistischen StaatslenkerInnen, die sich für so westlich und modern halten, wenn sie in schicker Kleidung und vornehmen Restaurants mit Raki anstoßen, und die muslimischen Staatsmänner, die selbst im größten Chaos niemals die fünf Gebetszeiten versäumen, sich auf die Pilgerreise begeben und glauben, so von Sünden geläutert zu werden. Jede/r ist ein Rädchen in dem Getriebe, welches dieses KurdInnenmassaker antreibt. Alle sind sie schuldig, alle! Sie haben Angst, weil diese Schuld offenkundig werden könnte. Sie fürchten sich vor den Tatsachen, vor ihrem Mangel an Gewissen, vor ihrer eigenen schuldhaften Verstrickung und vor ihrer Feigheit. 

Heute wird eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage diskutiert. Unabhängig von politischen Programmen und Forderungslisten sollte zunächst der Boden von Kurdistan Ruhe finden. Die tausenden Verschwundenen sollten exhumiert werden und Grabsteine erhalten. Diese Republik muss sich ohne Ausflüchte ihrer eigenen schmutzigen und finsteren Vergangenheit stellen. Die ganze Tragödie muss ans Licht gebracht werden. Die leidenden Menschen müssen die ganze, nackte Wahrheit erfahren. Eine Entschuldigung ist fällig, und sei sie auch nur halbherzig. Vielleicht kann dann der Schrei, der dem leidenden Volk seit Jahrzehnten im Hals ­steckt, herauskommen, Schmerz und Wut sich entladen und der Glaube an Frieden wachsen. Dann, vielleicht, wird es möglich werden, über das Wie des Zusammenlebens in Ruhe zu sprechen. Der Friede wird aufhören, nur ein Traum zu sein.

Ein letztes Wort gilt den europäischen Staaten, genauer: dem europäischen System. Wenn sie von euch nicht ermutigt worden wäre, ohne eure politische, militärische und diplomatische Unterstützung hätte die Republik Türkei diese Massaker an den KurdInnen nicht derart bequem und sorglos verüben können. Da bin ich mir absolut sicher. Wäre es nicht an der Zeit, dass auch ihr einmal darüber nachdenkt? Wäre es nicht nötig, sich das einmal einzugestehen, sich dem zu stellen? Spielt ihr keine Rolle bei diesen Massengräbern, für die ihr euch schämen solltet? Schuldet ihr den KurdInnen keine Bitte um Entschuldigung?

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